Der phantasmatische Kern der Corona Krise
Kurzbeschreibung: Mark Arenhövel ist apl. Professor am Institut für Politikwissenschaft und beschäftigt sich in diesem Zusammenhang im Kern mit Politischer Theorie, Demokratieforschung, Transitions- und Transformationsforschung sowie Erinnerungs- und Geschichtspolitik. Im Rahmen der Corona-Vorlesung geht er der Frage nach, welche mittelfristigen Auswirkungen die Corona-Krise auf unsere Fremdheitserfahrungen und -wahrnehmungen haben wird und auf welchen gedanklichen Boden das Erleben in dieser Krise fällt.
Wir stellen über diese Seite sowohl eine Audioaufzeichnung zum Hören als auch den Text zum Mitlesen bereit. Im Anschluss finden Sie Literaturtipps zur Vertiefung der Überlegungen.
Mark Arenhövel
Der phantasmatische Kern der Corona Krise
Ausgangssperren und -beschränkungen, geschlossene Schulen, Universitäten, Geschäfte und Restaurants, Hamsterkäufe, Fußballspiele ohne Zuschauer, abgesagte Großveranstaltungen, Menschen, die mit Mundschutz durch verlassene Städte geistern: wieder einmal scheint das Leben die Kunst zu imitieren. Was bislang als Schreckensszenarien aus Filmen wie Contagion, Outbreak, World War Z, apokalyptischen Serien wie The Walking Dead oder Chernobyl oder Romanen wie The Road oder Zone One bekannt war, wurde in einer zuvor für unmöglich gehaltenen kurzen Zeitspanne beinahe ohne jeglichen Widerspruch in immer mehr Gesellschaften zur Realität: eine totale Entschleunigung der Gesellschaft fast bis zum gesellschaftlichen Stillstand.
Selbst Maßnahmen wie das Auslesen von Handydaten zur Kontrolle der Ausgangsbeschränkungen wurden nicht nur in China, sondern auch in demokratischen Staaten diskutiert und zum Teil auch umgesetzt. Der alte liberale Spruch, nachdem die Freiheit stückchenweise stirbt, scheint mit einem Mal überholt: Was gelten noch Grundrechte, wenn es einen unsichtbaren, heimtückischen und gefährlichen Virus zu bekämpfen gilt. Krisenzeiten sind die Zeiten der Exekutive und besonders im Süden der Republik schien die Krise gerade recht zu kommen, um zu zeigen, wie beherztes Krisenmanagement auszusehen hat: Not kennt kein Gebot. Und Autokraten wie Orban nutzen die Stunde, um mit den Abwehrmaßnahmen gegen die Pandemie die politische Ordnung grundsätzlich umzubauen.
In der distinguierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung rief der Kommentator Berthold Kohler mit einem etwas schrägen Sprach-Bild zum kollektiven Abwehrkampf auf und riet zum Schulterschluss zwischen Staat und Bürgern gegenüber einem rowdyhaften Eindringling: „In der Corona-Krise ist nicht nur der Staat gefordert. Jeder Bürger kann und sollte dazu beitragen, dass dieser Erreger, der ganze Gesellschaften ins Koma prügelt, seinen Schrecken verliert.“ Der Beitrag jedes Bürgers – und auch jeder Bürgerin – liegt jedoch momentan in der nicht sehr bürgerlichen Tugend, möglichst zuhause zu bleiben, den amtlichen Anweisungen Folge zu leisten, höchstens im Nahraum solidarisch zu sein. Mithin: vor allem der überkommenen, für Demokratien gerade nicht geltenden preußischen Maxime zu folgen, nach der Ruhe erste Bürgerpflicht ist. Immerhin kann man Kohler hier zugutehalten, dass er das Virus nicht weiter spezifiziert, sondern nur, wenn auch seltsam schräg, in seiner Wirkung auf die moderne Gesellschaft beschreibt: Politiker vom Schlage Trumps und Orbans waren da nicht so feinfühlig, sie ließen sich nicht zweimal bitten, um schnell hinzuzufügen, dieses Virus habe seinen Ursprung im Ausland. In solchen metaphorischen Verbindungen von Fremdheit und Krankheit – Migration und Infektion – nun schlichtweg eine sprachliche oder gedankliche Verwirrung zu vermuten, würde dramatisch zu kurz greifen, folgen doch Trump und Orban, andere wären noch zu nennen, einer Tradition, die weit zurückgeht. Auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein.
Die Corona-Krise, die sich seit Ende 2019 in großer Geschwindigkeit und mit bislang unabsehbaren Folgen zu einer globalen Pandemie ausgeweitet hat, steht in einer Reihe multipler Krisen des noch jungen 21. Jahrhunderts – man denke an die Immobilienkrise, die Staatsschuldenkrise, die Migrationskrise und die Klimakrise – aber im Gegensatz zu den neuen Krisen verweist COVID 19 auf historische Reminiszenzen, wie sie auch einen phantasmatischen Kern besitzt.
Als historische Reminiszenz können allgemein die großen Seuchen des Mittelalters, besonders aber die spanische Grippe gelten, die schlimmste Influenza Pandemie der Geschichte, die ab 1918 mehr Menschen tötete, als im ersten Weltkrieg starben. Nur nebenbei sei bemerkt, dass die sogenannte spanische Grippe ihren Ursprung vermutlich gar nicht in Spanien hatte; zunächst wurde sie auch als „Flandern-Fieber“ oder unspezifisch als „Blitz-Kartarrh“ bezeichnet. Jüngere Seuchen wie Ebola, Sars oder Mers konnten meist recht schnell eingedämmt werden und waren auf bestimmte Regionen begrenzt, so dass sie kaum nachhaltig die Aufmerksamkeit des globalen Nordens beschäftigen, schlichtweg weil von ihnen keine Bedrohung auszugehen schien. Wegen der zeitlichen und räumlichen Distanz zu den großen Epidemien wie wohl auch durch den rasanten Fortschritt im Medizin- und Hygienesektor haben sich diese Vorerfahrungen jedoch kaum in der kollektiven Erinnerung niedergeschlagen. Der phantasmatische Kern ist viel komplexer, nährt er sich doch aus einem dichten Vorstellungskomplex mit großer historischer Tiefe und einer bestimmten Vorurteilsstruktur, die tief in die westliche gesellschaftliche Imagination eingelassen ist. Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin hat die phantasmatische Spur von Mikroben, Seuchen, Krankheit und Ansteckung in seinem 2004 erschienen Buch „Anthrax. Bioterror als Phantasma“ anlässlich der Briefe mit Anthrax-Sporen, die in den USA kurz nach den 9/11 Angriffen zirkulierten, verfolgt und mich dazu angeregt, vor dem Hintergrund seiner zum Teil historisch informierten Fundstücke dem phantasmatischen Kern der Corona-Krise nachzugehen, lässt sich doch auch 2020 in der öffentlichen Debatte eine merkwürde Verbindungslinie ziehen zwischen dem Virus als Fremdkörper, der die Gesundheit angreift und von außen in den Körper eindringt und den fremden Körpern, die in die Gesellschaft einzudringen suchen. Gerade die in der Populärkultur zu überraschender Popularität aufgestiegene Figur des Zombie spielt mit diesem phantasmatischen Kern, und sie stützt und verbreitet ihn noch weiter. So spielt etwa Colson Whitehead mit dem Motiv einer globalen Pandemie, die den Planeten verwüstet hat und zwei Typen von Leben unterscheidet: Die Lebenden und die infizierten lebenden Toten, getrennt durch die Schwelle der Ansteckung mit einem neuen, gefährlichen, nicht weiter spezifizierten Virus. Es ist gerade das Motiv der viralen Infektion, welches die popkulturelle Figur des Zombies so geheimnisvoll und unheimlich macht, wird doch das zutiefst Vertraute, – der eigene Ehemann, der Nachbar, der Dorfpolizist, durch die Infektion zum radikal Fremden und Bedrohlichen. Die Zombies stehen für das Fremde, das Außerordentliche an den Grenzen der Ordnung, das Fremde hat in der normalen Ordnung keinen Platz, ja die Ordnung wird durch das Fremde außer Kraft setzt: sie stehen für den Ausnahmezustand.
Ob sich der Innenminister dieses phantasmatischen Kerns bewusst war, als er von der „Migration als Mutter aller Probleme“ sprach, mag dahin gestellt bleiben: es mutet jedoch etwas unheimlich an, dass jene Politiker, die vom Asyltourismus sprachen und Asyl und Kriminalität als Kern ihrer versicherheitlichten Anti-migrations-politik ausmachten, heute an vorderster Front gegen die Verbreitung des Virus kämpfen und die Mobilität, Einreise und Freizügigkeit einschränken. Die Ohnmacht der Europäischen Union angesichts der Pandemie, man ist geneigt von einem Anti-immunschock des politischen Körpers der Europäischen Union zu sprechen, verweist unter anderem auf die nach wie vor existierende Fremdheit der Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten untereinander; nicht nur, dass keine gemeinsame Datenerhebung existiert noch eine gemeinsame Strategie der Bekämpfung gefunden werden konnte, eine der ersten Reaktionen war die virologisch eher sinnlose Grenzschließung und Abschottung aus Angst vor dem Erreger, der – in den Worten des österreichischen Kanzlers – von Fremden „eingeschleppt“ werde.
Der französische Staatspräsident bemüht die Rhetorik eines Kriegs gegen den Virus, in dem sich die französische Nation befinde, und einige Staaten in den USA diskutieren, auf Kriegswirtschaft umzuschalten. Vor diesem Hintergrund leuchtet es daher hoffentlich ein, Corona nicht nur als virologisches Problem anzusehen, sondern auch als ein xenologisches – und daher scheint eine Xenologie als Fremdheitslehre das sozial- wie kulturwissenschaftliche Arsenal bereitzustellen, die Corona-krise zu beleuchten. Meine These lautet hier: die xenologischen Auswirkungen der Krise werden die Gesellschaften des Westens weit länger beschäftigen als die virologischen, lässt sich doch hier gut zeigen, „dass die Erfahrung des Fremden immer [auch] auf die eigene Erfahrung zurückschlägt und in ein Fremdwerden der Erfahrung übergeht“ wie Bernhard Waldenfels in seinem Buch: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, dem ich hier einiges verdanke, bemerkt hat (Waldenfels 2006: 8). Die sich neu auftuenden Trennungslinien zwischen „uns“ und dem Fremden konstruieren dabei ganz neue Gegenüberstellungen, denn, wie Waldenfels ausführt, Fremdheit ist selbstbezüglich, und sie ist ansteckend (ebd.). Bruchlinien liegen nun zwischen dem Vertrauten und Bekannten gegenüber dem Fremden und Außerordentlichen in der Form einer fremden Bedrohung oder Gefahr, aber auch Einheimische und „Ausländer“ und Fremde gemeinhin „entfremden“ sich, wie auch Gesunde gegenüber Kranken, und Junge gegenüber Alten. Schließlich werden und fühlen selbst wir uns selbst fremd im Zuge ganz neuer Erfahrungen – sind wir gesund, oder sind wir schon krank, nur ohne Symptome.
All diese Konstellationen sind nicht „natürlich“ im Sinne einer natürlichen ontologischen Ordnung oder einer selbstevidenten politischen Anthropologie, sondern sie werden neu konstruiert durch den Einfall des gänzlich Fremden, den Neuartigkeitsschock, evoziert durch ein neuartiges Virus, für dessen Bekämpfung (noch) keine Blaupausen, keine Routinen und bürokratischen Vorgehensweisen vorliegen. Genau dieses Moment des Neuen, des Unerhörten und Geheimnisvollen öffnet die Tore für phantasmatische Vorstellungen zur Bearbeitung der totalen Kontingenz.
Wenn etwa der amerikanische Präsident Corona als das „chinesische Virus“ adressiert, und postwendend von chinesischer Seite insinuiert wird, amerikanische Soldaten hätten das Virus mit Absicht in Wuhan eingeschleppt, so bedienen Trump wie auch Xi Jinping Vorurteilsstrukturen, die seit den Choleraepidemien in Europa verbreitet sind, dass nämlich Infektionskrankheiten jedweder Art „asiatischen Ursprungs“ sind. So zitiert Philipp Sarasin in seinem bereits genannten Anthrax-Buch den deutschen Virologen Stamm, der Mitte des 19. Jahrhunderts feststellte: „Der geistig vernachlässigte Mensch erzeugt Seuchen und unterstützt deren Verbreitung. Der Einfluss der Geistesentwicklung auf die Gesundheit des Menschen ist unersetzlich. Je freier ein Land, je reinlicher – je reinlicher, je gesünder. Blicken Sie nur nach Ostindien. Despotische und vom Pfaffenthume geplagte Länder können, so lange solche Zustände dauern, nie gesunde Länder werden. Die Freiheit des Gedankens ist unschädlich; Geistesseuchen hingegen erzeugen Körperseuchen.“ Aus der gleichen Zeit stammt auch die sprachliche Verbindung der Seuchenbekämpfung mit der kriegerischen Bekämpfung fremder Invasoren, die ebenfalls bei Donald Trump – aber längst nicht nur bei ihm – zu finden ist. So bemerkt Trump: Im Zuge des Kampfes gegen das „chinesische Virus“ sehe er sich nun, im März 2020, als Kriegspräsident. Nach Wochen des Leugnens einer Gefahr durch das neue Virus gibt er sich jetzt kämpferisch und bemerkt: „Jede Generation von Amerikanern war dazu aufgerufen, Opfer zum Wohle der Nation zu bringen. Im Zweiten Weltkrieg haben sich junge Menschen, Teenager, freiwillig gemeldet, um zu kämpfen. Sie wollten unbedingt kämpfen, weil sie ihr Land liebten. Und jetzt ist unsere Zeit gekommen. Wir müssen gemeinsam opfern, weil wir gemeinsam durch all das gehen, und wir werden zusammenkommen. Es ist der unsichtbare Feind. Das ist immer der härteste Feind: der unsichtbare Feind. Es wird ein vollständiger Sieg sein. Es wird der totale Sieg.“ (Süddeutsche Zeitung, Nr.68 21/22. März 2020, S.3). Der Krieg gegen den härtesten Feind fordert Opfer, doch am Ende steht der totale Sieg als Bewährung in einer historischen Stunde. Eine zuletzt höchst polarisierte Nation findet wieder zusammen, sie reintegriert sich im Opfergang gegen den heimtückischen Feind von außen. Was hier aufscheint ist die berühmte Formel von Carl Schmitt, der formulierte: "Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. Aus diesem Grunde muss ich mich mit ihm kämpfend auseinandersetzen, um das eigene Maß, die eigene Grenze, die eigene Gestalt zu gewinnen."
Folgt man dieser Logik, so stellt sich unausweichlich die Frage, wie mit Virusträgern umgegangen werden soll, die sich nicht ausschließen lassen, da sie als Mitbürgerinnen und Mitbürger Teile der Gemeinschaft sind – und es verwundert nicht, dass Ausgangsbeschränkungen sehr schnell ins Repertoire autokratischer wie demokratischer Staaten übernommen wurden. Wenn der texanische Vize-Gouverneur Dan Patrick nun anregt, die Alten sollten sich zum Wohle der Gesellschaft – und der Wirtschaft, wie er anmerkt – opfern, so folgt er nur konsequent dieser Denkbewegung. Der Virusträger wird damit zum inneren Feind im Sinne Schmitts, der sich entweder heroisch für die Gesellschaft – oder die Gesundheit des Volkskörpers – aufopfert, oder er muss isoliert, in Quarantäne gesteckt werden. Dieser Logik folgte auch der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis, als er am 01. März 2020 das Asylrecht in Griechenland aussetzte und verkündete: „Unser nationaler Sicherheitsrat hat beschlossen, die Abschreckung an unseren Grenzen maximal zu erhöhen. Ab sofort werden wir für einen Monat lang keine neuen Asylanträge mehr annehmen“. Die Versicherheitlichung der Migration – also die Subsumtion von Asyl und Einwanderung unter das Dispositiv von nationaler Sicherheit – welches von MigrationsforscherInnen seit längerem schon beobachtet wurde, erreicht hier mit dem Verweis auf die Gefahr der Ansteckung und der Assoziation des Fremden mit Krankheit und Gefahr ein neues Niveau. In seinem Blogbeitrag „Die Krisen von 2015 und 2020. Ein Vergleich“ führt der Politikwissenschaftler Werner Patzelt auf bemerkenswerte Weise Bakteriologie und Migration zusammen, indem er zunächst recht unschuldig danach fragt, wieso dem „Migrationsdruck von 2015“ nichts Nennenswertes entgegengestellt wurde, während 2020 die probaten Mittel von Einreisebeschränkungen und Migrationsstopp als wirkungsvolle Mittel, um die Verbreitung des Virus zu bekämpfen, vom überwältigenden Teil der Gesellschaft beifällig unterstützt worden seien. Nun ist an einem Krisenvergleich nicht viel auszusetzen, spannend ist jedoch, wie Patzelt Migration und Krankheit geradezu symptomatisch gleichsetzt und dann zu dem Schluss kommt: „2015 hat sich also wirklich nicht wiederholt, und das ist gut so. Vielleicht haben viele Verantwortliche in Politik, Medien und Zivilgesellschaft aus den Fehlern von damals gelernt. Vielleicht lassen sich im Alltag unsichtbare Viren schlicht einfacher wie gefährliche Eindringlinge abwehren als Mitmenschen unseresgleichen, die nur nicht das – unsererseits ganz unverdiente Glück – haben, in Beinahe-Paradiesen wie den gut funktionierenden Teilen Deutschlands zu leben. (…) Und hoffentlich ziehen wir alle, sobald die Corona-Krise überwunden ist, auch plausible und durchhaltbare Konsequenzen für den Umgang mit der jetzt nur überblendeten, allenfalls aufgeschobenen Migrations- und Integrationskrise.“ Der Syllogismus lautet hier: Abschottung hilft gegen biologische Eindringlinge, Migration bedeutet Eindringen mit anderen Mitteln, daher hilft Abschottung, Grenzschutz und Migrationskontrolle auch hier. Es ist genau dieser phantasmatische Kern des Narrativs um Corona, das gespenstische Supplement der Abwehr des Fremdkörpers wie des fremden Körpers, der ausnahmezuständliche Maßnahmen zu legitimieren scheint, während ähnliche – in Größenordnung und Dramatik vergleichbare – Maßnahmen gegen den Klimawandel aufgrund wirtschaftlicher Imperative schlichtweg undenkbar wären.
„Alle Gesellschaften bringen „Fremde“ hervor, aber jede Art von Gesellschaft produziert eine besondere Art von Fremden, und sie produziert sie in ihrer eigenen unnachahmlichen Art und Weise.“ Mit diesem Worten beginnt Zygmunt Bauman seinen Aufsatz „Making and Unmaking of Strangers (Bauman 2001: 200ff.). Daran sollte man denken, wenn man über Fremdheit im Moment virologischer Verunsicherung spricht. Der Fremde ist hier nicht, wie Simmel noch in besseren Zeiten annehmen konnte, „der, der heute kommt und morgen bleibt - so zu sagen der potentielle Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat," vielmehr ist der Fremde – und zwar jeder Fremde, eine potenziell existenzielle Bedrohung. Er gleicht dem Schläfer, dem potenziellen Terroristen, der nur darauf wartet, eingesetzt zu werden und sich in der Normalität – in Corona-zeiten im Zeichen der Gesundheit – tarnt. Der Ansteckungsmöglichkeit kann sich niemand entziehen – die übertriebene Reinlichkeit, das Ritual des ständigen Händewaschens, in anderen Zeiten als neurotische Zwangsstörung diagnostiziert, wird zu einer die Gemeinschaft schützenden Handlung nobilitiert, deren Unterlassung als egoistisch und unsozial umgedeutet und wahrscheinlich in Kürze streng sanktioniert werden wird, so wie das Lesen eines Buches in der Märzsonne in Berlin auf einer öffentlichen Parkbank schon jetzt.
Es gehört zu den eingeübten Standards der Krisenbewältigung darauf hinzuweisen, dass Krisen als gesellschaftliche Erfahrungsschocks anzusehen sind, die Solidarität und Fortschrittswillen mobilisieren können (vgl. Steffen Mau, Süddeutsche Zeitung vom 27.3.2020, S.5)So bemerkte im Jahr 2011 Bundeskanzlerin Merkel in einer Regierungserklärung zu den Folgen der Schuldenkrise: „Entscheidend ist nicht die Dauer, sondern dass wir uns bei Rückschlägen nicht entmutigen lassen." Es gelte, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden und Gründungsfehler zu beseitigen, „dann wird Europa aus dieser Krise stärker herauskommen als es hineingegangen ist.“ Nun mag es durchaus sein, dass in der Corona-Krise ein verändertes Verhältnis zueinander schlummert, neue Nachbarschaftsnetze und freie Angebote im Internet mögen hierfür sprechen, doch ist kaum anzunehmen, dass dies auch für das Verhältnis der Europäischen Mitgliedsländer untereinander gelten sollte. Als die langwierigsten und dramatischsten Folgen könnten sich die xenologischen Konsequenzen der Krise erweisen, die darin liegen, dass sich die neu gefundenen nationalen Schicksalsgemeinschaften neuerlich abschotten, einschließen und einbunkern und die Mobilität der Unionsbürger vor dem Hintergrund einer Politisierung der Sicherheitsfrage aus virologischen Gründen bis auf Weiteres eingeschränkt bliebe. Ronald Hitzler hatte bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen dramatischen backlash im Umgang mit Fremdheit als Folge der Globalisierung für möglich gehalten. Eine Multikultur der „Ego- und Ethno-Zentrik, der Enge, des Misstrauens, des Neids, der Nörgelei, des An- und Einspruchs, eine Multikultur der aktiven Abgrenzungen und der ignoranten Intoleranz“ sei durchaus möglich – und die Möglichkeitsstruktur für eine solche Entwicklung ist heute in vielen Ländern weit eher gegeben als noch in den 1990er Jahren. Hinzu kommt, dass die neuartigen digitalen Überwachungsmöglichkeiten, die sich im Zuge der Überwachung gesundheitlicher Gefahren durch die Verbreitung des Virus leicht rechtfertigen und ohne größeren Widerstand durchsetzen lassen, kaum mehr zurückzunehmen sein werden und die präventive wie präemptive Gesundheitsvorsorge auf Jahre hinaus Grundrechtseinschränkungen legitimieren werden. War die Staatsschuldenkrise zu bewältigen, indem massive finanzielle Mittel aufgebracht wurden, um das Finanzsystem abzustützen, so wirkt das Phantasma der Ansteckung mit einem gefährlichen, unsichtbaren Virus im Ressentiment gegen das Fremde oder die Fremden nach. Dieses Ressentiment gegen das Fremde ist als eines der am leichtesten zu mobilisierenden Affekte interpersonal, politisch und kulturell wirksam und es steht ernstlich zu befürchten, dass wir uns in eine neue Ära der Entfremdung hineinbegeben. Schließlich ist auch zu befürchten, dass die Demokratie größeren Schaden nimmt und dies in zweierlei Hinsicht: Soziale Distanz suspendiert die Demokratie. Die performative Kraft der demokratischen Versammlung, ob als Streik, Mahnwache, Demonstration oder Besetzung öffentlicher Räume geht verloren und droht, verlernt zu werden und das Politische erstirbt im Umsetzen von Verwaltungsakten und der Exekution wissenschaftlicher Expertisen. Der Virologe als Kanzler im Ausnahezustand ist der dystopische Endpunkt einer Entwicklung, in der die Politik die totale Sicherheit verbürgen soll: Schon erheben sich tatsächlich Stimmen, die Fragen, ob die Demokratie angesichts globaler Menschheitsherausforderungen die geeignete Staatsform sei. Die zweite Gefahr besteht direkt in der phantasmatischen Angst vor dem Fremden: „Das Volk“ ist niemals eine festgelegte Bevölkerung, es wird vielmehr immer wieder und immer wieder neu durch die von uns implizit und explizit gezogenen Grenzlinien konstituiert. Das Europäische Volk, konstituiert durch eine Europäische Bürgerschaft, hat sich als Chimäre erwiesen, der Traum transnationaler demoi ist fürs Erste ausgeträumt. Und wieweit sich nationale Bürgerschaften für Fremde öffnen, bleibt abzuwarten.
Was bleibt sind dramatische Bilder von der gewaltsamen Vertreibung von Migranten an der Griechischen Grenze, gegengeschnitten mit den Bildern erschöpfter zwar, aber glücklicher heimgeholter deutscher Touristen, die zum Teil der Krise durch einen Ausflug in die vermeintlichen Sonnenparadiese dieser Welt entgehen wollten, darauf vertrauend, dass sie in ihren all inclusiv-Urlaubsarrangements auch die Vollkaskoversicherung der Heimholung im Pandemiefall durch Sonderflüge des Auswärtigen Amts mitgebucht hatten. Die totale Sicherheit in jeder Lebenslage als Menschenrecht, nur eben nicht für alle. Hier scheint auf, dass die von Hannah Arendt so eindrucksvoll beschriebenen Aporien der Menschenrechte heute so aktuell sind wie in jener Zeit, in der Arendt über sie nachdachte.
Als Gegengift gegen all diese Entwicklungen kann nur der Zwillingsbegriff der Krise wirken: die Kritik – und zwar die Kritik unserer Lebensform. Hier könnte ein Krisenvergleich in der Tat interessante Ergebnisse zeitigen: in der Schuldenkrise durften wir lernen, dass Banken so systemrelevant sind, dass sie unter allen Umständen erhalten werden mussten. Die Rede war von den Kapillarsystemen unserer Gesellschaften, und wer würde schon den eigenen Blutkreislauf unterbrechen wollen. COVID 19 zeigt eindrucksvoll, welche gesellschaftlichen Sektoren und Akteure mindestens ebenso systemrelevant sind: es sind - ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die Gesundheits-, Heil- und Pflegeeinrichtungen und die in ihnen Tätigen, bei zum Teil schlechter Bezahlung und fehlender sozialer Anerkennung, es sind die namen- und gesichtslosen Lieferboten, die im Einzelhandel Tätigen, die Polizistinnen und Polizisten usw. Hier wird nicht ausreichen, dass der Bundespräsident ein Lob ausspricht, sondern hoffen wir darauf, dass bei kommenden Lohnrunden mehr herausspringt als ein warmer Händedruck.
Es hat sich gezeigt: ein Wochenende ohne Fußball ist lebbar, vier Jahre ohne Olympiade sind kein Drama, ja selbst ein Semester ohne Präsenzveranstaltungen scheint gestaltbar, aber die Subsumtion jeglicher Einrichtung, aller Infrastruktur unter die Logik des Marktes und ihre Einpreisung, die törichte Rede vom schlanken Staat ist existenziell gefährlich. Aber auch hier ist ein Krisenvergleich erhellend: im Angesicht der Lehman Brothers Katastrophe wurden viele kluge Einsichten einer neuen Finanzkontrolle und einer Bändigung des schamlosen Neoliberalismus formuliert, doch wir brauchten nicht einmal die Cum-Ex-Skandale, die ja ironischerweise nicht einmal zu Skandalen wurden, um zu erkennen, dass dies nur hohle Rhetorik war. Colin Crouch hat dies in seinen schönen Buchtitel gekleidet: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Die neu gewonnenen Lehren aus der Corona-Krise könnten daher in der Bevorratung größerer Mengen von Mundschutz und Desinfektionsmitteln liegen, oder in einem neuen Menschenrecht auf Lieferketten und Beatmungsgeräte, wenn auch nicht für alle.
Erinnert sich noch jemand an das Album der Band Supertramp aus dem Jahr 1975? Vielleicht wird es jetzt neu remastered, denn die Band war schon damals ihrer Zeit weit voraus. Es trug den hellsichtigen Titel: Crisis? What Crisis?
Lesetipps zur Vertiefung:
Arendt, Hannah: Die Aporien der Menschenrechte, in: dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München/Berlin 1986, S.601ff.
Sarasin, Philipp: Anthrax – Bioterror als Phantasma. Frankfurt am Main 2004.
Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main 2006.