Menschenrechte und Gesundheit in Zeiten der COVID-19-Pandemie
Dr. Gottfried Schweiger arbeitet als Philosoph am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Dort leitete er das Projekt "Social Justice and Child Poverty", Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Philosophie der Kindheit, Armut und sozialer Gerechtigkeit Er ist Co-Herausgeber der "Zeitschrift für Praktische Philosophie" und der Springer Buchreihe Philosophy and Poverty. Gemeinsam mit Norbert Paulo betreibt er den Philosophieblog praefaktisch.de, auf dem gerade auch aktuelle philosophische Texte zur COVID-19-Pandemie erscheinen (https://www.praefaktisch.de/covid-19. In seinem Beitrag beschäftigt er sich mit der Frage, inwiefern die COVID-19-Pandemie eine Verletzung des Menschenrechts auf Gesundheit darstellt. Manche soziale Gruppen sind besonders gefährdet, infiziert zu werden oder zu erkranken und die Möglichkeiten, adäquate medizinische Behandlung zu erhalten, sind insbesondere im globalen Maßstab äußerst ungleich verteilt. Beides ist aus menschenrechtlicher Sicht problematisch.
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Menschenrechte und Gesundheit in Zeiten der COVID-19-Pandemie
Von Gottfried Schweiger (Salzburg)
Die COVID-19-Pandemie ist auch ein menschenrechtliches Problem. Diese Diagnose mag verwundern, da oft die Annahme vorherrscht, Menschenrechte würden den Bereich der Interaktion zwischen Menschen untereinander oder zwischen Menschen und Institutionen beschreiben, wogegen Krankheiten oder Naturkatastrophen – und die Pandemie scheint beides gleichzeitig zu sein – nicht als Menschenrechtsverletzungen wahrgenommen werden. Ich will versuchen, einige menschenrechtliche Aspekte der COVID-19-Pandemie und des Umgangs mit ihr aufzuzeigen, wobei das Menschenrecht auf Gesundheit im Mittelpunkt stehen wird.
Menschenrechte haben den doppelten Charakter moralische und juridische Rechte zu sein. Moralische Rechte sind sie, weil sie allen Menschen qua deren Menschsein unbedingt zukommen und zwar unabhängig davon, ob es andere Menschen oder Institutionen diese Rechte anerkennen oder nicht. Als moralische Rechte benötigen Menschenrechte auch keinerlei Kodifizierung oder sonstige faktische Wirksamkeit, um zu gelten. Juridische Rechte sind Menschenrechte, weil es Menschenrechtskonventionen gibt, die internationales und nationales Recht beschreiben und binden. Ich interessiere mich in diesem Beitrag vor allem für die moralische Seite der Menschenrechte – über die juridische Seite können ExpertInnen aus den Rechtswissenschaften besser Auskunft geben.
Menschenrechte sollen beschreiben, welche Rechte jeder Mensch qua seines Menschseins hat. Sie werden meist als unveräußerlich und unbedingt angesehen, also als Rechte, die man nicht verlieren kann und die unter allen Umständen Geltung beanspruchen. Die Begründung dieser Menschenrechte und ihr Inhalt und Umfang sind dabei philosophisch notorisch umstritten. Das betrifft auch Menschenrechte, die nun durch die COVID-19-Pandemie tangiert werden, wie das Menschenrecht auf Leben und Gesundheit oder auch das auf Versammlungsfreiheit, welches nun stark eingeschränkt wird. Menschenrechte sind nicht allein zu haben, sie bedingen immer Pflichten auf Seiten anderer, insbesondere des Staates und seiner Institutionen. Der Staat steht nicht nur aus pragmatischen Gründen im Zentrum des Menschrechtsdiskureses, sondern weil ihm auch aus moralischer Sicht eine besondere Rolle zukommt. Der Staat ist, zumindest so lange als der nicht durch andere Einheiten des Zusammenlebens ersetzt wurde, moralisch dazu legitimiert und aufgefordert, für seine BürgerInnen deren Menschenrechte zu garantieren. Der universale Charakter Menschenrechte bindet den Staat dann auch gegenüber allen anderen Menschen, unabhängig davon, ob diese seine BürgerInnen sind oder nicht, wobei durch die moralische Arbeitsteilung in einer Welt aus Staaten, die primäre Pflicht jeweils bei den einzelnen Staaten gegenüber ihren BürgerInnen liegt. Die Garantie der Menschenrechte läuft darauf hinaus, dass der Staat und seine Institutionen diese nicht verletzen sollen, er Menschen davor schützen soll, dass deren Menschenrechte nicht durch Dritte verletzt werden und er Menschen dabei unterstützen soll, dass diese ihre Menschenrechte realisieren können. Alle drei Aspekte sind auch in Zeiten der COVID-19-Pandemie relevant.
Gesundheit und Krankheit sind sozial determiniert
Doch inwieweit tangiert die COVID-19-Pandemie und das körperliche und seelische Leid, die schwere Erkrankung bis hin zum Tod von tausenden Menschen, welcher mit ihr verbunden ist, überhaupt solche Menschenrechte wie jenes auf Leben, Gesundheit und Wohl? Menschen werden aus ganz unterschiedlichen Gründen krank und wir alle sterben zwangsläufig. Das Menschenrecht auf Gesundheit kann also nicht meinen, dass alle Menschen ein Recht darauf hätten nie krank zu werden und das Menschrecht auf Leben kann nicht meinen, den Tod als natürlichen Bestandteil des Menschseins gänzlich auszuschließen. Wenn das Menschenrecht auf Gesundheit und Leben meint, dass niemand und schon gar nicht der Staat einen Menschen krank machen oder töten darf, dann stellt sich die Frage, inwieweit eine solche Pandemie, wie wir sie derzeit erleben, hierunter fallen könnte. Dazu will ich zwei Überlegungen anstellen.
Erstens sind Pandemien wie alle Fragen der Gesundheit und Krankheit in einen sozialen Kontext eingelassen. Sie finden also in menschlichen Gesellschaften statt und wie diese Gesellschaften, ihre Institutionen und Ressourcenausstattung aussehen und wie sie damit umgehen, bestimmt zu einem nicht unerheblichen Maße, welche Folgen eine Krankheit entwickelt, wen sie trifft und wie stark. Armut ist zum Beispiel ein schon länger gut erforschter Einflussfaktor auf die Gesundheit, unter anderem auf die Lebenserwartung. Solche sozialen Effekte auf Gesundheit und Krankheit sehen wir auch in dieser COVID-19-Pandemie deutlich. Es gibt zwar noch kein Heilmittel, aber alles deutet darauf hin, dass die Verfügbarkeit medizinischer Geräte und medizinischen Personals einen Einfluss auf die Ausprägung und das Ergebnis einer Erkrankung mit COVID-19 hat. Und diese Ressourcen sind – vor allem global gesehen – natürlich stark ungleich verteilt.
Zweitens greift der soziale Kontext darin ein, wer überhaupt krank wird und wer wie mit dieser COVID-19-Pandemie umgehen kann. Der ganze Sinn, der nun getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung besteht, erschließt sich ja nur, wenn dahinter die Überzeugung liegt, dass wir etwas tun können, also unser Handeln und die Veränderung sozialer Verhältnisse einen Effekt auf die Infektionsrate und damit letztlich auch auf die Folgen dieser Krankheit hat. Auch hier sind Unterschiede festzustellen. Manche Gruppen sind offensichtlich stärker betroffen als andere und zwar gemäß natürlicher und sozialer Eigenschaften. Natürliche Eigenschaften sind etwa Alter und Vorerkrankungen – wobei viele Vorerkrankungen auch sozial ko-determiniert sind. Soziale Eigenschaften sind etwa der Beruf – hier sind medizinisches Personal, aber auch die Angestellten in den Supermärkten und in der Kinderbetreuung oder die Polizei, durch den engeren Kontakt mit vielen Menschen gefährdeter als andere. Es ist sinnvoll hier zwischen Gefährdung und Vulnerabilität zu unterscheiden. Manche Gruppen sind gefährdeter, sich anzustecken und COVID-19 zu bekommen, manche Gruppen sind dann vulnerabler hinsichtlich eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Krankheit.
Menschenrecht auf Gesundheit
Wenn also Gesundheit und Krankheit im Allgemeinen und auch im Besonderen der COVID-19-Pandemie teilweise dadurch bestimmt werden, was Menschen und der Staat und seine Institutionen tun, dann eröffnet das einen menschenrechtlichen Zugang. Wenn es nichts gäbe, was wir oder der Staat tun könnten, dann wäre es schlicht tragisch und es läge keine irgendwie geartete Verletzung von Menschenrechten vor.
Das Menschenrecht auf Gesundheit ist besonders umstritten, da der Gesundheitsbegriff unklar ist. Ein weiter Gesundheitsbegriff wie er etwa von der Weltgesundheitsorganisation vertreten wird und der ein höchstes Level an Wohlbefinden und nicht nur die Abwesenheit einer (schweren) Krankheit beschreibt, scheint so umfangreich, dass er ein Menschenrecht überfordern würde. Hier spielen die unterschiedlichen Aspekte von Menschenrechten und die ihnen korrespondierenden Pflichten eine wichtige Rolle. Das Menschenrecht auf Gesundheit meint jedenfalls nicht nur, dass andere Menschen oder staatliche Institutionen, niemanden krank machen oder verletzen. Es bedeutet auch, dass der Staat die Ressourcen und Institutionen bereit stellt, um einer Gesundheitsgefährdung durch andere vorzubeugen. Dazu zählt zum Beispiel die Prävention von häuslicher Gewalt genauso wie die Unterstützung von Eltern, ihre Kinder gesund zu erziehen. Das Menschenrecht auf Gesundheit ist umfangreicher als der Schutz vor Dritten und bezieht sich sowohl auf die Versorgung bei Krankheit als auch die Prävention von Krankheiten und die Unterstützung, Gesundheit aufzubauen und zu erhalten. Vorsorgemaßnahmen können damit ebenso unter das Menschenrecht auf Gesundheit gefasst werden.
Der oben aufgezeigte Aspekt der sozialen Determination von Gesundheit und Krankheit ist hier wichtig. Wenn die Gesundheit durch die soziale Position (Armut, Arbeitslosigkeit, Bildung) mitbestimmt wird, dann scheint es plausible anzunehmen, dass der Staat und andere Dritte die Aufgabe haben, solche Faktoren auszugleichen. Wenn also zum Beispiel offensichtlich ist, dass Armut dazu führt, dass Menschen in lauten, kalten und schimmligen Wohnungen an vielbefahrenen Straßen mit Feinstaub und anderer toxischer Belastung wohnen und durch diese Umstände krank werden, dann ist es aus menschenrechtlicher Sicht so, dass der Staat hier einschreiten sollte. Er hat nicht dafür zu sorgen, dass alle Menschen perfekte Gesundheit erlangen und er hat in Bezug auf das obige Beispiel auch nicht die Pflicht, allen Menschen den gleichen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, aber er hat dann einzuschreiten, wenn soziale Ungleichheit zu eklatanten Gesundheitsunterschieden führt. Ein Aspekt, der hier verkomplizierend hinzukommt, ist, dass viele Ungleichheiten in Gesundheit und Krankheit durch das Verhalten ko-determiniert sind.
Menschen in sozioökonomisch schlechter gestellten Lebensumständen arbeiten eher in Berufen, die mit großer körperliche Belastung einhergehen, sie neigen eher dazu, zu rauchen, zu trinken und sich schlecht zu ernähren und sie gehen tendenziell weniger oft zum Arzt und nehmen weniger Vorsorgeangebote wahr. Natürlich gibt es auch wohlhabende Menschen, die alle diese Dinge tun. Das ändert aber nichts daran, dass es hier spezifische Ungleichheiten zwischen sozioökonomischen Gruppen gibt. Die Frage ist hier dann, wie der Staat und seine Institutionen, oder auch andere Personen, eingreifen können, insofern, diese Handlungen freiwillig gesetzt werden.
Das eröffnet die Debatte um einen menschenrechtlich motivierten Paternalismus, um die soziale Determination von Gesundheit und Krankheit aufzubrechen und solche Interventionen zu entwickeln, die insbesondere für gefährdete und vulnerable Gruppen deren Gesundheit fördern, auch wenn sie dies von sich aus nicht anstreben oder sogar gegenteiliges Verhalten zeigen. Hier spielen auch Überlegungen der Effizienz eine große Rolle, da ja die Ressourcen und Interventionen des Staates auf der einen Seite möglichst vielen Menschen, auf der anderen Seite besonders jenen, die gefährdet und verletzlich sind, helfen sollen. Wenn man etwa weiß, dass Kampagnen gegen das Rauchen in manchen Milieus wenig wirken, ist es dann legitim, dass der Staat hier stärkere Anreize schafft, also zum Beispiel schwangere Frauen dafür (mehr) Geld gibt, dass sie nicht mehr rauchen?
Menschrechte und die COVID-19-Pandemie
Worin könnte nun aber eine Verletzung des Menschenrechts auf Leben und Gesundheit der Opfer der COVID-19-Pandemie bestehen? Welche Aufgaben hat der Staat hier und wie sind die derzeitigen, weitreichenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aus menschenrechtlicher Sicht einzuschätzen? Drei Aspekte möchte ich hier hervorheben.
Das Menschenrecht auf Gesundheit ist durch eine solche Pandemie nicht primär dadurch tangiert, dass nun eine neuartige Krankheit aufgetreten ist, die für viele Menschen Leid und den Tod bedeutet. Die COVID-19-Pandemie wird allerdings dann zu einer Sache der Menschenrechte, wenn der Staat und seine Institutionen, wie auch andere, transnationale Akteure, auf die Verbreitung, Eindämmung, Behandlung und Folgen dieser Erkrankung einwirken können, um Menschen zu schützen und ihnen im Falle eine Erkrankung zu helfen. Solche Interventionen sehen wir gerade in einem wohl noch nie dagewesenen Ausmaß – eine weitreichende Stilllegung des ökonomischen und sozialen Lebens, Ausgangsbeschränkungen, massive Hilfspakete für Unternehmen und ein medizinisches System sowie die dort arbeitenden Menschen am Limit. Ob diese Maßnahmen effektiv sein werden und auch ob es bessere Alternativen gegeben hätte, wird sich wohl erst in einer späteren genauen Analyse zeigen.
Erstens steht das Individuum mit seinen unveräußerlichen Rechten auf Basis seiner Menschenwürde im Zentrum der Menschenrechte. Das bedeutet auch, wie wir es gerade sehen, dass das Menschenrecht auf Gesundheit, sofern es gefährdet ist, moralisch mehr Gewicht hat als Fragen des wirtschaftlichen Wohlergehens. Man kann dahingehend auch sagen, dass das Menschenrecht auf Gesundheit ein besonders zentrales Menschenrecht ist, da Gesundheit für die Ausübung vieler weiterer Menschenrechte eine Bedingung ist. Wer schwer krank ist, kann in vielen Fällen weder arbeiten, noch seine Familie betreuen, noch politisch aktiv werden. Es ist daher richtig, dass nun die Maßnahmen der Gesundheit der Menschen Priorität einräumen, obwohl es durchaus auch Stimmen gibt, die dies kritisch sehen und der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie nicht alle ökonomischen Aspekte unterordnen wollen.
Zweitens ist es so, dass die COVID-19-Pandemie soziale Gruppen unterschiedlich stark trifft. Das ist nicht nur, aber auch für die gesundheitlichen Folgen dieser Pandemie der Fall. Auch Armut und Arbeitslosigkeit tangieren Menschenrechte – zum Beispiel jenes auf einen angemessenen Lebensstandard, aber auch jenes ein freies und würdevolles Leben führen zu können. Die Folgen der Pandemie sind in dieser Hinsicht sicherlich stark ungleich verteilt. In weiterer Folge hat dies auch wieder Auswirkungen auf das Menschenrecht der Gesundheit, da soziale Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung mit Stress und anderen gesundheitsschädlichen Faktoren verknüpft sind. Die sozialen, aber auch gesundheitlichen Folgen der Pandemie werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht damit verschwinden, wenn es heißt, dass COVID-19 entweder ausgerottet wurde oder Medikamente oder eine Impfung dagegen gefunden wurde.
Ein wichtiger Aspekt, der in manchen Ländern ein Faktor werden wird, ist die Frage nach der Verteilung der knappen medizinischen Ressourcen zwischen den PatientInnen. Das Menschenrecht auf Gesundheit ist prinzipiell einmal eines, welches alle Menschen gleichermaßen haben und welches sie nicht durch Alter oder auch Straffälligkeit verlieren können, ebenso wenig wie es ihnen nicht deshalb vorenthalten werden darf, weil sie Angehörige einer Minderheit sind. Dennoch ist es so, dass hier ethische Abwägungen nötig sind, wenn es nicht möglich ist, alle Menschen zu versorgen oder zu retten. Damit hier nicht leichtfertig ein so wichtiges Menschenrecht wie jenes auf Leben oder Gesundheit geopfert wird, bedarf es einer tiefen ethischen Reflexion. Klar ist, dass es nicht dazu kommen darf, dass zum Beispiel reiche Menschen eher gerettet werden als arme, obwohl auch das zu befürchten steht, sollte es in manchen Ländern oder Gegenden zu drastischen Knappheiten kommen. Wie die Verteilung aussehen soll, dafür gibt es unterschiedliche Ansätze – solche die jedes Leben gleich gewichten und die daher auf die Maximierung der zu rettenden Leben setzen. Andere Ansätze präferieren Lebensjahre als wichtigste Einheit, was bedeuten kann, dass die Rettung eines Person, die zwanzig Jahre alt ist, Priorität vor der Rettung zweier Personen mit jeweils achtzig Jahren genießen sollte. Das sind schwierige Fragestellungen auf die der menschenrechtliche Ansatz alleine keine befriedigende Antwort geben kann. Es wird sich wohl erst im Nachhinein zeigen, ob bestimmte soziale Gruppen wie arme, obdachlose Menschen oder Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus besonders hart dort betroffen waren, wo die medizinischen Systeme über ihr Limit strapaziert wurden.
Drittens schließlich betrifft die COVID-19-Pandemie nicht nur die reichen Länder des Globalen Nordens, wenn diese zur Zeit noch im Fokus stehen und die Fallzahlen in den Ländern des Globalen Südens, soweit man ihnen trauen kann, erfreulicherweise recht niedrig sind. Sollte sich die Pandemie dort ebenso stark ausbreiten, ist eine humanitäre Katastrophe vorprogrammiert, da die dortigen Ressourcen und Institutionen keinesfalls in der Lage sein werden, eine große Anzahl an Menschen zu versorgen. Da die Menschenrechte universal gelten und alle Menschen auf dieser Welt einen gleichen moralischen Anspruch darauf haben, stellen die ungleichen Erkrankungs-, Behandlungs- und Überlebenschancen auf globaler Ebene ein massives menschenrechtliches Problem dar. Schon heute leiden Menschen im Globalen Süden unter vielen Krankheiten, die eigentlich gut behandel- oder gänzlich vermeidbar wären und es sterben jedes Jahr Millionen an den Folgen von vermeidbaren Krankheiten, Hunger und Armut. Die COVID-19-Pandemie könnte hier ein besonders drastisches Ereignis sein, welches eingebettet in globale Ungleichheiten, hunderte Millionen Menschen ohne adäquaten Schutz und Versorgung trifft. In vielen Ländern werden auch aus ökonomischer Not und aus Mangel an staatlicher Souveränität und Ressourcen Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung nur ineffektiv oder gar nicht umgesetzt werden können. Das betrifft auch Orte, die nahe an Europe sind wie die Flüchtlingslager in Griechenland oder der Türkei, in denen tausende Menschen auf engem Raum und fast ohne jede medizinische und sonstige Versorgung ausharren müssen. Es wird sich dahingehend auch erst zeigen, ob wir hier von diesen Schicksalen überhaupt erfahren werden – also ob die Kranken und Toten in den Ländern des Globalen Südens, in den Flüchtlingscamps oder in Kriegsgebieten überhaupt ausreichend erfasst werden. Vielleicht werden viele Opfer der COVID-19-Pandmie gar nicht oder nur in Schätzungen wahrgenommen werden, die Verletzung ihrer Menschenrechte auf Leben und Gesundheit bleiben nicht nur unwidersprochen, sondern auch im Verborgenen.
Die Frage ist, wer für solche Folgen zur Verantwortung zu ziehen wäre. Können sich die Länder des Globalen Nordens auf die Position zurückziehen, dass sie selbst genug zu tun hatten und dass sie aus gutem Grund, ihre eigene Bevölkerung zuerst geschützt haben? Sind die Menschenrechte mit einem starken Nationalismus vereinbar? Klar ist, das wurde von mir schon zu Beginn des Textes angemerkt, dass Menschenrechte vor allem eine Angelegenheit der Statten sind. Nur in einigen wenigen Fällen sind starke Interventionsmöglichkeiten legitimiert, etwa im Falle von Genozid, der eine humanitäre Intervention rechtfertigt. Letztlich bleibt es aber den jeweiligen Interessen der Staaten überlassen, wann sie wie Menschenrechte in anderen Ländern einmahnen, deren Erfüllung mit Hilfen und Ressourcen unterstützen oder deren Verletzung sanktionieren. Dennoch gibt es in Zeiten einer Pandemie auch Verpflichtungen, anderen Ländern und deren Bevölkerung gegenüber, die nicht gänzlich ausgesetzt werden dürfen. Vor allem insofern, die Pandemie zeitverzögert auftritt, also die Möglichkeit bestünde, Material, Geld oder auch Personal zur Unterstützung zu schicken, sollte dies getan werden. Geld scheint ja derzeit sowieso eine untergeordnete Rolle spielen, also könnte auch dieses eingesetzt werden, um die Länder des Globalen Südens zu unterstützen. Die Menschen in den Flüchtlingscamps an der Grenze zu Europa oder bereits auf europäischem Boden, sollten auch aufgenommen und in menschenwürdigen Unterkünften versorgt werden – es sollte auch gewährleistet werden, dass diese in der medizinischen Versorgung genauso wie bei präventiven Maßnahmen nicht nachranging behandelt werden.
Literaturtipps zur Vertiefung:
Frewer, Andreas / Bielefeldt, Heiner (Hg.): Das Menschenrecht auf Gesundheit. Normative Grundlagen und aktuelle Diskurse, Bielefeld: transcript 2016.
Zeitschrift für Menschenrechte, Ausgabe 2015: https://www.zeitschriftfuermenschenrechte.de/
Health and Human Rights Journal: https://www.hhrjournal.org/2013/08/the-social-determinants-of-health-health-equity-and-human-rights/
Ethische Fachbeiträge zu COVID-19 vom Hastings Center: https://www.thehastingscenter.org/category/covid-19/
Zur Frage der ethischen Allokation von knappen Ressourcen im Rahmen der Pandemie: New England Journal of Medicine: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMsb2005114