Viren kennen keine Grenzen
Warum globale Gesundheit nicht erst seit COVID-19 die internationale Politik beschäftigt und wie vergangene Krisen globale Gesundheitspolitik beeinflusst haben
Anna Holzscheiter ist Inhaberin der Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt internationale Politik. Parallel zu ihrer Professur an der TU Dresden leitet sie die Forschungsgruppe 'Governance for Global Health' am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). In ihrem Beitrag beschäftigt sie sich mit der Frage wie vergangenen Krisen auf die globale Gesundheitspolitik und damit auch auf die Covid 19 Pandemie gewirkt haben.
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Viren kennen keine Grenzen
Warum globale Gesundheit nicht erst seit COVID-19 die internationale Politik beschäftigt und wie vergangene Krisen globale Gesundheitspolitik beeinflusst haben
von Anna Holzscheiter
Internationale Beziehungen: das sind Kriegserklärungen und Friedensverträge, das sind internationale Handelsrouten und globale Warenströme; das sind Flüchtlingsboote und Schlepperbanden, Seenotrettung und FRONTEX auf dem Mittelmeer; das sind Bündnisse zwischen Staaten und Netzwerke zwischen gesellschaftlichen Akteuren; das sind junge Menschen aus unterschiedlichen Ländern, die für politische Transformation in Nordafrika oder Klimawandel auf die Straße gehen, das sind transnationale terroristische und ultrarechte Netzwerke genauso wie Diaspora-Netzwerke und globale Antifolter-Kampagnen. Es sind also freundliche und feindliche, enge und lose Beziehungen zwischen Staaten, kosmopolitische oder konfrontative Beziehungen zwischen Gesellschaften, zwischen Kulturen, zwischen Individuen...
Momentan beobachten wir eine Pandemie, bei der es in vielerlei Hinsicht scheint, als würden alle diese Beziehungen leicht oder stark aus den Fugen geraten – 2019 wurden so viele Flugmeilen gezählt, wie nie in der Geschichte zuvor, 2020 kommt ein Großteil des globalen Flugverkehrs zum Erliegen. 2019 reden alle über Klimawandel, 2020 redet kaum einer mehr darüber, stattdessen beherrschen alle plötzlich ein neues Vokabular und reden über Kontaktsperren, streiten darüber, ob es nun ‚social‘ oder ‚physical distancing‘ heißen soll, sprechen routiniert über Massentests, Antikörper und Systemrelevanz. Die Regierungschefs Italiens, Chinas, Frankreichs, der USA und Großbritanniens sparen angesichts der Pandemie nicht mit Kriegsrhetorik: der chinesische Staatspräsident Xi Jinping spricht von einem ‚people’s war‘. Man kann also auch Viren den Krieg erklären, aber wie schließt man Frieden mit ihnen? Mit einer Impfung oder damit, dass man die Waffen streckt und in Kauf nimmt, dass hunderttausende, vielleicht Millionen Menschen sterben werden?
Einmal mehr beschäftigen wir uns jetzt (wieder) damit, welche Auswirkungen die Globalisierung – in Form von grenzüberschreitendem Personen-, Tier- und Warenverkehr, von globalen Wertschöpfungsketten und Elementen einer Weltkultur – auf die Entwicklung von Pandemien hat. Ich sage einmal mehr, weil schon seit sehr langer Zeit und weit vor dem 20. Jahrhundert internationale und globale Interdependenzen – also dichte Strukturen von gegenseitigen Abhängigkeiten – der Nährboden von Epidemien und Pandemien gewesen sind.
Es ist ein brutaler Aspekt der internationalen Gesundheitspolitik, dass es nicht nur der internationale Handel mit Waren auf dem See- und Landweg war, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals internationale Verträge zur Eindämmung von Seuchen notwendig machte. Nein, es waren auch die mit zwischenstaatlichen Kriegen verbundenen grenzüberschreitenden Truppen- und Fluchtbewegungen sowie Menschenhandel zum Zwecke der Sklaverei und Prostitution, die maßgeblich zur Verbreitung einer langer Liste von Infektionskrankheiten wie Diphterie, Scharlach, Mastern, Pest, Pocken, Cholera und Influenza beitrugen.
Ausgehend von der Beobachtung, dass Infektionskrankheiten immer wieder zur Intensivierung internationaler Beziehungen geführt haben, möchte ich hier den Zusammenhang zwischen Internationalen Beziehungen und Pandemien auf drei Ebenen erörtern. Erstens, Internationale Beziehungen als Bedingung für Pandemien, zweitens Internationale Politik als Antwort auf Pandemien und drittens internationale Politik als Konflikt darüber, was globale Gesundheitspolitik ist, welche Probleme zu ihr gehören und wer in ihr das Sagen hat sind.
1 Internationale Beziehungen als Bedingung für Pandemien
Wenn es eine Formel gibt, die den Mangel an disziplinärer Vielfalt in der aktuellen Debatte verkörpert, dann ist es die Aussage, das Coronavirus habe die Pandemie ausgelöst. Diese Behauptung spiegelt sich auch in der überstrapazierten Kriegs-Rhetorik einiger Regierungschefs wieder – man befinde sich in einem Krieg mit dem Virus, im Kampf gegen das Virus, mobilisiere gegen das Virus. An dieser Behauptung wird die virologische und biomedizinische Einengung auf Infektionskrankheiten im Allgemeinen, auf die Beschaffenheit und das Verhalten von Viren besonders deutlich. Jede andere, gesellschaftswissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, ethnologische, ökonomische, historische usw. Perspektive stellt die Kontextfaktoren in den Mittelpunkt, auf die ein solcher Erreger trifft und die erst verantwortlich dafür sind, dass aus einem lokal auftretenden Pathogen eine weltumspannende Pandemie wird.
Es ist nicht das Virus, das eine globale Gesundheits- und Systemkrise auszulösen vermag, sondern die Bedingungen auf die es trifft: Menschen und Tiere auf engstem Raum in China und anderswo, beengte Wohnverhältnisse und Mehrgenerationenhaushalte in Norditalien, , Millionen von Amerikanern, die sich selbst krank noch täglich in überfüllte U-Bahnen quetschen, weil sie wissen, dass wenn sie heute nicht zur Arbeit erscheinen, sie morgen ihren Job verlieren und ihre Krankenversicherung und übermorgen nicht mehr wissen, wovon sie Essen, Miete usw. zahlen sollen.
Die Politikwissenschaft und ihre Teildisziplin ‚Internationale Politik‘ kann auf vielfältige Weise Erklärungen dafür liefern, warum sich aufgrund von Prozessen der globalen Verflechtung und zu bestimmten Zeitpunkten Viren so verbreiten können, dass sie sich schlussendlich zu Epidemien und schließlich zu Pandemien auswachsen.
Die Spanische Grippe traf die sowieso schon geschwächten Bevölkerungen der Kriegsparteien im 1. Weltkrieg mit besonderer Härte. Nachdem das damalige H1N1-Virus im Winter 1918 in den USA von Geflügel und Schweinen auf Menschen übergesprungen war, vermehrte es sich insbesondere in den Ausbildungslagern des US-Militärs für den Einsatz in Übersee rasend schnell. Schon im April erreichte die Influenza mit US-Truppentransporten Frankreich und verbreitete sich ab da mit rasender Geschwindigkeit in Europa. Die Influenza der Jahre 1918/1919 traf also auf unter Mangelernährung und Erschöpfung leidende Soldaten und vom ersten Weltkrieg zermürbte und geschwächte Gesellschaften, auf einen Mangel an Medikamenten, Hygiene und medizinischen Ressourcen zur Bekämpfung der Grippe, inklusive Atemschutzmasken.
Die AIDS-Epidemie in den 1990gern und 2000ern forderte auch deshalb Millionen Todesopfer, weil es zwar wirksame Medikamenten-Therapien gab, diese jedoch aufgrund der Preispolitik multinationaler Pharmakonzerne so teuer waren, dass sie die finanziellen Ressourcen von Gesundheitssystemen in ärmeren Regionen der Welt schlichtweg ausgeblutet hätten.
Das Ebola-Virus 2014/15 forderte nicht nur aufgrund seiner hohen Letalität so viele Menschenleben, sondern auch, weil es auf Gesundheitssysteme in Ostafrika traf, die diesen Namen gar nicht verdient hatte. Und eben jene Gesundheitssysteme waren auch deshalb so schwach, weil ein Großteil der wenigen dort ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte und Gesundheitsfachkräfte in Gesundheitssysteme des globalen Nordens migriert waren.
Jenseits der jüngeren Notfälle der globalen Gesundheit wie SARS, Ebola, HIV, Zika oder jetzt eben Corona – können wir jedoch auch bei etlichen anderen Infektionskrankheiten feststellen, wie bedeutend deren internationale Dimensionen sind. Die Ausrottung der Kinderlähmung – Polio – scheitert daran, dass Polio weiterhin in Konfliktzonen – insbesondere Pakistan und Afghanistan – endemisch bleibt, und sich aufgrund von Fluchtbewegungen aus diesen Regionen nun auch wieder in den Rest der Welt verteilt. Zugleich beobachten wir eine steigende Impfmüdigkeit oder gar Impfskepsis in vielen Ländern des globalen Nordens, die sich gleichermaßen negativ nicht nur auf die Gesundheit einzelner Länder sondern eben auch auf die globale Dynamik von Infektionskrankheiten auswirkt.
Alle diese Faktoren haben mit internationalen Beziehungen und internationaler Politik zu tun: mit Konflikten bei der internationalen Regulierung geistigen Eigentums und damit verbunden der Frage danach, ob Patente auf lebensnotwendige Medikamente rechtens sind; mit globalen Migrationsbewegungen und globalen Märkten für Waren und Tiere; mit lokalen Konflikte, die sich negativ auf Impfkampagnen beispielsweise gegen Polio oder Masern auswirken und damit auch international wieder zur Verbreitung dieser Infektionskrankheiten beitragen.
2 Internationale Beziehungen als Antwort auf Pandemien
Letzte Woche beschuldigte der amerikanische Präsident Donald Trump die Weltgesundheitsorganisation – WHO –, dass sie ihn nicht rechtzeitig vor der Möglichkeit einer Pandemie und deren massiven Auswirkungen auf sein Land gewarnt hätte. Die WHO lasse sich von den Chinesen umgarnen, habe zu spät Reisebeschränkungen befürwortet. Andere Länder wie Australien sprangen auf den Zug auf, das Thema beherrscht gerade, Mitte April 2020 schon seit über einer Woche die Tagespresse.
Fazit: internationale Gesundheitspolitik gerade in außerordentlichen Zeiten gibt uns nicht nur Auskunft darüber, wie kooperativ Staaten auf Gesundheitsprobleme reagieren, nein, sie ist natürlich auch Ausdruck größerer und längerfristiger Weltordnungspolitik, sie ist Ausdruck von Auseinandersetzungen um Einflusssphären innerhalb und außerhalb von internationalen Organisationen, sie gibt uns Auskunft darüber, was internationale Organisationen sind, ob und inwiefern sie sich überhaupt über die Interesse ihrer wichtigsten Mitgliedsstaaten hinwegsetzen können, was wir von ihnen erwarten (normativ), was wir von ihnen erwarten können (realistisch).
Wenn man sich den Stellenwert von Gesundheit im Curriculum der Internationalen Beziehungen vor Augen hält, wird eines klar: in ruhigeren Zeiten wird Gesundheit gerne als ‚soft politics‘ abgetan worden, also als Politikfeld, dass insbesondere der globalen Sozialpolitik zugerechnet wird und damit nicht mit den Kernfeldern wie Krieg & Frieden oder internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik konkurrieren kann. Als ich 2006 begann, über ein Thema für meine Post-Doc-Phase nachzudenken und globale Gesundheitspolitik vorschlug, war die Reaktion meines Dissertationsbetreuers eindeutig: schon wieder ein Frauenthema. (Meine Dissertation hatte ich zu den Menschenrechten von Kindern und Jugendlichen geschrieben.)
Es ist davon auszugehen, dass globale Gesundheit nach der COVID-19 Pandemie, nicht mehr in diese Schublade gesteckt werden wird. Dass wir einmal mehr erkennen, dass internationale Gesundheitskrisen Schlüsselmomente der internationalen Politik sind, in denen sich zeigt, wie gut die internationale Zusammenarbeit und die damit verbundenen Institutionen – und das meint nicht nur die WHO, die Europäische Union, der IMF usw – funktionieren. Und dass sie vor allem Schlüsselmomente sind, die großen Teilen der Weltbevölkerung vor Augen führen, welche Auswirkungen internationalen Beziehungen auf ihre eigene Gesundheit und die ihrer Umgebung haben und auch, welche Antworten durch internationale Kooperation möglich sind oder sein könnten.
Die internationale Politik im Bereich Gesundheit ist ein Bereich, in dem Staaten schon weit vor Beginn des 20. Jahrhunderts zusammengearbeitet haben. Lange Zeit waren allerdings internationale Vereinbarungen im Bereich der Gesundheit lediglich auf die Eindämmung von Infektionskrankheiten ausgerichtet, insbesondere auf eine gründliche und transparente Informationspolitik (heute würde man ‚Daten‘ sagen) der betroffenen Ländern und auf die Vereinbarung von Maßnahmen, die im Falle drohender Epidemien ergriffen werden sollten.
Die Auswirkungen dieser anfänglichen ‚Gesundheitsdiplomatie‘ sehen wir bis heute und auch in der aktuellen Situation – etliche Länder verfolgen mehr oder weniger ähnliche Strategien, manche früher, manche später, sie sind angeleitet von nationalen Pandemieplänen, die ihre Ursprünge in den vielfältigen Debatten und Beschlüssen im Kontext der Weltgesundheitsorganisation und anderer Institutionen haben (z.B. ECDC).
Es sind viele in den vergangenen Wochen über das Stöckchen von Donald Trump gesprungen und haben danach gefragt, ob wir die Weltgesundheitsorganisation noch brauchen, weil sie sich ja so offensichtlich an den Interessen einzelner Mitgliedsstaaten – sprich: China – orientieren würde. Diese Frage zeugt nicht nur von einer bizarren und naiven Perspektive auf internationale Organisationen – sie wirft auch über 70 Jahre kontinuierliche Konsultationen zwischen ihren 194 Mitgliedsstaaten (alle Länder der Welt) und den medizinischen, virologischen, epidemiologischen, sozialwissenschaftlichen, juristischen Expertinnen und Experten, die diese Organisation – im Hauptquartier in Genf und in den sechs Regionalbüros vertreten – mit einem Satz über Bord.
Internationale Organisationen sind essentielle Plattformen für internationale Beziehungen. Sie werden gerne in drei Bildern beschrieben: als Arenen, in denen Staaten über gemeinsame Probleme und Antworten auf diese Probleme diskutieren; als Akteure, deren Verwaltungsapparate und oberste Bürokratinnen und Bürokraten (Generalsekretärin, Generaldirektoren) als eigenständige Institutionen mit Gestaltungsmacht wahrgenommen werden; und als Instrumente, wenn in ihnen und durch sie einzelne Staaten oder Staatengruppen ihre individuellen Interessen durchzusetzen versuchen. Sicherlich überwiegen in bestimmten Momenten einzelne dieser Bilder – in der Summe treffen sie jedoch alle drei auf die ‚Identität‘ von internationalen Organisationen zu. Gerade das Bild der Arena – dem diskursiven Boxring – ist es, das den Stellenwert internationaler Organisationen als Plattformen für Kommunikation, Informationsaustausch und die Generierung von Wissen und Daten in besonderem Maße unterstreicht.
Wer danach fragt, ob eine Organisation wie die WHO, deren jährliches Budget (2,2 Mrd US Dollar) ein Drittel von den voraussichtlichen Gesamtkosten des Berliner Flughafens BER beträgt, überhaupt gebraucht wird, der verkennt den fundamentalen Wert von Kommunikation bei der Vertrauensbildung zwischen den Ländern dieser Welt, die alle Mitgliedsstaaten dieser Organisation sind. Er verkennt auch die Bedeutung eines Parlaments wie der Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly), die jährlich tausende von Vertreterinnen und Vertretern der WHO Mitgliedsstaaten, wissenschaftliche Expertinnen und Experten, und unzählige Repräsentaten und Repräsentatinnen zivilgesellschaftlicher Organisationen und profit-orientierter Unternehmen zusammenbringt.
Das Mandat der Weltgesundheitsorganisation ist in ihrer Satzung eindeutig festgelegt: sie soll als zentrale internationale Institution zum Schutz der Gesundheit weltweit ihren Mitgliedsstaaten Informationen, Daten, Wissen und technische Hilfe zur Verfügung stellen, insbesondere bei gesundheitlichen Notlagen.
Die Verhinderung der Ausbreitung von Infektionskrankeiten und insbesondere die Vorbereitung auf Pandemien (pandemic preparedness) inklusive der notwendigen Antworten auf Gesundheitsnotlagen (outbreak and emergency response) können dabei als historisch wichtigster Tätigkeitsbereich der WHO gesehen werden. Und wieder ist es hier vor allem das Ermöglichen der Kommunikation – zwischen den Mitgliedsstaaten, zwischen der WHO und ihren Mitgliedsländern, zwischen wissenschaftlichen ExpertInnen und Experten innerhalb und außerhalb der WHO – das die WHO zu einer Schlüsselinstitution der globalen Gesundheitspolitik macht.
Zugleich, und auch das sieht man in der Gegenwart sehr deutlich, lässt sich nicht von der Hand weisen, wie sehr die WHO (wie auch alle anderen internationalen Organisationen) Schauplatz von machtpolitischen Auseinandersetzungen ihrer einflussreichen Mitgliedsstaaten ist. Sie ist selbstverständlich Instrument zur Durchsetzung von Machtpolitik – und nicht nur eine technokratische Gesundheitsverwaltung.
Der Antagonismus zwischen den USA und China ist eingebettet in einen Pandemie-unabhängigen Wettstreit um wirtschaftliche und ideologischen Einflusssphären, inklusive des Einflusses im globalen Süden. Der WHO-Generaldirektor Dr. Tedros sei ein Handlanger der chinesischen Regierung, so der zentrale Vorwurf des amerikanischen Präsidenten und selbst vieler unabhängiger Medien. Sein Herkunftsland – Äthiopien – habe massiv von der ‚Entwicklungszusammenarbeit mit China profitiert, er sei vereinnahmt von den Chinesen, könne es sich deshalb nicht erlauben, die verspätete Transparenz der chinesischen Regierung hinsichtlich des neuartigen SARS-Co-V (CHECK) Virus anzuprangern. Die warmen Worte von Dr. Tedros für die chinesische Regierung im Anschluss an den Besuch einer WHO-Delegation in China am 28. Januar 2020 wurden scharf kritisiert. Und dennoch erklärte er nur zwei Tage später und früher als ursprünglich vorgesehen, den internationalen Gesundheitsnotstand, also die höchste Alarmstufe. WHO-Mitarbeiter haben in Interviews bestätigt, dass dies gegen den Willen der chinesischen Regierung geschehen sei (Interview Gian Luca Burci).
Während wochenlang der Eindruck entstanden ist, in der COVID-19 Pandemie hätten die von ihr besonders betroffenen Staaten ihren Blick nur nach innen gerichtet, Grenzen dicht gemacht, den internationalen Reiseverkehr stillgelegt, internationale Ereignisse wie die Olympischen Spiele, die Fussball EM usw. abgesagt, rückt nun, einmal mehr getriggert von einer 140-Zeichen Botschaft des amerikanischen Präsidenten, die internationale Politik wieder in den Fokus. Und in dieser Hinsicht ist der Konflikt zwischen den USA und der WHO ein Lehrstück der internationalen Beziehungen. Zunächst einmal, weil er uns erneut zeigt, dass Gesundheitspolitik eben weit mehr ist als das bloße ‚Management‘ von Gesundheitsproblemen. Vielmehr ist Gesundheitspolitik im Kontext drohender Epidemien diplomatisch ein sehr schmaler Grat – gerade dann, wenn Epidemien die wirtschaftlichen Beziehungen einzelner Länder (siehe Ebola Ostafrika) und die Entwicklungsfortschritte dieser Länder bedrohen.
Wer internationale Politik beobachtet und analysiert hat, der weiß mit welch vorsichtiger Sprache Vertreterinnnen und Vertreter internationaler Organisationen nach außen kommunizieren, und dass sehr selten einzelne Mitgliedsstaaten von den obersten Verwalterinnen und Verwaltern der internationalen Organisationen an den Pranger gestellt werden. Die augenscheinliche Lobhudelei des WHO-Generaldirektors nach seinem Besuch in China im Januar 2020 ist daher kaum überraschend.
Was ist nun zu erwarten angesichts des sich stetig verschärfenden Tonfalls zwischen einzelnen Ländern und hinsichtlich des Krisenmanagements der WHO? Ist die WHO am Ende, wenn ihr wichtigster Beitragszahler den Geldhahn zudreht? Die Diskussionen der vergangenen Wochen zeigen, dass die Weltgesundheitsorganisation viele Fürsprecher hat – darunter die Bundesregierung – und dass unter diesen schon jetzt mobilisiert wird, um der Organisation, auch finanziell den Rücken zu stärken. Unter den „Freunden und Förderern“ der WHO ist auch die Bill und Melinda Gates Stiftung, eine amerikanische Stiftung, ohne deren Fördermittel nicht nur die WHO sondern praktisch die gesamte globale Gesundheitspolitik seit Jahren nicht mehr überlebensfähig wären. Bill Gates kritisiert seinen Präsidenten scharf für dessen Konfrontationskurs mit der WHO. Es ist also davon auszugehen, dass andere Länder und große Stiftungen die Leerstelle füllen können und wollen, die entstehen, wenn die USA nicht mehr zahlen.
Wir können sicherlich auch damit rechnen, dass die Pandemie an deren Anfang wir jetzt erst stehen und die Regierungen weltweit vor nie dagewesene Herausforderungen und Entscheidungen stellen, zu vermehrten Konflikten über Schuldzuweisungen zwischen Staaten und eben auch zwischen der WHO und ihren Mitgliedsstaaten führen wird. Dennoch ist die WHO ein zentraler Baustein im „Krisenmanagement“, ist ihre technische Hilfe vor Ort und ihre Expertise für Länder des globalen Südens von immensem Wert. Und gerade deshalb, weil sie den kontinuierlichen Austausch – auch über Differenzen und Versäumnisse – zwischen ihren Mitgliedsstaaten ermöglicht wird sie ihre tragende Rolle in der globalen Gesundheitspolitik trotz aller Kritik nicht verlieren.
3 Internationale Beziehungen und Konflikte über die Konturen der globalen Gesundheitspolitik –
In den vergangenen 20 Minuten habe ich über internationale Politik vorwiegend unter dem Aspekt Probleme und Lösungen gesprochen. Also ‚Weltprobleme‘, bei denen internationale Beziehungen in unterschiedlicher Form als ‚unabhängige Variable‘ fungieren, als Ursache globaler Problemlagen wie der aktuellen Pandemie, aber auch als Grundlage für effektive und von allen Ländern der Welt getragene Antworten und ‚Lösungen‘ auf solche Problemlagen.
Nun möchte ich, im letzten Teil, dieser Vorlesung nochmal darauf verweisen, dass politikwissenschaftliche Forschung nicht nur problem- oder lösungsorientiert, sondern eben auch kritische Wissenschaft, die sich essentiell mit Fragen von Macht, Ausgrenzung, globalen Ungleichheiten und, ganz allgemein, mit ‚globaler Gesundheit‘ als umstrittenem Konzept und ‚globaler Gesundheitspolitik‘ als umstrittenem Feld befasst.
Nach mehreren Monaten des nationalen und globalen Ausnahmezustandes und angesichts einer weltumspannenden Krisensituation ungekannten Ausmaßes wissen wir mit Sicherheit eines: die COVID-19 Pandemie ist, wie auch alle Pandemien vor ihr, eine Pandemie der Ungleichheit. Sie trifft Menschen in prekären Lebenssituationen um ein Vielfaches heftiger, sie zeigt uns mit aller Härte, wie viele Menschen weltweit gar kein ‚zuhause‘ haben, in dem sie ‚#stayathome‘ praktizieren könnten, sie zeigt uns, wie viele Schülerinnen und Schüler jenseits von schlecht ausgestatteten Schulen keine Chance mehr auf Bildung haben, geschweige denn auf ein ‚mobiles Endgerät‘. Viele Mädchen in ärmeren Regionen der Welt werden nach COVID-19 mit Sicherheit nicht mehr zur Schule zurückkehren.
Die globalen Ungleichheiten spiegeln sich dabei nicht nur im Zusammenhang zwischen Pandemien und Armut und Ausgrenzung wider – sondern auch darin, ob und auf welche Weise die von den Pandemien besonders betroffenen Gruppen (Frauen, Kinder, Gesundheitspersonal, Minderheiten) am politischen Aushandlungsprozess über Fragen der globalen Gesundheit teilhaben können. Globale Gesundheitspolitik ist daher auch ein Politikfeld, dass reich ist an Kontroversen darüber, welche Probleme, Perspektiven und vor allem Akteurinnen und Akteuren für das Feld relevant sind. Gesundheitskrisen haben dabei immer wieder dazu geführt, die bestehenden Regelungen und Institutionen in Frage zu stellen, das Akteursspektrum auszuweiten und die Institutionen der Weltgesundheit – allen voran die Weltgesundheitsorganisation – zu verändern.
Besonders drastisch haben wir diesen Effekt bei der HIV-Epidemie gesehen, die in den 1990ger und 2000er Jahren die internationale Staatenwelt vor immense Herausforderungen gestellt hat und es bis heute tut. Der Anfang der Epidemie fiel zusammen mit einer historischen Periode, in der nichtstaatliche Organisationen insbesondere im Umwelt-, Menschenrechts- und Entwicklungsbereich sich in einem bislang ungekannten Ausmaß vermehrten und immer stärker für sich beanspruchten, internationale Politik mitzugestalten, als Partner, als Beobachter und auch als Kontrahenten internationaler Organisationen. Die Öffnung auch der Weltgesundheitsorganisation für gesellschaftliche Akteure im Zuge der HIV-Katastrophe brachte demnach auch die Anerkennung einer Vielzahl von ‚stakeholdern‘,mit sich: allen voran die direkt von HIV-betroffenen Menschen, aber auch religiöse Organisationen, Menschenrechtsorganisationen, die für die Rechte von Drogenabhängigen, Homosexuellen und Sexarbeitern kämpften; öffentliche-private Partnerschaften mit Pharmaunternehmen und viele mehr. Die Gesundheitspolitik transformierte sich durch diese Pluralisierung, sie wurde weniger technisch-medizinisch und interdisziplinärer, und damit auch politischer.
Obwohl die Pandemie, von der wir gerade alle auf die vielfältigste Weise betroffen sind, erst einige Monate alt ist, zeigt sich schon jetzt sehr deutlich ein Ungleichgewicht zwischen Betroffenheit und Mitspracherecht im politischen Entscheidungsprozess. Erst vor einigen Tagen konnten wir anhand von konkreten Zahlen lernen, dass unter denjenigen, die sich im Gesundheitssektor mit dem Corona-Virus infiziert hatten, ca. 70 Prozent Frauen sind. Diese sind jedoch nachweislich drastisch unterrepräsentiert unter den politischen Entscheidungsträgern der Stunde, national wie international, ebenso in allen biomedizinischen Fachwissenschaften. Gleiches gilt für junge Menschen, vor allem die unter 18-jährigen, für alte Menschen, für Lohnarbeiterinnen und -arbeiter und Schwarzarbeiter. Globale Gesundheitspolitik von einem kritischen Standpunkt aus zu beleuchten, heißt unter anderem danach zu fragen, warum bestimmte von Gesundheitsproblemen überproportional betroffenen Gruppen im politischen Diskurs keine Stimmen haben. Es heißt also, konkrete Ausgrenzungsmechanismen und Machtasymmetrien in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses zu stellen. Damit einher geht aber nicht nur die Ausgrenzung, die man an der Zusammensetzung von Expertenpanels, Talkshow-Teilnehmern und Regierungsmitgliedern ablesen kann, sondern auch eine erhöhte Sensibilität für die ausgrenzende Funktion von Begrifflichkeiten wie beispielsweise ‚systemrelevant‘ oder den stigmatisierenden Effekt der Kriegs- und Kampfrhetorik, der eben nicht nur auf den Virus sondern auch auf die mit ihm Infizierten gerichtet ist.
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich freue mich, dass Sie bis hierhin zugehört haben und hoffe, dass ich mit dieser Hörprobe Ihr Interesse für die Internationalen Beziehungen geweckt habe, und Sie sich – sollten sie als Studierende der Studiengänge der Politikwissenschaft, der Internationalen Beziehungen, als Lehramtsstudierende und angehende Geographinnen und Geographen sein – auf die Vorlesungsreihe ‚Einführung in die Internationalen Beziehungen‘ freuen. All die Themen, die ich heute hier angerissen und auf die aktuelle Ausnahmesituation, die wir alle erleben angewendet habe, werden Gegenstand der Vorlesung sein: Konflikte über globale Einflusssphären, Macht und Interessenpolitik der ‚great powers‘, der Einfluss von Wissen und Ideen auf internationale Politik, die Forderungen bislang ‚unsichtbarer‘ Akteure der internationalen Politik (Frauen, junge Menschen, Menschen aus dem globalen Süden, Minderheiten, Repräsentanten indigener Gruppen), die Funktion und Transformation internationaler Organisation. Ich würde mich freuen, wenn Sie auch weiterhin dabeibleiben, selbst wenn Sie nicht Studierende der internationalen Politik sind.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, dass Sie trotz der widrigen Umstände einen gelungenen Start ins Sommersemester hatten, dass Sie die Herausforderung der Uni auf Distanz angenommen haben und dieses große universitätsweite und gesamtgesellschaftliche Experiment trotz der vielfältigen Herausforderungen (finanziell, planerisch) als eine Bereicherung empfinden können.
Wir erleben hier gerade eine historisch einzigartige weltumspannende Situation, die weit mehr ist als nur eine ‚Pandemie‘ – wie sehr wir sie tatsächlich gemeinsam erleben oder ob nicht jede und jeder von uns die Auswirkungen der Pandemie auf eine ganz eigene Weise erlebt und verarbeitet, das können wir nur im gemeinsamen Austausch und in der künstlerischen und wissenschaftlichen Verarbeitung der Ereignisse feststellen.
Literaturempfehlungen
Josh Busby (2020), What’s wrong with the war metaphor?, Duck of Minerva, 5.4.2020, verfügbar unter: https://duckofminerva.com/2020/04/whats-wrong-with-the-war-metaphor.html
Adam Kamradt-Scott (2013). The Politics of Medicine and the Global Governance of Pandemic Influenza. International Journal of Health Services, 43(1), S. 105–121.
Theodore M. Brown, Marcos Cueto, Elizabeth Fee (2006) “The World Health Organization and the Transition From “International” to “Global” Public Health”, American Journal of Public Health 96, no. 1 (January 1, 2006): S. 62-72.