18.04.2023
Steile These: Der Forschungsstand wird erst am Ende des Schreibprozesses klar
Wenn man eine wissenschaftliche Arbeit schreibt, scheint das folgende Vorgehen logisch zu sein: Zuerst muss man eine Fragestellung aufstellen und sich Wissen anlesen. Ohne diese Grundlagen fällt es schwer, mit dem Schreiben anzufangen. Um das Wälzen von Literatur kommt man also, gerade zu Beginn des Schreibprozesses, nicht herum. Für die meisten Studierenden bedeutet das, dass sie unzählige Stunden mit Lesen verbringen und erst dann die ersten Sätze ihrer Arbeit tippen, wenn sie das Gefühl haben, den Forschungsstand zu ihrem Thema komplett überblickt zu haben.
Doch genau da liegt der springende Punkt: Ist es überhaupt möglich oder notwendig, den ganzen Forschungsstand zu kennen, bevor man mit dem Schreiben beginnt? Meiner Meinung nach lässt sich diese Frage mit einem klaren Nein beantworten. Ich würde sogar sagen, dass es in vielen Fällen gar nicht möglich ist, den Forschungsstand schon am Anfang zu überblicken, da er erst am Ende des Schreibprozesses wirklich klar wird.
Abhängig von der Textsorte
Nicht für alle Textsorten ist es notwendig, sich bereits am Anfang einen kompletten Überblick über den Forschungsstand zu verschaffen. Bei empirischen Arbeiten muss man zu Beginn wissen, mit welchem Forschungsstand man arbeitet, um dann auf dieser Grundlage Hypothesen aufzustellen und Daten zu sammeln. Anders sieht das aber bei Theoriearbeiten aus. Dabei werden keine eigenen Daten erhoben und ausgewertet. Stattdessen steht die Literaturarbeit im Vordergrund. Ziel ist es beispielsweise Theorien zu einem Thema tiefgehend zu untersuchen oder zu vergleichen.
Otto Kruse bringt das Ziel von Theoriearbeiten in seinem Buch „Keine Angst vor dem leeren Blatt“ auf den Punkt: „Durch Lesen erschließt man sich das Thema und fängt an, es in seinen inneren Bezügen, seiner Geschichte, seinen Verästelungen und Kontroversen zu verstehen. Wenn man das getan hat, versteht man, was der Stand der Forschung ist“ (2007). Das Lesen und die Erarbeitung des Forschungsstands sind in diesem Fall nicht die Voraussetzung, sondern das Ziel der wissenschaftlichen Arbeit. Auch für andere Arten wissenschaftlicher Texte, wie etwa methodische Arbeiten, spielt der Forschungsstand erst später im Schreibprozess eine Rolle. Sich diese Unterschiede bewusst zu machen, kann dabei helfen, mit realistischen Erwartungen an die eigene Literaturrecherche heranzugehen.
Forschungsstand als arbiträre Größe
Aus diesen Gedanken leitet sich ein weiteres Argument ab, das dafürspricht, dass der Forschungsstand oft erst am Ende des Schreibprozesses klar wird: „Der Stand der Forschung ist [...] keine fixierte, sondern eine arbiträre Größe, die jeweils erst auf dem Papier hergestellt wird“ (Kruse, 2007). Es ist also schwer beim Schreiben einer Arbeit festzustellen, an welchem Punkt der Forschungsstand vollständig erfasst wurde, da niemand festlegt, welche der zahlreichen existierenden Theorien und Daten er abschließend umfasst. Man könnte sich also theoretisch bis in alle Ewigkeit in der Recherche zum Forschungsstand verlieren. Schlussendlich trägt sogar die eigene Arbeit etwas dazu bei, ihn zu erweitern.
Es wird also deutlich, dass der Maßstab, zu Beginn des Schreibprozesses den Forschungsstand zu erfassen, utopisch ist. Selbst, wenn die Arbeit fertiggeschrieben ist, ist es in der Regel unmöglich abschließende Aussagen über den Forschungsstand zu einem Thema zu treffen, da er sich kontinuierlich erweitert.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass es für empirische Arbeiten zwar unerlässlich bleibt, sich bereits zu Beginn des Schreibprozesses ein Bild vom Forschungsstand zu machen. Für andere Arten von Texten ist dies aber oft nicht möglich, da sich der Forschungsstand erst im Laufe des Schreibprozesses herauskristallisiert. Fakt ist außerdem, dass der Forschungsstand keine messbare Größe ist und sich daher schwer feststellen lässt, wann wir ihn komplett durchblickt haben.
Was wir uns daraus für zukünftige Arbeiten mitnehmen können? Lesen ist und bleibt ein wesentlicher und unerlässlicher Bestandteil eines jeden wissenschaftlichen Schreibprozesses. Doch vielleicht können die in diesem Text gewonnenen Erkenntnisse etwas Ruhe in unsere Recherchephase bringen. Irgendwann sollten wir bei unserer Recherche einen Schlusspunkt setzen und mit dem eigentlichen Schreiben beginnen – denn wir müssen zu Beginn des Schreibprozesses längst nicht jedes zum Thema veröffentlichte Paper gelesen haben.
Du möchtest mehr zum Thema erfahren?
Hier findest du die Quelle zum Text, in der du dich weiter informieren kannst:
Kruse, Otto (2007): Keine Angst vor dem leeren Blatt. Ohne Schreibblockaden durchs Studium. Frankfurt/Main: Campus Verlag.
Studentische Hilfskraft
NameAnnica Kramer
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Dieser Beitrag erschien anlässlich des Schreibzentrumsnewsletters im April 2023. Diese und weitere Newsletterausgaben sind im Newsletter-Archiv des Schreibzentrums verlinkt.
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