20.06.2023
Steile These: Um einen Text zu schreiben, muss man kein Genie sein.
Mit dem Begriff der Genieästhetik ist die sehr verbreitete Vorstellung gemeint, dass „wahre“ Kunst wie ein Blitz in ausgesuchte Persönlichkeiten einschlägt und diese erleuchtet, um dann durch deren Hände als Gedicht oder Statue in durchwachten Nächten erschaffen zu werden. Es ist eine Vorstellung, die den künstlerischen Schaffensprozess wahnsinnig stark reduziert. Zeit, Planung und Zwischenstufen eines Werkes werden ausgeblendet. Zudem scheint diese Vorstellung nicht auf den Bereich der Kunst begrenzt zu sein.
Wissenschaftliches Schreiben beispielsweise verortet man nicht im Bereich der Kunst. Denn Kunst zeichnet sich für viele ja gerade durch Autonomie und die ausgedrückte Subjektivität aus – damit bräuchte ich dem Betreuer meiner Masterarbeit nicht kommen. Der erwartet eine kühle Argumentation, exakte Beschreibungen, Objektivität und Neutralität und, ganz wichtig: Nachvollziehbarkeit. Dagegen spielt Kunst mit der Uneindeutigkeit. Ein Kunstwerk, das mir Botschaft und Funktion klarzumachen versuche, sei keine gute Kunst mehr, sagen manche.
Kunst und Wissenschaft sind offensichtlich zwei Sphären, die unterschiedlich funktionieren. Und doch haben wir es mit dem Schreibprozess bei wissenschaftlichen Arbeiten mit einem Schaffensprozess zu tun, der auch seine kreative und künstlerische Seite hat. Das Finden der passenden Wörter, die Zusammenstellung der einzelnen Textteile, die Verdeutlichung der Hauptthesen einer Arbeit – all das geschieht im wissenschaftlichen Kontext zwar mit einer klar definierten Funktion und grenzt sich dadurch von der Kunst ab, es ist aber nichtsdestotrotz ein intensiver Umgang mit Sprache; man sitzt da und erschafft Text, man ringt mit Worten. Hier ist die Schnittstelle, an der auf einmal wieder Bilder aus dem Bereich der Kunst aufploppen: Schriftsteller:innen, die nachts wie vom Blitz getroffen ihre Texte runterschreiben, Genieästhetik.
Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass mir in Schreibberatungen nicht selten Ratsuchende mit der Erwartung begegnen, dass ein guter wissenschaftlicher (!) Text doch gefälligst von selbst aufs Blatt zu fließen habe und da er das nicht tue, es keinen Blitz und keine Erleuchtung gebe, könne man bestimmt einfach nicht schreiben.
Die Arbeit als Schreibtutor:in besteht in großen Teilen daraus, die Zwischenschritte von noch nicht fertigen Texten zu beleuchten und über Planung und Organisation des Schreibprozesses zu sprechen (Nein, wir reden nicht darüber, wie man vom Blitz getroffen werden kann). Und damit gehen wir auch gegen das sich hartnäckig haltende Klischee der Genieästhetik vor. Schreiben sei kein Warten auf die Inspiration, sondern vor allem Planung und Organisation, sagte einmal ein TU-Lehrender nach einem Workshop, als er nach einer für ihn wichtigen Erkenntnis über das wissenschaftliche Schreiben gefragt wurde. Ich kann ihm da nur zustimmen. Der Blitz kommt nicht. Schreibkompetenz fliegt nicht ein paar Auserwählten zu, stattdessen kann sie jede:r erwerben.
Schön wäre es, wenn Lehrende als diejenigen, die das wissenschaftliche Schreiben professionell betreiben, den Studierenden regelmäßig ihre eigenen Rohtexte und überarbeiteten Entwürfe in die Seminare mitbringen würden. Einfach, um den angehenden Schreibenden die Prozesshaftigkeit und Zwischenschritte der Textproduktion klar vor Augen zu führen. Aber vielleicht käme das für so manche Forscher:innenpersönlichkeit dem Eingeständnis gleich, gar nicht zu den Auserwählten zu gehören, die regelmäßig vom Blitz getroffen werden. Und möglicherweise ist das für den einen oder die andere ein (zu) schwerer Schritt.
Wissenschaftliche Hilfskraft
NameRobert Bosse
Schreibberatung, Workshops
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Dieser Beitrag erschien anlässlich des Schreibzentrumsnewsletters im Juni 2023. Diese und weitere Newsletterausgaben sind im Newsletter-Archiv des Schreibzentrums verlinkt.
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