07.12.2022
Steile These: Dein Schreibtyp ist abhängig von deiner Schreibaufgabe
Ans Schreiben geht jede:r anders heran. Schreibdidaktiker:innen sprechen deshalb gern von verschiedenen Schreibtypen. Diese unterscheiden sich zum Beispiel dahingehend, dass einige Schreiber:innen von Anfang an sehr strukturierend an ihre Schreibaufgabe herantreten, viel recherchieren, eine Gliederung aufstellen und anschließend einen Punkt nach dem anderen herunterschreiben. Andere hingegen schreiben zunächst drauflos und kristallisieren ihre Struktur und Forschungsdesiderate nach und nach parallel zum Rohtexten heraus. Oder aber man klassifiziert sogenannte Patchwork- und Mehrversionenschreiber:innen, die nach Lust und Laune an unterschiedlichen Textteilen schreiben beziehungsweise mehrere Versionen desselben Textabschnitts verfassen.
Ich bin der Meinung, dass unsere Tendenz zu dem einen oder anderen Schreibtyp wandelbar ist und stark von der jeweiligen Schreibaufgabe abhängt. Klingt unlogisch? Ist es nicht.
Einigen wir uns darauf, dass jeder Mensch gewisse chaotische beziehungsweise strukturierte Grundtendenzen hat – und dass die wenigsten zu hundert Prozent spontan oder durchorganisiert sind, sondern Mischtypen. Von welcher Seite wir uns zeigen und wie wir handeln, hängt nicht zuletzt von der Situation oder Aufgabe ab, mit der wir konfrontiert werden. Wenn das grundsätzlich auf jeden Lebensbereich zutrifft, müsste das doch auch für Schreibprojekte gelten, oder?
Und das ist der Punkt, denn Schreibprojekt ist nicht gleich Schreibprojekt. Ich erinnere mich zum Beispiel, wie strukturiert und durchgeplant ich an meine ersten Schreibprojekte herangegangen bin, kleine Hausarbeiten von 5 bis 10 Seiten. Bevor ich auch nur einen Satz geschrieben hatte, wusste ich bereits detailliert, welche Informationen ich in welchem Kapitel in welcher Reihenfolge anbringen wollte. Typisch Strukturfolgerin eben. Das ist aber für einen zehnseitigen Text auch nicht besonders schwer. Spulen wir vor zu meinen Abschlussarbeiten: Das Strukturfolgen fühlte sich erzwungen an, übergestülpt von meinen Betreuer:innen, die eine Gliederung und ein Exposé von mir sehen wollten, damit ich die Arbeit anmelden könnte. Statt die gefühltermaßen aus den Fingern gesogenen Gliederungen abzuarbeiten, hätte ich lieber die Freiheit gehabt, mit strukturschafferischem Rebellengeist parallel schreib-recherchier-strukturierend die Tiefe der Themen auszuloten. Kompensiert habe ich das beim Schreiben durch wildes zwischen-den-Kapiteln-springen sowie ausufernde Exkurse an den äußeren Außenrändern des Untersuchungsgegenstandes.
Die Anekdötchen einer Geisteswissenschaftlerin sind zugegebenermaßen nicht der Maßstab der Dinge. Also zurück auf die hypothetische Sachebene.
Der eigene Schreibtyp ist von vielen Faktoren abhängig
Halten wir fest, dass der Umfang eines Textes dazu führen kann, dass wir uns ihm anders als gewöhnlich nähern. Möglicherweise entdeckt ein strukturliebender Mensch bei großen Schreibaufgaben seine chaotischen Tendenzen, während ein:e Drauflosschreiber:in beschließt, es sei besser, sich im Voraus Gliederungsstrukturen zu erarbeiten.
Doch auch die eigene Motivation und innere Haltung zum Thema haben einen starken Einfluss. Zum Beispiel verleitet ein besonders lästiges Kapitel dazu, bei jeder Schreibsession an einer anderen Stelle weiterzuarbeiten, und wem der:die innere Kritiker:in gerade heftig im Nacken sitzt, mag Sätze, Absätze und vielleicht sogar ganze Kapitel mehrmals neu schreiben, obwohl das für die betreffende Person eigentlich untypisch ist.
Ein weiterer Einflussfaktor ist der Inhalt des betreffenden Textes. Für eine Arbeit mit theoretischem Fokus fällt es möglicherweise sehr leicht, strukturiert vorzugehen, weil sich die einzelnen Aspekte und Ergebnisse bereits in der Recherche und Literaturarbeit herauskristallisieren. Wer dagegen mit Datensätzen oder selbständig erarbeiteten Systemen, Modellen und Versuchsreihen arbeitet, weiß unter Umständen bis weit in den Schreib- und Arbeitsprozess hinein nicht, welche Ergebnisse ihn oder sie erwarten. Der Charakter einer Textsorte mag auch unser Selbstverständnis als Schreiber:in trügen: Wer oft technische Texte mit IMRaD-Aufbau1 schreibt, sieht seine strukturierende Seite gefördert, wer dagegen kreative Texte oder Essays schreibt, wird eher zum Drauflosschreiben ermuntert.
Welches Fazit lässt sich daraus ziehen? Der eigene Schreibtyp ist von vielen Faktoren abhängig und wandelt sich je nach Schreibaufgabe, Schreibumgebung und nicht zuletzt der persönlichen Schreiberfahrung. Das hat eigentlich nur Vorteile, schließlich hat jede Herangehensweise gewisse Vorzüge. Wer sich auf seine multiplen Schreibpersönlichkeiten einlässt, statt sie zu unterdrücken, bleibt flexibel und kann seinen Schreib- und Arbeitsprozess auf lange Sicht optimieren.
1IMRaD bezeichnet eine in den MINT- und Ingenieurswissenschaften übliche Gliederungsstruktur wissenschaftlicher Texte. Die Abkürzung steht für „Introduction, Method, Results and Discussion“.
Du möchtest mehr zum Thema Schreibtypen und Schreibstrategien erfahren?
Hier findest du eine Auswahl an Literatur:
Bräuer, Gerd (2009): Schreiben. In: Gerd Bräuer SCRIPTORIUM. Ways of Interacting With Writers and Readers. A Professioal Development Program. Freiburg i. Brsg.: Fillibach. S. 57–70.
Girgensohn, Katrin (2007): Schreibstrategien beim Stationen Lernen erweitern. Arbeitsmaterial für individualisierte Lernformen in Schreibseminaren.
[http://www.zeitschrift-schreiben.eu/cgi-bin/blog/wp-content/uploads/2007/11/girgensohn_schreibstrategien-beim-stationen-lernen-erweitern.pdf; Mar 22, 2011].
Ortner, Hanspeter (2000): Schreiben und Denken. Tübingen: Niemeyer. (= Reihe Germanistische Linguistik 214).
Referentin für Schreibdidaktik
NameSharon Király
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Dieser Beitrag erschien anlässlich des Schreibzentrumsnewsletters im Dezember 2022. Diese und weitere Newsletterausgaben sind im Newsletter-Archiv des Schreibzentrums verlinkt.
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Das Schreibzentrum der TU Dresden (SZD) unterstützt Studierende und Lehrende mit Angeboten zum Planen und Schreiben verschiedener Texte im Studium wie Belege, Protokolle, Seminar- und Abschlussarbeiten und zur Vermittlung des akademischen Schreibens in Lehre und Betreuung. Alle Informationen zu Angeboten und Möglichkeiten der Unterstützung sind in den Bereichen für Studierende und Lehrende zu finden.