22.06.2021
Auf die Plätze, fertig, los: Wie Axolotl-Stammzellen sich für Rückenmarksreparaturen synchronisieren
Nur wenige Tiere können ihr Rückenmark nach einer Verletzung regenerieren. Der in Mexiko beheimatete Schwanzlurch Axolotl besitzt die Fähigkeit, Stammzellen in seinem Rückenmark zu mobilisieren, um verlorenes Gewebe nachwachsen zu lassen. Ein internationales Team von Wissenschaftler:innen des argentinischen National Scientific and Technical Research Council (CONICET), des Research Institute of Molecular Pathology (IMP) in Österreich und der Technischen Universität Dresden in Deutschland untersuchte die frühen Stadien dieses Vorgangs und fand heraus, dass sich die Stammzellen für Regenerationsprozesse über erstaunlich weite Strecken synchronisieren. Ihre Ergebnisse wurden nun auf der Online-Plattform der Fachzeitschrift eLife veröffentlicht.
Als wichtiger Bestandteil unseres zentralen Nervensystems verbindet das Rückenmark das Gehirn mit dem Rest des Körpers und spielt eine entscheidende Rolle bei der Koordinierung unserer Empfindungen mit unseren Handlungen. Stürze, Gewalt, Krankheiten – verschiedene Formen von Traumata können das Rückenmark irreversibel schädigen und zu Lähmungen, manchmal sogar zum Tod führen. Die meisten Wirbeltiere, einschließlich Menschen, können sich von einer Rückenmarksverletzung nicht erholen. Der Axolotl (Ambystoma mexicanum), ein mexikanischer Schwanzlurch, besitzt jedoch die bemerkenswerte Fähigkeit, sein Rückenmark nach einer Verletzung zu regenerieren. Bei einer Amputation seines Schwanzes, rekrutiert der Axolotl neurale Stammzellen im Rückenmark, um seinen fehlenden Schwanz wieder aufzubauen. Bislang konnten Forschende diese Aktivität erst einige Tage nach Beginn des Prozesses nachweisen.
"Vier Tage nach der Amputation teilen sich die Stammzellen im Umkreis von etwa einem Millimeter um die Verletzung dreimal so schnell wie normal, um das Rückenmark zu regenerieren und verlorene Neuronen zu ersetzen", erklärt Emanuel Cura Costa, Doktorand aus dem Labor von Osvaldo Chara (SysBio) am Institute of Physics of Liquids and Biological Systems (IFLySIB) und Koautor der Studie. "Was die Stammzellen in den ersten vier Tagen nach der Verletzung tun, war das eigentliche Rätsel."
Für ein besseres Verständnis darüber, was in den ersten Momenten der Rückenmarksregeneration passiert, haben Forschende des CONICET, des IMP und der TU Dresden zusammengearbeitet, um den Prozess in einem mathematischen Modell nachzubilden und dessen Vorhersagen im Axolotl-Gewebe mit den neuesten Bildgebungstechnologien zu testen. Ihre nun in der Fachzeitschrift eLife veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass neurale Stammzellen ihre Zellzyklen in einer hochsynchronisierten Weise beschleunigen, wobei sich die Aktivierung entlang des Rückenmarks ausbreitet.
Regeneration im Gleichschritt: Zellen folgen dem Tempo
Im unverletzten Rückenmark vermehren sich die Zellen asynchron: Einige replizieren aktiv ihre DNA, bevor sie sich in zwei Zellen teilen, um das Wachstum aufrechtzuerhalten, während andere einfach ruhen. Das von den Forschenden für ihre Untersuchungen entwickelte mathematische Modell prognostizierte, dass sich dies bei einer Verletzung dramatisch ändern könnte: Die meisten Zellen in der Nähe der Verletzung würden in ein bestimmtes Stadium des Zellzyklus springen, um sich zu synchronisieren und sich – quasi im Gleichschritt – zu vermehren.
"Wir haben ein Werkzeug entwickelt, um einzelne Zellen im wachsenden Rückenmark des Axolotls zu verfolgen. Verschiedene Farben kennzeichnen ruhende und aktive Zellen, wodurch wir mit dem Mikroskop erkennen, wie weit und wie schnell die Zellproliferation stattfindet", so Leo Otsuki, Postdoc aus dem Labor von Elly Tanaka am IMP und Koautor der Studie. "Die Übereinstimmung zwischen den theoretischen Vorhersagen und unseren experimentellen Ergebnissen haben uns sehr begeistert."
Die Art und Weise, wie Zellen sich im regenerierenden Rückenmark im Chor vermehren, ist bei diesen Tieren außergewöhnlich. Wie können Zellen ihre Anstrengungen über fast einen Millimeter – also das 50-fache einer einzelnen Zelle – aufeinander abstimmen?
Ein geheimnisvolles Signal koordiniert die Regeneration
"Unser Modell brachte uns zu dem Schluss, dass es ein oder mehrere Signale geben muss, die sich von der Verletzung wie eine Welle durch das Gewebe ausbreiten, sodass sich der Bereich der proliferierenden Zellen ausdehnt. Dieses Signal könnte wie ein Botenstoff wirken und die Stammzellen anweisen, sich zu vermehren", erklärt der Leiter der Studie Osvaldo Chara, Wissenschaftler am CONICET, Gruppenleiter von SysBio am IFLySIB und Gastprofessor am Zentrum für Informationsdienste und Hochleistungsrechnen (ZIH) der Technischen Universität Dresden.
Die Forscher:innen vermuten, dass dieser geheimnisvolle Botenstoff dabei hilft, Stammzellen so umzuprogrammieren, dass sie sich schneller teilen um amputiertes Gewebe nachwachsen zu lassen. Ihre Erkenntnisse lokalisieren das Signal in Raum und Zeit und ebnen den Weg, es weiter zu charakterisieren.
"Die Kombination mathematischer Modelle mit unserer Expertise in der Gewebebildgebung war der Schlüssel für das Verständnis, wie Rückenmark sich zu regenerieren beginnt", sagt Elly Tanaka, leitende Wissenschaftlerin am IMP. "Der nächste Schritt besteht darin, die Moleküle zu identifizieren, die die Regeneration des Rückenmarks fördern – dies birgt ein enormes therapeutisches Potenzial für Patienten mit Rückenmarksverletzungen."
Veröffentlichung
Cura Costa, E., Otsuki, L., Rodrigo Albors, A., Tanaka, E. M., Chara, O.: “Spatiotemporal control of cell cycle acceleration during axolotl spinal cord regeneration”. eLife, 15 June 2021. DOI: https://doi.org/10.7554/eLife.55665.
Abbildungen
Die Abbildung zu dieser Pressemitteilung sowie weitere Abbildungen und Videos stehen auf der IMP-Website unter www.imp.ac.at/supplements zum Download zur Verfügung.
Research Institute of Molecular Pathology (IMP)
Das IMP ist ein Grundlagenforschungsinstitut der Lebenswissenschaften in Wien, es wird maßgeblich gesponsert von Boehringer Ingelheim. Mit mehr als 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 40 Ländern widmet sich das IMP der wissenschaftlichen Erforschung grundlegender molekularer und zellulärer Mechanismen, die komplexen biologischen Phänomenen zugrunde liegen. Das IMP ist Teil des Vienna BioCenters, eines der dynamischsten Life-Science-Zentren Europas mit 2.000 Beschäftigten aus 70 Ländern in vier Forschungsinstituten, drei Universitäten und fast 40 Biotech-Unternehmen.
www.imp.ac.at, www.viennabiocenter.org
National Scientific and Technical Research Council (CONICET)
CONICET ist die wichtigste Behörde zur Förderung von Wissenschaft und Technologie in Argentinien. Derzeit umfasst der Verband mehr als 10.000 Forschende, 11.000 Doktorand:innen und Postdoktorand:innen, 2.600 technische Beschäftigte und professionelles Hilfspersonal sowie 1.500 Verwaltungsangestellte. Sie alle arbeiten in 15 wissenschaftlichen und technologischen Zentren (CCT), 11 Forschungs- und Transferzentren (CIT), einem multidisziplinären Forschungszentrum und mehr als 280 Instituten und exklusiven CONICET-Zentren im ganzen Land – im Rahmen nationaler Universitäten und weiterer Einrichtungen.
https://www.conicet.gov.ar/
Zentrum für Informationsdienste und Hochleistungsrechnen (ZIH) der TU Dresden
Die TU Dresden ist mit mehr als 31.000 Studierenden eine der größten technischen Universitäten in Deutschland. Seit 2012 ist sie eine der elf deutschen Exzellenzuniversitäten. Zu ihren fünf Forschungsschwerpunkten gehört das Bioengineering. Das ZIH ist das universitäre IT-Zentrum und das Kompetenzzentrum für High Performance Computing (HPC) der TU Dresden und des Landes Sachsen. Seit 2021 ist es eines von acht nationalen Zentren für HPC und bietet damit seine Dienste akademischen Nutzern aus ganz Deutschland an. Ein wichtiger Aspekt der Forschungsarbeit am ZIH ist die Entwicklung von Algorithmen zur Modellierung der biologischen Prozesse in Zellen. Die ZIH-Abteilung Innovative Methoden des Computing fokussiert die Entwicklung innovativer mathematischer Modelle und Simulationswerkzeuge zur Erfassung von Organisationsprinzipien ausgewählter biologischer Systeme.
https://tu-dresden.de/zih/
Informationen für Journalisten:
Jacqueline Papperitz
Projektkoordination/Öffentlichkeitsarbeit
Technische Universität Dresden
Zentrum für Informationsdienste und
Hochleistungsrechnen (ZIH)
Tel.: +49 351 463-32431