Sep 08, 2020
Die Universität reproduziert eine sehr spezifische Sicht auf die Welt
TUD-Experten befragt: Wie der Soziologe Felix Schilk die Entwicklung der politischen Links-Rechts-Orientierungsschemata sieht
In den vergangenen vier, fünf Jahren scheint es im öffentlichen Klima immer üblicher geworden zu sein, politisch Andersdenkende oder gar politische Gegner durch den Vorwurf, ein Linker oder – gegenteilig – ein Rechter zu sein, zu diffamieren und somit inhaltliche Auseinandersetzungen durch symbolische Polarisierung zu ersetzen. So kreiert etwa Donald Trump »linke« Feindbilder und bringt diese mit Plünderung und Gewalt zusammen. Andererseits müssen sich hierzulande manchmal Menschen, die beispielsweise die Energiewende oder auch eine betont fahrradfreundliche Verkehrspolitik kritisch sehen, gegen den Vorwurf erwehren, »rechts« zu sein. Das UJ befragte Felix Schilk, Promovend an der Professur für Soziologische Theorien und Kultursoziologie der TU Dresden und am SFB 1285 »Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung«.
UJ: Eigentlich entstammen die politischen Positionsbestimmungen »links« / »rechts« anderen, historischen Zusammenhängen und haben etwas mit der früheren Sitzordnung im Parlament zu tun, oder?
Felix Schilk: Die Begriffe gehen ursprünglich auf die Sitzordnung in der Französischen Nationalversammlung von 1789 zurück. Links saßen die republikanischen Anhänger der Revolution, rechts die Verteidiger der Monarchie und des Ancien Régime. Diese bipolare Aufteilung hat sich schließlich etabliert, um politische Richtungen der Neuzeit und ihre Gesellschaftsvorstellungen voneinander abzugrenzen. Laut dem italienischen Politologen Norberto Bobbio gibt es ein wesentliches Unterscheidungskriterium; und zwar das Verständnis von Gleichheit und Ungleichheit. Linke Politik geht davon aus, dass Ungleichheit ein Produkt gesellschaftlicher Umstände ist und proklamiert Gleichheit als Ziel, während rechte Politik die Gesellschaft von einer vermeintlich naturgegebenen Ungleichheit der Menschen her denkt. Das ist aber nicht nur eine Frage des Menschenbildes, sondern auch Ausdruck von unterschiedlichen sozialen Interessen und Positionen. Unsere Gesellschaften sind als hierarchisches Feld strukturiert. Wer eine privilegierte Feldposition hat, legitimiert diese Ordnung durch die Naturalisierung von sozialer Ungleichheit. Wer zu den Privilegienlosen gehört, stellt die Legitimität dieser Ordnung infrage, indem er oder sie sich auf die Gleichheit der Menschen beruft. Kurz gesagt: Rechte Positionen findet man eher bei alten Eliten, die ihre Privilegien nach unten verteidigen, linke Positionen eher bei aufwärtsmobilen sozialen Gruppen, die die Privilegien von etablierten Milieus infrage stellen.
Häufig werden »Rechte« auch als »Konservative« bezeichnet und vice versa. Woher kommt dieser Begriff?
Vom Wortstamm her heißt »konservativ« bewahren. Ironischerweise war es zuerst Napoleon, der die revolutionären Errungenschaften bewahren wollte und sich 1799 den »konservativen Ideen« verschrieb. Erst nach 1814 tauchte der Begriff des Konservatismus als Selbstbezeichnung der reaktionären Kräfte auf, zuerst in Frankreich, dann in England und später auch als Neologismus in der deutschen Sprache. Reaktionär heißt hier, dass sich diese Kräfte als Reaktion auf die revolutionären Veränderungen verstanden, die sie wieder zurückdrängen wollten. Der Gegenbegriff dazu ist »progressiv« und meint, dass man sich im Einklang mit einem relativ linear gedachten sozialen und historischen Fortschritt versteht. Daher spricht man häufig von einem »linken« und »progressiven« Lager und einem »rechten«, »konservativen« oder »reaktionären« Lager. Zentral für diese Unterscheidung ist neben der Betonung von Gleichheit oder Ungleichheit und dem verschiedenen Bezug auf die Idee des »Fortschritts« das Verhältnis zu den bestehenden Institutionen. Rechte sind ordnungsfixiert und befürchten, dass die Infragestellung von Institutionen, Handlungsroutinen oder Werten und Normen zu Chaos und Ungewissheit führt. Linke sind dagegen der Ansicht, dass das Bestehende besser und gerechter gemacht werden kann. In diesem Sinne sagt etwa der Soziologe Niklas Luhmann: »Wer für irgend etwas ist, was als Herrschaft oder herrschend bezeichnet werden kann, ist konservativ. Wer emanzipieren möchte, ist – auch und gerade wenn er dies anderen antun will – progressiv.«
Würden Sie die CDU und CSU als eher rechte Parteien einordnen?
Das entspräche ihrem Selbstverständnis und auch ihrem Elektorat, wobei die CDU als Volkspartei natürlich ganz unterschiedliche politische Milieus zusammenbringen muss. Wenn wir uns aber ganz konkret die Steuerpolitik oder die Bildungspolitik anschauen, dann sehen wir, dass sie an Ideen von »Elite« und »Leistung« orientiert ist und Forderungen nach Umverteilung und Benachteiligungsausgleich ablehnend gegenübersteht.
Welche Rolle spielte die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg? Die Eigenzuschreibung »rechts« wurde dann sicher vermieden, oder? Politische Parteien, die nach bisherigem Verständnis als »rechts« gelten würden, meinten, sie seien die Mitte.
Das ist vor allem eine Besonderheit der BRD. Nach dem Nationalsozialismus waren Selbstpositionierungen auf der rechten Seite des politischen Spektrums zunächst diskreditiert und verdächtig. Deshalb hat sich die CDU in ihren Anfangsjahren gescheut, sich als »konservative« Partei zu bezeichnen. Andererseits gab es den notorischen Antikommunismus, der alle »linken« Positionen unter Generalverdacht gestellt hat. In keinem anderen Land ist die »Mitte« deshalb symbolisch derart aufgeladen wie in der BRD. Es war dann eine relativ erfolgreiche Strategie der großen Parteien, die eigenen Inhalte als Positionen der »Mitte« zu kommunizieren und die politischen Gegner der Radikalität zu bezichtigen. Wenn heute das Argument auftaucht, dass das, was man sagt, früher ganz »normale« Positionen der politischen »Mitte« waren, sind wir wieder mittendrin in diesem Kampf um symbolische Besetzung. »Mitte« klingt nach Maß und Normalität, entsprechend verortet sich der Großteil der Bevölkerung in der sozialen »Mitte«. Zugleich macht das Symbol der Mitte die Realität der Klassengesellschaft unsichtbar. Kürzlich hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie zur Vermögensverteilung in Deutschland vorgelegt, die zeigt, dass eine Hälfte der Bevölkerung über 98 Prozent des Vermögens besitzt und die andere Hälfte faktisch nichts. Von daher sollte man besser skeptisch sein, wenn sich politische Akteure auf eine vermeintliche »Mitte« berufen.
Wie sieht es mit Positionen zur Energie- und Verkehrswende aus? Mitunter wird das differenzierte Eintreten für Kernkraft oder den Verbrennungsmotor als »rechts« bezeichnet. Werden die politischen Begriffe nicht auch als Kampfmittel gebraucht?
Zunächst einmal ist das ja eine Markierung, die eine Verortung im politischen Feld ermöglicht. Das mag eindimensional und unterkomplex sein, ist aber die Voraussetzung für Lager- und Koalitionsbildung, ohne die unser politisches System vermutlich nicht funktionieren würde. »Rechts« ist am Eintreten für Kernkraft oder den Verbrennungsmotor, dass man damit die Interessen etablierter Industrien und Lobbygruppen bedient, deren Profite nun durch den sozialen und technischen Wandel bedroht sind. Wenn Sie wollen, können Sie hier eine Analogie zum sozialen Feld aufmachen und auf die Interessen von »alten« Industrien und »neuen« Industrien übertragen. Dann wären »rechts« und »links« erstmal keine moralischen, sondern analytische Kategorien, die uns helfen, soziale Interessenkonflikte zu beschreiben. Andererseits gibt es typische argumentative Figuren und rhetorische Kniffe, die wir auf einer Links-Rechts-Skala verorten können. Der Verweis auf den »gesunden Menschenverstand« oder der Vorwurf, der politische Gegner argumentiere »ideologisch«, sind dezidiert »rechte« Figuren, während etwa der Hinweis auf Vorurteile oder stereotype Sprechweisen typisch »links« ist.
In den letzten Jahren taucht immer öfter der Begriff »neurechts« auf, um politische Positionen zu charakterisieren. Was hat es damit auf sich?
»Neue Rechte« ist eine Selbstbezeichnung außerparlamentarischer Gruppen, die Ende der 1960er-Jahre entstanden sind und offensiv rechte Positionen rehabilitieren wollen. Heute wird die Neue Rechte vor allem auf ihren Rassismus und völkisches Denken reduziert, aber im Kern geht es ihr um einen strikten Antiliberalismus, die Infragestellung der Westbindung und ein elitäres und hierarchisches Gesellschaftsbild. Politisch reagiert die Neue Rechte auf den Strukturwandel der Industriegesellschaften in den 1960er-Jahren und hat erkannt, dass zur erfolgreichen Durchsetzung von Gesellschaftsprojekten die langfristige Verankerung in sozialen Milieus und die Prägung von Mentalitäten notwendig ist. Mit Verweis auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci spricht sie von »Kultureller Hegemonie« und »Metapolitik«. Metapolitik beschreibt die Idee, durch taktische Kommunikation und die Diskreditierung der politischen Gegner den Bereich des öffentlich Sag- und Denkbaren zu verschieben, wie Sie das eingangs für Trump beschrieben haben. Dazu gehören die Umdeutung und Instrumentalisierung von Begriffen wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Toleranz. Akteuren der Neuen Rechten geht es nicht um Beteiligung an öffentlichen Diskussionen, sondern um strategische Positionierung. Daher fällt es uns häufig so schwer, ihnen in öffentlichen Auseinandersetzungen zu begegnen.
Aber ist das nicht auch ein normaler politischer Prozess? Wo sehen Sie darin eine Bedrohung der Demokratie?
Die Neue Rechte stellt fundamentale Prinzipien der liberalen Demokratie infrage, etwa die Gleichheit aller Menschen, die Gewaltenteilung, den Minderheitenschutz und generell die Idee, dass sich Autorität rechtfertigen muss und gesellschaftlich kontrolliert wird. In der AfD, wo es starke Verbindungen zur Neuen Rechten gibt, werden von prominenten Mitgliedern Forderungen erhoben, das allgemeine Wahlreicht aufzugeben und zu einem Zensuswahlrecht zurückzukehren. Rechte Parteien, das sehen wir weltweit, haben ein gutes Gespür für Machterhalt und nutzen in der Regel alle Mechanismen, um die Opposition zu schwächen. Ein fairer politischer Wettbewerb wird dann unmöglich.
In welchem Maße haben wir die Polarisierung des öffentlichen Klimas und den offenbar zunehmenden Verzicht auf faire geistige Auseinandersetzungen auch den Verlockungen der »sozialen Medien« zu verdanken?
Ohne die vermittelnde Funktion der Medien würde eine komplexe Gesellschaft gar nicht funktionieren. In diesem Sinne hat Niklas Luhmann gesagt: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« Und die sozialen Medien tragen heute sicherlich ihren Teil dazu bei. Was die Polarisierung betrifft, so ist das gar kein neues Phänomen. Seit den Individualisierungsprozessen und dem Wertewandel der 1960er-Jahre erfolgt die politische Kommunikation zunehmend zielgruppenspezifisch. Politische Akteure orientieren sich an Ergebnissen der Wahlforschung und »framen« ihre Begriffe entsprechend. Jürgen Habermas hat deshalb schon 1962 einen »Zerfall der Öffentlichkeit« konstatiert und der Historiker Christopher Lasch wenig später vor der Entstehung von »Filterblasen« gewarnt. Die sozialen Medien beschleunigen vielleicht diesen Prozess, aber sie sind doch eher ein Symptom als seine Ursache.
Immer mal wird die Seriosität oder Objektivität politischer oder historischer Aussagen mit der Bemerkung angefochten, sie stammten von einem Verschwörungstheoretiker. Wann sind diese Vorwürfe gerechtfertigt?
Eine Verschwörungstheorie ist die Erklärung von Ereignissen durch das geheime Handeln und die bösen Absichten von Elitegruppen. Je nachdem, wie irrational die Erklärung und wie absolut der Erklärungsanspruch ist, kann man Hypothesen, Ideologien und Wahn unterscheiden. Wird für ein konkretes Ereignis die Möglichkeit einer Verschwörung in Betracht gezogen, handelt es sich um eine Hypothese. Die kann durchaus zutreffend sein, wie wir beispielsweise in der Watergate-Affäre gesehen haben. Wird jedoch eine Vielzahl von Ereignissen oder gar die ganze Weltgeschichte auf das Wirken von bösen Mächten zurückgeführt, dann liegt ein verschwörungsideologisches Weltbild vor, das schnell wahnhafte Züge annimmt. In diesem Fall wird man immer auch auf antisemitische Muster stoßen, weil der moderne Antisemitismus von der Idee einer jüdischen Weltverschwörung ausgeht und über Jahrhunderte stereotype Deutungsraster entwickelt hat, an die Verschwörungstheorien strukturell anschließen.
Hat die Verbreitung von Verschwörungsideologien etwas mit der Sehnsucht sehr vieler Menschen nach einfachen Erklärungen und Lösungen zu tun?
Eher mit der Suche nach Zusammenhängen und Erklärungen. Darin sind sie der Wissenschaft durchaus verwandt, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« über den Mythos sagen: »Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.« Mythen und Verschwörungsideologien sind Reaktionen auf Ohnmachtserfahrungen in einer komplexen Welt. Indem sie Kausalitäten suggerieren, geben sie ein Stück Handlungsmacht zurück. Davon zu unterscheiden ist ihre Identitätsfunktion. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, dünkt sich häufig im Besitz eines besonderen Wissens, das ihn gegenüber anderen Menschen aufwertet. Die Infragestellung von Verschwörungstheorien erleben diese Personen dann als schmerzhaften Angriff auf ihre eigene Person und ihr konstruiertes Selbstbild. Daher wird jede Kritik häufig so aggressiv abgewehrt und jede argumentative Verrenkung genutzt. Es geht dann weniger um die Sache, sondern um Selbstbehauptung und Aufrechterhaltung der eigenen Identität.
Welche Möglichkeiten haben die Wissenschaften, etwa die Politologie und die Soziologie, ideologisches Denken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zugunsten von kritisch wissensbasiertem Denken zurückzudrängen?
Die strikte Trennung von Wissenschaft und Ideologie würde ich zunächst einmal infrage stellen. In der Wissenschaft geht es ja nicht nur um Erkenntnisfortschritte, sondern um Erfolg und Sichtbarkeit in einem äußerst kompetitiven Feld. Daher betreiben wir alle auch Wissenschaftspolitik. Dabei spielen außerwissenschaftliche Interessen, Karriereambitionen und ein gewisser Konformismus eine Rolle. Durch die Rekrutierung ihres Personals reproduziert die Universität außerdem eine sehr spezifische Sicht auf die Welt. Etwa 90 Prozent der Lehrstühle sind durch Akademikerkinder besetzt. Ideologisch wäre es, den Einfluss dieser Faktoren zu leugnen und zu denken, dass hier einfach nur objektive Wissensproduktion passiert. Letztendlich ist die entscheidende Frage, mit wieviel Selbstreflexion Wissenschaft betrieben und kommuniziert wird. Das Gegenteil von ideologisch ist nämlich nicht wissensbasiert, sondern erfahrungsoffen.
Die Fragen stellte Mathias Bäumel.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 13/2020 vom 8. September 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.