04.06.2021
Epidemie-Explosion trotz sorgfältiger Tests?
Ein Team von Physikern am Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) und am Center for Advancing Electronics Dresden (cfaed / Technische Universität Dresden) hat herausgefunden, dass schon kleine Unterschiede im Maßnahmenpaket gegen Epidemien einen rapiden Anstieg der Infektionszahlen verursachen können. In ihrer Studie konnten die Wissenschaftler zeigen, dass Beschränkungen bei verfügbaren Testkapazitäten und der Kontaktverfolgung für plötzliche Sprünge im Epidemieverlauf verantwortlich sein können. Testen gefolgt von einem systematischen Verfolgen der Infektionskette ist bei der Bekämpfung von Epidemien äußerst effizient – sobald aber die Testkapazitäten erschöpft sind, beschleunigt sich die Epidemie zu einer exponentiellen Ausbreitung, die noch schneller voranschreitet, als sie es ohne jegliche Tests tun würde. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Der Physiker Prof. Björn Hof am IST Austria, dessen Gruppe sich auf Flüssigkeiten und turbulente Strömungen spezialisiert hat, ist mit seinem Team und in Zusammenarbeit mit Prof. Marc Timme, Professor für Netzwerkdynamik am cfaed / TU Dresden, unerwartet tief in die Pandemieforschung vorgedrungen. Als Hof Anfang letzten Jahres seinen geplanten Besuch in Wuhan (China) aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie absagen musste, war sein Interesse an der Ausbreitung von Epidemien geweckt. „Meine Gruppe untersucht normalerweise turbulente Strömungen in Rohren und Kanälen“, erklärt er. „In den letzten 10 Jahren haben wir gelernt, das Auftreten von Strömungsturbulenzen mit statistischen Modellen zu beschreiben, die gleichermaßen zur Beschreibung von Waldbränden und Epidemien verwendet werden.“ Angesichts der Erfahrung war die Programmierung eines Epidemiemodells für Dr. Burak Budanur, den Theoretiker und Computerexperten der Gruppe, eine naheliegende Aufgabe.
Die Epidemiekurve flacht nicht ab, sie bricht zusammen
Modellierungen von Epidemien legen nahe, dass die Stärke der Vorkehrungen einen kontinuierlichen Effekt auf das Maximum der Ausbreitungszahlen hat. „Die Erwartung ist, dass die Kurve gemäß dem Grad der sozialen Distanzierung abflacht“, sagt Davide Scarselli, Erstautor der Arbeit. Als er jedoch die Epidemie simulierte und dabei gezielt die endlichen Ressourcen bei Testungen und Kontaktverfolgung berücksichtigte, ergab sich ein ganz anderes Bild. Das Maximum der infizierten Personen nahm zunächst wie erwartet ab, brach dann aber plötzlich auf fast null zusammen, als die Eindämmung einen bestimmten Schwellenwert überschritt. In einem Fall infizierte sich etwa die Hälfte der Menschen während der Epidemie. In dem anderen Fall erkrankten nur drei Prozent. Überraschenderweise war es unmöglich, ein Ergebnis zwischen diesen beiden Ergebnissen zu erhalten: Entweder gibt es einen Ausbruch von beträchtlicher Größe, oder es gibt fast gar keinen.
„Das bedeutet umgekehrt auch, dass eine kleine Erhöhung der Infektionsparameter nach einer sehr schwachen Ausbreitung plötzlich zu einer Explosion der Fallzahlen führen kann, sobald die Testkapazitäten ausgeschöpft sind.“ so Prof. Marc Timme. Timme, Experte für die selbstorganisierte nichtlineare Dynamik vernetzter Systeme, hat das Team ergänzt, nachdem zunächst unklar war, welchen Einfluss die Struktur der Übertragungsnetzwerke haben kann.
Misserfolg führt zu überexponentiellem Wachstum
Das Testen von bekannten Kontaktpersonen eines Infektionsfalls ist eine der wirksamsten Möglichkeiten, eine Epidemie zu verlangsamen. Allerdings ist die Anzahl der Fälle, die jeden Tag aufgespürt werden können, begrenzt, ebenso wie die Anzahl der Testungen, die durchgeführt werden können. Wie die Forscher herausfanden, hat das Überschreiten dieser beiden Grenzen während der Epidemie weitreichende Konsequenzen. „Wenn das passiert“, so Prof. Timme, „beginnt sich die Krankheit in den unkontrollierten Gebieten schneller auszubreiten, und das führt unweigerlich zu einem superexponentiellen Anstieg der Infektionen.“ Schon exponentielles Wachstum ist immens. Es bedeutet eine Verdoppelung der Infektionen innerhalb weniger Tage. Überexponentiell bedeutet aber, dass auch die Rate der Verdopplung immer schneller wird.
Solange diese Beschleunigung vermieden werden kann, liegen die Ansteckungskurven auf einem niedrigen Niveau. Interessanterweise macht es relativ wenig aus, wie groß das „Sicherheitspolster“ bei den Kapazitäten des Contact Tracings ist. Die Zahlen bleiben vergleichsweise niedrig. Wird der Grenzwert dagegen nur durch einen einzigen Fall überschritten, führt das superexponentielle Wachstum dazu, dass die Gesamtfallzahlen auf das Zehnfache ansteigen.
Minimale Unterschiede und unverhältnismäßige Effekte
„Wie die meisten Nationen hat auch Österreich nicht frühzeitig auf die zweite Welle reagiert. Nachdem im vergangenen September nicht mehr alle Kontaktpersonen nachverfolgt werden konnten, war es abzusehen, dass die Fallzahlen bald überproportional ansteigen würden“, sagt Scarselli. Im Laufe des letzten Jahres hat sich jedoch gezeigt, dass eine frühzeitige und entschlossene Reaktion unerlässlich ist, wenn man mit einem exponentiellen Wachstum konfrontiert ist. Die Studie des Teams zeigt, dass begrenzte Testkapazitäten das Timing noch ausschlaggebender machen.
Zuletzt hat sich die Forschungsgruppe mit optimalen Strategien beschäftigt, bei denen Lockdowns als präventives Werkzeug und nicht als Notbremse eingesetzt werden. Ein Forschungspapier, das die optimale Strategie skizziert, um sowohl die Anzahl der infizierten Personen als auch die benötigte Lockdown-Zeit zu minimieren, ist derzeit in Arbeit.
Publikation:
Discontinuous epidemic transition due to limited testing.
Autoren: Davide Scarselli, Nazmi Burak Budanur, Marc Timme & Björn Hof
Nature Communications, 2021
DOI: 10.1038/s41467-021-22725-9
Link: https://www.nature.com/articles/s41467-021-22725-9 http://dx.doi.org/10.1038/s41467-021-22725-9 https://www.nature.com/articles/s41467-021-22725-9
Informationen für Journalisten:
IST Austria, Hof Group - Nichtlineare Dynamik und Turbulenzen
Prof. Björn Hof
Tel.: +43 2243 9000 5801
TU Dresden, Center for Advancing Electronics Dresden:
Prof. Marc Timme
Professur für Netzwerkdynamik
Tel.: +49 351 463-43972
Matthias Hahndorf
Wissenschaftskommunikation
Tel.: +49 351 463-42847
Über die Professur für Netzwerkdynamik
Die Professur für Netzwerkdynamik unter der Leitung von Prof. Marc Timme wurde im Jahr 2017 eingerichtet. Ziel dieser strategischen Professur der TU Dresden, die sowohl dem Forschungscluster "Center for Advancing Electronics Dresden" (cfaed) als auch dem Institut für Theoretische Physik angegliedert ist, ist es, eine Brücke von Methoden aus Angewandter Mathematik und Theoretischer Physik zu Anwendungen in Biologie und Ingenieurwissenschaften zu schlagen. Es ist die erste Professur für Netzwerkdynamik in dieser disziplinübergreifenden Ausprägung in Mitteleuropa. Da Netzwerke fast überall um uns herum sind, strebt das Forschungsteam ein vereinheitlichendes Verständnis der grundlegenden Mechanismen an, die der kollektiven Dynamik großer, nichtlinearer, miteinander verbundener Systeme zugrunde liegen, indem es fundamentale theoretische Beschreibungen mit datengetriebener Analyse und Modellierung verbindet. Ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit darin, selbst-organisierte systemische Effekte zu untersuchen und neue konzeptionelle Perspektiven für theoretische sowie rechnerische Werkzeuge zu entwickeln, die notwendig sind, um diese Dynamiken zu verstehen. Dieses Verständnis ist die Grundlage, um das Verhalten von komplexen vernetzten Systemen vorherzusagen und schließlich auch kontrollieren zu können. https://cfaed.tu-dresden.de/cfnd-about
Über das cfaed - Center for Advancing Electronics Dresden
Das cfaed ist ein Forschungscluster an der TU Dresden (TUD). Als interdisziplinäres Forschungszentrum für Perspektiven der Elektronik ist es an der TUD als zentrale wissenschaftliche Einheit angesiedelt, integriert aber auch neun außeruniversitäre Forschungseinrichtungen in Sachsen sowie die TU Chemnitz als kooperierende Institute. Mit seiner Vision will der Cluster die Zukunft der Elektronik gestalten und revolutionäre neue Anwendungen initiieren, wie z. B. eine Elektronik, die keine Bootzeit benötigt, THz-Bildgebung beherrscht oder komplexe Biosensorik unterstützt. Diese Innovationen machen Leistungssteigerungen und Anwendungen denkbar, die mit der Fortführung der heutigen Siliziumchip-basierten Technologie nicht möglich wären. Um seine Ziele zu erreichen, verbindet das cfaed den Wissensdurst der Naturwissenschaften mit der Innovationskraft der Ingenieurwissenschaften. www.cfaed.tu-dresden.de