29.03.2022
»Erschreckende Einblicke in geschichtsklitternde Vorstellungen Putins«
TUD-Experten befragt: Das UJ im Gespräch mit dem Völkerrechtler Prof. Ulrich Fastenrath
Die von Prof. Ulrich Fastenrath geleitete Forschungsstelle für Völkerrechts- und Staatstheorie am Institut für Internationales Recht, geistiges Eigentum und Technikrecht der TU Dresden widmet sich grundlegenden Fragen des Rechts- und Staatsbegriffs, der juristischen Methodenlehre und den Bezügen des deutschen Rechts zum Völkerrecht und Europarecht unter interdisziplinärer Einbeziehung von Linguistik, Philosophie und Politologie. Daraus resultieren zahlreiche Arbeiten über den internationalen Menschenrechtsschutz, das internationale System, die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik Deutschland bis hin zur Rechtmäßigkeit von Einsätzen der Bundeswehr und zur Wirkung des Völker- und des Europarechts im nationalen Recht, etwa im Zusammenhang mit dem Asyl- und Flüchtlingsrecht.
Das UJ sprach mit Prof. Fastenrath zum aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine. In kürzester Zeit flohen und fliehen noch Millionen Menschen vor der inmitten Europas ausgeübten Gewalt gegen ein souveränes Land und seine Bevölkerung, gegen seine militärische und zivile Infrastruktur. Wie stark, wie umfangreich sollte sich Deutschland – auch militärisch – in den Konflikt einbringen? Welche Konsequenzen erwachsen daraus und wie wäre ein stärkeres Engagement völkerrechtlich gedeckt?
UJ: Prof. Fastenrath, aus der Sprache der Juristen ist der Krieg weitgehend verschwunden. Völkerrechtler reden heute von »bewaffneten Konflikten«. Sie selbst sagten bereits Anfang der 2000er-Jahre, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg keine einzige Kriegserklärung mehr gab, die nach früherem Verständnis am Anfang eines Krieges stehen musste. Aber auch heute gilt nach Ausbruch eines militärischen Konflikts »Kriegsrecht«. Dahinter verbergen sich vor allem verschiedene Haager und Genfer Abkommen, die den Schutz der Zivilbevölkerung und das Verbot bestimmter Waffen regeln. Wie wahrscheinlich ist es, dass Russland diese Regeln einhält?
Prof. Fastenrath: Auf Worte kommt es hier nicht an. Der völkerrechtliche Fachterminus »bewaffneter Konflikt« schließt ein, was umgangssprachlich »Krieg« heißt. Und Russland mag darauf bestehen, dass es sich um eine »militärische Spezialoperation« handelt. Wer die Bilder sieht, dem drängt sich der Begriff »Krieg« auf. Deshalb sollten wir es so auch nennen, was derzeit in der Ukraine passiert. Sprache soll verständlich machen, was gemeint ist, aber nicht verharmlosen oder verschleiern. Nur wenn es um Rechtsfolgen geht, muss man die juristischen Fachbegriffe verwenden. Was das »Kriegsrecht« angeht, so hat man früher das Friedensvölkerrecht und das Kriegsrecht als zwei getrennte Regelsysteme angesehen. Der Wechsel von Ersterem zum Zweiten erfolgte durch die Kriegserklärung, und der Friedensvertrag führte zurück zum Friedensvölkerrecht. Da konnten sich Staaten im Kriegszustand befinden, ohne dass auch nur ein einziger Schuss gefallen war; und sie konnten aufeinander schießen, ohne im Krieg zu sein. Heute geht man von einer einheitlichen Völkerrechtsordnung aus, die allerdings Regelungen über bewaffnete Konflikte enthält. Deren Anwendung hängt aber nicht mehr von Erklärungen und auch nicht von den gewählten Bezeichnungen ab, sondern von den Fakten: der Anwendung militärischer Gewalt.
Zwischenfrage: Sind Kriege nicht generell verboten? Gibt es Ausnahmen?
Ja, nach Artikel 2 Nummer 4 der Charta der Vereinten Nationen ist die Androhung und Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen grundsätzlich verboten. Davon gibt es in der Charta nur zwei ausdrückliche Ausnahmen: das Selbstverteidigungsrecht gegen einen bewaffneten Angriff von außen nach Artikel 51 und die vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen oder autorisierten Zwangsmaßnahmen nach Artikel 42. Umstritten ist, ob fremde Staaten auch bei Völkermord oder anderen schwersten Menschenrechtsverletzungen militärisch eingreifen dürfen, ob es also mit der sogenannten Humanitären Intervention noch eine dritte Ausnahme vom Gewaltverbot gibt.
Zu den Gründen der Invasion in die Ukraine hat sich Wladimir Putin in einer Rede an die Nation geäußert. Diese Rede hat Russland zusammen mit der vorgeschriebenen Mitteilung an den UN-Sicherheitsrat über den Militäreinsatz zirkulieren lassen. Solche ausführlichen Erläuterungen und Begründungen sind ein höchst ungewöhnlicher (un-)diplomatischer Vorgang.
Die Legende vom bedrängten Volk
Vor allem aber gewährt dieses Dokument erschreckende Einblicke in geschichtsklitternde Vorstellungswelten ihres Urhebers. Es wird die Legende eines bedrängten und bedrohten Volkes gestrickt und zugleich das Manifest einer russisch dominierten Hemisphäre entworfen, die es in einem Präventivkrieg zu sichern gelte. Putin beruft sich auf das Selbstverteidigungsrecht Russlands und der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk, denen er brüderlich Beistand leistet, weiterhin auf einen angeblichen Völkermord, dem die Bevölkerung in den »Volksrepubliken« seit Jahren ausgesetzt sei. Welche konkreten Handlungen der Ukraine einen bewaffneten Angriff im Sinne des Artikel 51 der UN-Charta darstellen sollen und worin der Völkermordvorwurf begründet ist, wird aber nicht ausgeführt. Die seit Jahren andauernden und von der OSZE dokumentierten Verletzungen der Feuerpause an der Demarkationslinie sowohl seitens der ukrainischen Armee als auch der Milizen der »Volksrepubliken« taugen dafür jedenfalls nicht. Sie haben weder das Niveau eines Angriffs erreicht, das das Selbstverteidigungsrecht auslöst, noch waren sie auf die Auslöschung eines Volkes gerichtet oder dazu geeignet. Dementsprechend hat die UN-Generalversammlung mit nur fünf Gegenstimmen (Belarus, Eritrea, Nord-Korea, Russland, Syrien) beschlossen, dass Russland die Kampfhandlungen beenden und sich aus der Ukraine zurückziehen muss. Ebenso hat der Internationale Gerichtshof entschieden. Ihn hatte die Ukraine angerufen, um festzustellen, dass es keinen Völkermord in den »Volksrepubliken« gebe und Russland darauf keine Humanitäre Intervention stützen könne.
Zurück zum Kriegsrecht. Welche Regeln sind in einem bewaffneten Konflikt zu beachten, und hält Russland sie ein?
Die Regeln im Krieg werden heute – reichlich beschönigend – humanitäres Völkerrecht genannt. Damit soll deren Intention zum Ausdruck gebracht werden, militärische Einsätze zu zivilisieren, soweit das möglich ist. Benannt nach den Städten, in denen die betreffenden Verträge ausgehandelt wurden, wird unterschieden zwischen dem Haager Recht, das Regelungen zur Kampfführung enthält, und dem Genfer Recht mit Regelungen zum Schutz von nicht kämpfenden Personengruppen wie Zivilisten, Kriegsgefangenen oder Verwundeten. Inzwischen passt diese Trennung der Regelungsmaterien nicht mehr gut. Bislang hat Russland, soweit ersichtlich, noch keine verbotenen Waffen wie etwa Chemiewaffen eingesetzt oder Kriegsgefangene rechtswidrig behandelt. Es zerstört jedoch zunehmend die zivile Infrastruktur und beschießt anscheinend mehr oder weniger wahllos Wohngebäude, Krankenhäuser und Schulen. Vieles spricht dafür, dass es sich dabei um Kriegsverbrechen handelt, was freilich im Einzelnen zu klären ist. Die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs wie auch der deutsche Generalbundesanwalt recherchieren bereits in dieser Sache.
Kriegsparteien dürfen bei ihren Angriffen auch zivile Opfer in Kauf nehmen - das Völkerrecht verbietet solche »Kollateralschäden« nicht generell. Zwar lautet der oberste Grundsatz, dass nur militärische Ziele angegriffen werden dürfen. Aber wie verhält es sich mit militärischer Infrastruktur innerhalb von Städten bzw. dicht besiedelter Umgebung?
Der Ausgangspunkt ist das Unterscheidungsgebot. Angriffe dürfen nur auf militärische Ziele gerichtet sein, niemals auf zivile. Damit dies möglich ist, korrespondiert dem Unterscheidungsgebot ein Trennungsgebot: militärische Einrichtungen sind räumlich möglichst von zivilen Objekten zu trennen. Nur so kann verhindert werden, dass der Angriff auf ein militärisches Ziel nahezu zwangsläufig auch zivile Opfer fordert. Solche »Kollateralschäden« – ein furchtbar verharmlosendes Wort, schließlich geht es um Menschenleben – sind hinzunehmen; sie machen einen Militär-einsatz erst rechtswidrig, wenn die zivilen Verluste außer Verhältnis zum erstrebten militärischen Vorteil stehen. Insofern ist die Taktik gefährlich, Städte aus den Städten heraus zu verteidigen. Das treibt die Zahl möglicher ziviler Opfer in die Höhe, ohne dass Russland dadurch rechtlich gehindert wäre, eine solche Stadt zu erobern.
Zahl militärischer Ziele wächst enorm an
Gefährlich ist weiterhin der Aufruf an alle ukrainischen Männer, ihr Land mit Waffengewalt zu verteidigen. Potenziell wächst dadurch die Zahl der militärischen Ziele enorm an: Jeder, der ein Gewehr trägt oder mit Molotow-Cocktails hantiert, gehört dazu. Dennoch bleibt die Beschießung von Wohnvierteln, Krankenhäusern, Schulen und Theatern ein Kriegsverbrechen. Denn zum militärischen Ziel, das zulässigerweise angegriffen werden darf, würden sie erst, wenn dort ukrainische Soldaten oder sonstige kampfbereite Personen geortet worden sind.
Die Ukraine bittet den Westen unablässig um Unterstützung in ihrem andernfalls angesichts des militärischen Potenzials Russlands aussichtslos erscheinenden Kampf. Wie stark darf sich auch Deutschland in diesen Krieg einbringen, ohne Völkerrecht zu verletzen? Was ist angesichts der eigenen Nato-Zugehörigkeit hier überhaupt denkbar – auch wenn ein überwältigender Wunsch nach Hilfe für die Ukraine besteht?
Das Völkerrecht ist hier kein begrenzender Faktor. Jeder Staat darf einem angegriffenen Staat zu Hilfe kommen und an seiner Seite gegen den Angreifer kämpfen. Eine solche kollektive Selbstverteidigung ist nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen auch jenseits von Militärbündnissen oder vorherigen Verteidigungszusagen zulässig.
Grundgesetz setzt der Bundeswehr Grenzen
Es ist das deutsche Grundgesetz, das engere, im Einzelnen freilich umstrittene Grenzen zieht. Nach Artikel 87a Absatz 2 des Grundgesetzes dürfen deutsche Streitkräfte nur zur Verteidigung eingesetzt werden (was heute zumeist als Verteidigung Deutschlands verstanden wird) oder soweit das Grundgesetz dies ausdrücklich erlaubt. Erlaubnistatbestände sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere die Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO und der Europäischen Union sowie die Blauhelmeinsätze im Rahmen von UN-Friedensmissionen (Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz). In die Kämpfe eingreifen dürften deutsche Truppen danach erst, wenn sich die NATO dazu entschließt. Erlaubt sind allerdings alle Maßnahmen unterhalb der Schwelle eines militärischen Einsatzes, also etwa finanzielle Unterstützung und Warenlieferungen aller Art bis hin zu Waffen. Der Verkauf oder die unentgeltliche Überlassung von Waffen macht einen Staat noch nicht zum Kriegsbeteiligten, genauso wenig wie Deutschland zur Kriegspartei an der Seite Russlands wird, indem wir mit der Bezahlung russischen Gases und Erdöls dessen Kriegskasse füllen.
Wenn der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine – hoffentlich bald – beigelegt wird – wie kann ein künftiges Miteinander nach den offensichtlichen Verstößen Russlands gegen das Kriegsvölkerrecht geregelt werden? Klassische Friedensverträge sind ja nach Ihren Worten »aus der Mode gekommen«.
Eine flapsige Bemerkung! Aber es stimmt, den Friedensvertrag, der einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zieht, alle wechselseitigen Ansprüche und Verantwortlichkeiten für welche Kriegsgräuel auch immer abschneidet und zur abschließenden Grundlage für das künftige Verhältnis der Kriegsparteien zueinander wird, gibt es nicht mehr. Was es gibt, sind Teilregelungen wie die Beendigung der Kampfhandlungen, die Verschiebung oder Anerkennung von Grenzen, Rüstungsbeschränkungen oder was sonst den Kriegsparteien besonders wichtig ist und worauf sie sich unter Berücksichtigung der Machtverhältnisse gerade einigen können. Alles andere bleibt ungeregelt und damit rechtlich offen. Es hängt dann von der zukünftigen Entwicklung ab, ob Ansprüche gegen den ehemaligen Kriegsgegner gestellt und durchgesetzt werden können. Wir kennen das vom Zweiten Weltkrieg. Noch immer wird über die Rückgabe von Beutekunst verhandelt – auch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden hat das betroffen. Und einige Staaten, insbesondere Polen und Griechenland, haben Reparationen von Deutschland gefordert, ebenso wie einzelne Griechen und Italiener Entschädigung für Kriegsverbrechen, deren Opfer sie oder ihre Vorfahren geworden sind.
Mit Prof. Ulrich Fastenrath sprach Konrad Kästner.
Charta der Vereinten Nationen
Die Charta der Vereinten Nationen ist der Gründungsvertrag und damit die »Verfassung« der Vereinten Nationen (UN). Sie enthält auch das Statut des Internationalen Gerichtshofs als Bestandteil und wurde am 26. Juni 1945 durch 50 der 51 Gründungsmitglieder auf der Konferenz von San Francisco unterzeichnet. Wegen noch nicht abgeschlossener Regierungsbildung in Polen wurde für dieses Land im Dokument ein Freiraum gelassen. Die zugehörige Unterschrift wurde am 15. Oktober 1945 geleistet, wodurch Polen zum 51. Gründungsmitglied wurde. Die Charta trat am 24. Oktober 1945 in Kraft, nachdem sie von den fünf UNO-Vetomächten (Frankreich, Sowjetunion, Republik China, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von Amerika) sowie der Mehrheit der anderen Unterzeichner ratifiziert worden war.
Die Charta als völkerrechtlicher Vertrag bindet alle Mitglieder aufgrund der entsprechenden Bestimmungen des Völkerrechts. Änderungen der Charta erfordern eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder der Generalversammlung, darunter die Zustimmung aller fünf UNO-Vetomächte. In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Gesetz zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen am 6. Juni 1973 von Bundespräsident Gustav Heinemann unterzeichnet. Der Beitritt beider deutscher Staaten erfolgte am 18. September 1973.
Die Charta wurde wesentlich von Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« inspiriert.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 6/2022 vom 29. März 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.