Feb 02, 2021
Idealisten, die etwas bewegen wollen
Dagmar Möbius
Auf den Tag ein Jahrzehnt nach ihrem Start feierte die in Dresden gegründete Befunderklär-Initiative »Was hab’ ich?« am 15. Januar 2021 Geburtstag. Virtuell, aber mit zahlreichen Gratulanten und Gästen, darunter mehr als ein Viertel Wegbegleiter:innen der ersten Stunde. »Ein rauschendes Fest wäre würdig gewesen«, fand Sylvia Sänger, Professorin für Gesundheitswissenschaften und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat. Doch nichts könnte passender sein als eine Online-Geburtstagsfeier, da der gemeinnützige Übersetzungsdienst online und rund um die Uhr erreichbar ist. »Ihr sorgt dafür, dass Menschen verstehen. Ihr macht Patienten kompetent. Das setzt auch Selbstheilungskräfte in Gang und das hilft der Medizin«, sagte sie. Das Gründerteam Anja und Johannes Bittner und Ansgar Jonietz hatte 2011 aus der Projektidee innerhalb von vier Tagen eine Website entwickelt. Der erste Befund wurde bereits zwölf Minuten nach dem Launch hochgeladen. Heute ist »Was hab’ ich?« ein gemeinnütziges Sozialunternehmen mit neun Mitarbeitenden aus Medizin, Informatik, Kommunikations- und Gesundheitswissenschaft.
Ehrenamtliche Übersetzer:innen, Medizinstudierende und Ärzt:innen, übersetzten in den letzten zehn Jahren 47 300 von Patienten eingeschickte Befunde in eine leicht verständliche Sprache. Tilman Erler kennt »Was hab’ ich?«, seit er 2014 sein Medizinstudium begann. »Ich hörte in der Vorlesung davon und schrieb mich für das Wahlfach ein«, erzählt er. Inzwischen übersetzte er mehr als 100 Befunde. Jede:r Übersetzer:in kann wählen, ob er/sie selbst an Texten lernen oder möglichst vielen Patienten helfen möchte. »Man kann sich zum Beispiel fünf MRT-Befunde der LWS heraussuchen, das geht dann schneller«, ergänzt er schmunzelnd. Die Resonanz auf das Projekt und die Zusammenarbeit mit motivierten Menschen machen ihm Spaß wie am ersten Tag.
Arzt und Patient auf Augenhöhe bringen
»Was hab’ ich?« konnte bisher 2320 Mediziner:innen in Kommunikationskursen oder durch deren ehrenamtliches Engagement für eine verständliche Kommunikation mit Patienten sensibilisieren. 13 Mal konnte die Thematik als Wahlfach in die universitäre Lehre gebracht werden. Die unabhängige und nicht gewinnorientierte Initiative wurde zahlreich gewürdigt. Welche Auszeichnung freute Geschäftsführer Ansgar Jonietz am meisten? Der Informatiker überlegt nicht lange: »Die überraschenden, für die wir uns nicht beworben hatten: der ›Kulturpreis Deutsche Sprache‹ zum Beispiel. Oder der ›Querdenker-Preis‹ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin.« Arzt und Patient auf Augenhöhe zu bringen, ist der seit Beginn geltende Anspruch. »Wir versuchen, groß zu denken. Unsere Lösungen sollen sich langfristig im Gesundheitswesen weiterentwickeln«, erklärt Ansgar Jonietz. So wie die 2012 entstandene Idee des Patientenbriefes, die 2015 als Pilotmodell startete und wissenschaftlich begleitet wurde.
Patientenbriefe: »wirklich wichtig, jeder Abschnitt«
Über das jüngste Forschungsprojekt berichtete Dr. Henna Riemenschneider vom Bereich Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät der TU Dresden. Von Juni 2019 bis Juni 2020 wurden »Patientenbriefe nach stationären Aufenthalten« evaluiert. Die randomisierte kontrollierte, in Kooperation mit dem Herzzentrum Dresden durchgeführte Studie mit mehr als 1300 Teilnehmenden hatte eine Rücklaufquote von 57 Prozent – ein sehr gutes Ergebnis für die Forscher:innen, auch weil der Bedarf bewertet wurde. Sie stellten einen positiven Einfluss auf die Gesundheitskompetenz fest. »Besonders Ältere und Patienten mit niedrigem Bildungsstand profitieren. Das verringert soziale Unterschiede«, sagte Henna Riemenschneider. 90 Prozent der Befragten bewerteten den mit einer Software automatisiert erstellten Brief positiv. Für 86 Prozent war es wichtig, so einen Brief zu erhalten, für weitere neun Prozent »eher wichtig«. Patient:innen lobten, dass sie ihre Krankheitsgeschichte besser verstehen, konkrete Informationen zu ihrer Erkrankung, Diagnose und den Behandlungsmethoden erhalten, dass diese zu jeder Zeit verfügbar waren und die Kommunikation über Erkrankungen und Krankenhausaufenthalt erleichtern. Konkrete Rückmeldungen wie »wirklich wichtig, jeder Abschnitt«, »also perfekt« oder »… nach einem halben Jahr gut, wenn man was zum Nachgucken hat«, bestätigen alle Bemühungen um verständliche Sprache. Die Forschenden empfehlen unter anderem, leicht verständliche Patientenbriefe als patientenzentrierte Entlassungsdokumente nach stationären Aufenthalten in die Regelversorgung zu überführen und sie auch in anderen Fachbereichen anzuwenden.
Impulse für die nächsten zehn Jahre
»Solche Forschungsprojekte machen wir nicht für uns, sondern um etwas zu bewirken und Potenziale zu nutzen«, sagt Ansgar Jonietz. Im Herzzentrum Dresden werden weiterhin leicht verständliche Patientenbriefe erstellt und ausgehändigt. »Es gibt noch 2000 andere Kliniken, wir wollen noch viele andere erreichen.« So sollen beispielsweise Patientenbriefe für den ambulanten Sektor entwickelt werden – zwei Prototypen sind bereits im Einsatz.
Auf der Website »10 Jahre Was hab’ ich?« können alle Interessierten etwas zur Weiterentwicklung beitragen. So sind besonders verständlich kommunizierende Fachkräfte (für eine geplante Würdigung) gesucht, auch Übersetzer:innen und Spender:innen. Organisationswillige für »Was hab’ ich?«-Wahlfächer in der universitären Lehre können sich melden. Bisher wurden bundesweit Medizinstudierende ab dem 8. Fachsemester in Hamburg, Heidelberg, Marburg und Dresden in laienverständlicher Kommunikation geschult. Auch Patient:innen-Feedbacks sind willkommen.
Im »Was hab’ ich?«-Team schlummern noch andere Talente: Rebekka Post dichtete eine Strophe für ein Lied, das Klavierkabarettist Bodo Wartke als musikalischer Überraschungsgratulant live zum Besten gab. Gut möglich, dass damit ein neuer Motto-Song für die gemeinnützige Initiative kreiert wurde.
Im Chat häuften sich begeisterte Wortmeldungen: »Ein toller Spirit bei Euch – weiter so!«, »Die beste digitale Veranstaltung ever.«, »Beweis für authentische und überzeugende Arbeit« oder »Warum seid Ihr so ein tolles Team in Dresden?«. Beatrice Brülke, seit sechs Jahren Kommunikationsmanagerin bei »Was hab’ ich?« und souveräne Moderatorin, hatte darauf eine kurze, schlüssige Antwort: »Es macht Spaß, hier zu arbeiten. Wir sind alle Idealisten, die etwas bewegen wollen.« Die Mitgründer und Ärzte Dres. Anja und Johannes Bittner freuten sich aus der Ferne: »Toll, dass sich das Projekt so gut weiterentwickelt, wir verfolgen es mit.«
Schon gewusst?
- 7588 Patientenbroschüren wurden von Patienten angefordert. Unter dem Titel »Der Nächste, bitte!« erhalten Patienten Tipps für den nächsten Arztbesuch.
- 10 644 Fachbegriffe erläutert der Befunddolmetscher und informiert damit jeden Monat hunderttausende Patienten. befunddolmetscher.de ist ein gemeinsames Projekt mit der Weissen Liste.
- 26 Campus-Botschafter:innen begeistern ihre Kommilitonen für das Ehrenamt und präsentieren »Was hab’ ich?« bei Veranstaltungen an ihrer Uni.
- 4049 Patientenbriefe wurden für Patienten bereits nach einem Krankenhausaufenthalt erstellt – zum Teil komplett automatisiert.
- 25 044 Erkrankungen, Untersuchungen und Behandlungen können mit ärztlich erstellten Textbausteinen in einfacher Sprache erklärt werden.
Weitere Informationen unter: https://washabich.de/10/
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 01/2021 vom 19. Januar 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.