Dec 10, 2019
Schmerzlich vermisster Zeitzeuge und Mahner
In memoriam Jürgen Schieferdecker, des am 3. Dezember 2018 verstorbenen hoch geschätzten Künstlers und Kunstvermittlers
Tomas Petzold
Der vor einem Jahr, kurz nach seinem 81. Geburtstag verstorbene Jürgen Schieferdecker sei in erster Linie Künstler gewesen. Gelegentlich stand das so zu lesen. Ein Fauxpas, der wohl einen falschen Eindruck richtigstellen sollte, denn der Mann, so oft er öffentlich in Erscheinung trat, setzte sich für vieles und viele ein, aber kaum für sein eigenes bildnerisches Werk. Er brachte den Künstlerbund lokal auf die Beine, engagierte sich für weniger beachtete Kollegen, für Ausstellungsmöglichkeiten unabhängig vom Kunstmarkt. So brachte er Kunst ins Rathaus, also auch zu einem Publikum, das sonst kaum Ausstellungen besucht, setzte sich ein für die Gründung der Städtischen Galerie. Beinahe regelmäßig verfasste er gründliche Rezensionen für die Dresdner Neuesten Nachrichten. Er schrieb in einem sehr persönlichen Stil, humorig, manchmal voller Seitenhiebe, aber nie den besprochenen Künstler verletzend. Ob dessen Stil und Ausdrucksmittel den seinen verwandt waren, spielte bei Schieferdeckers kritischen Analysen keine Rolle. Seine gestalterischen Maßstäbe, die er ja unter anderem als Architekt erworben und als Lehrkraft an der TU Dresden theoretisch vermittelt hatte, waren sicherlich streng, doch für einen unabhängigen Geist wie ihn schloss sich logisch jedes Sektierertum aus.
Aber vor allem oder in erster Linie war er selbst Künstler? Besser treffend: Künstler in erster Linie. Um nicht zu sagen: in vorderster Front. Das wäre doch übertrieben, so sehr es lockt, mit ihm die häufigen Militarismen zu entlarven, die unsere Sprache noch immer durch- und zersetzen. Über die künstlerische Existenz hinaus, die ja trotz aller Bezüge letztlich immer einsam ist, war Schieferdecker nicht nur Einzelkämpfer. Er suchte Mitstreiter, Verbündete, war Moderator, Ermöglicher, Ermutiger. Er gehörte keiner Gruppierung an, aber er war irgendwie immer dabei, wenn es darauf ankam.
Die durchscheinende Absicht verderbe jede Kunst, heißt es oft, und doch hat er es fertiggebracht, immer wieder zu Ereignissen der Tage Stellung zu beziehen, ja er musste es tun, wenn sie ihm als Menetekel erschienen, engagiert, aber nie plakativ oder platt, sondern er tat es, indem er mit seinem eigenen dialektischen Verständnis Hintergründe und ursächliche Widersprüche aufzeigte. Auf Lässlichkeiten, die Hohlheiten des Alltags, reagierte er oft mit seinem sächsischen Mutterwitz.
Man hat ihn vermisst oder eben nicht vermisst gerade zuletzt in den Tagen der Besinnung und der Bilanz 30 Jahre nach dem Mauerfall. Dabei war er ja ein künstlerischer Zeitzeuge par excellence. Ein Stichwort, das auch Dr. Gisbert Porstmann, seit nun 17 Jahren Leiter der Städtischen Galerie Dresden – Kunstsammlung, in diesen Tagen umtreibt. Er gesteht, dass er die Zurücknahme, das Verschwinden des Zeitgenössischen aus der Kunst noch nie so deutlich und als Verlust empfunden habe wie in jüngster Zeit, berichtet davon, wie sehr sich Besucher angezogen fühlten von den diskussionswürdigen Werken aus der X. Kunstausstellung der DDR. Er hatte Schieferdecker gleich nach dessen Tod eine kleine Gedenkecke in der Dauerausstellung der Galerie eingerichtet, u.a. den kleinen (Ge-)Flügelaltar gezeigt, mit dem der Künstler das Leiden und Sterben der Hühner so ironisch und ketzerisch vermenschlicht hat. Auch Porstmann erinnert sich dankbar an zahlreiche Begegnungen, die ihm Schieferdecker zu einem wichtigen, schwer ersetzbaren Gesprächspartner machten. »Man konnte mit ihm analysieren, ganz solide Qualitätsurteile erarbeiten, und ich habe immer bewundert, wie er seine persönlichen Dinge davon trennen konnte.«
Im Bestand der Galerie befinden sich einige Gemälde und für den Künstler typische Assemblagen, vor allem aber an die hundert Arbeiten auf Papier: Druckgrafiken, Collagen, Zeichnungen, meistens in den Depots. Vieles passt auch genau in einer Zeit, in der wachsender öffentlicher Zustimmungsdruck, auch den Galeriedirektor, unangenehm an Zeiten erinnert, in denen Schieferdecker sich als einer von wenigen auch offensiv der Vereinnahmung zu entziehen wusste. Als Ermutigung wird man das vermissen, so lange das Dresdner Menetekel mehr als Erinnerung ist. Die so betitelte große Assemblage hätte heute wohl andere Komponenten, bleibt aber gültig in ihrer auf Assoziationen gestützten Klarheit. Sie ist eine von drei Arbeiten in den Beständen des Albertinums, neben dem surrealen Ölbild »Suliko oder Der Diktator am Abend« und der »Heimkehr des Elefanten Celebes«, der genialen Hommage an Max Ernst, die zur Skulpturensammlung gehört. In der Online Collection der Staatlichen Kunstsammlungen findet sich darüber hinaus ein einziges Blatt, obgleich das Kupferstich-Kabinett über das gesamte Werk bis 1983 verfügt. Alle Hauptwerke kamen durch Schenkung oder Übernahme in die Sammlungen.
Aber Schieferdecker war eben schon immer buchstäblich sperrig, misstraute purer Meditation und der Reinheit der Kunst ebenso wie Utopien und Idealen, die er stets ins Verhältnis zu den realen die Gefährdungen der menschlichen Existenz zu setzen wusste. Er hat wohl kaum eine Arbeit in die Welt entlassen, die nicht außer dem Eigengewicht ihrer einzigartigen Existenz auch eine bedenkenswerte Botschaft enthalten hätte. Die freilich war nie aufgesetzt, sondern ergab sich aus Assoziativem, fakten- und materialgestütztem Um-die-Ecke-Denken, aus Fügungen, deren Zusammenhang der Betrachter bei gehörigem Spielraum selbst herstellen bzw. entschlüsseln muss. Weit über die eine treffende Sentenz oder Schlagzeile hinaus, mit der der Collage-Artist gern auch einmal Furor machte, etwa, wenn er Günter Grass als den »Alten« ins deutsche Blatt montierte. Das war nun wieder eine Art Humor, die es ihm ermöglichte, die jeweilige Sache wohl, aber sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, was ihm bis in seine letzte von Krankheit und Behinderung gezeichnete Lebensphase erlaubte, lapidar von seinen Befindlichkeiten zu sprechen, die ihm immerhin noch ein künstlerisches Tun erlaubten. Dieser leise selbstironische Zug hat auch die Balance hergestellt zu dem Sarkasmus, mit dem er immer wieder auf Erscheinungen und Ereignisse der realen Welt reagierte.
Doch was eigentlich ist sein Werk? Gut, dass das malerische Frühwerk in der Geburtsstadt Meerane bewahrt wird, dort kann es besser zur Geltung kommen als in der – zumal auch von Nachlässen – übersättigten Kunstmetropole Dresden. Es gibt für das Gesamtwerk noch keinen Begriff, keinen Kanon. Die Aufzählung von Einzelarbeiten erschöpft sich, wenn die Zusammenschau fehlt. Ich denke, es wäre vor allem eine deutsche Chronik über fast fünf Jahrzehnte, und halte es für vielsagend, dass sich noch niemand getraut hat, sie zu präsentieren. Immerhin ist zu hoffen, dass die TU Dresden ihre spezielle, durch die Umstände gesteigerte Verantwortung gegenüber diesem Erbe wahrnehmen kann.
Der Autor war bis 2009 Ressortleiter und Redakteur in der Kulturredaktion der Dresdner Neuesten Nachrichten, für die er bis heute regelmäßig als freier Kunstkritiker tätig ist.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 20/2019 vom 10. Dezember 2019 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.