30.03.2021
Screeningverfahren zur Skoliosediagnostik entwickelt
Deutsch-polnisches Projekt mit TUD-Beteiligung untersucht die Körperhaltung von 805 Kindern
Claudia Trache
Von März 2017 bis Februar 2020 setzte das Institut für Biomedizinische Technik der TU Dresden gemeinsam mit der Rehabilitationsklinik SPZOZ Zgorzelec das deutsch-polnische Projekt »Gesunde Kinder – Gesundes Europa. Große Wissenschaft für kleine Patienten – WiP« um. Gefördert wurde es im Rahmen des Operationellen Programms Polen – Sachsen 2014 bis 2020. Ziel dieses Projektes war es, die Kapazitäten des Gesundheitssystems in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec durch eine gemeinsame Nutzung der medizinischen Infrastruktur am Beispiel von Screeninguntersuchungen des Bewegungsapparates an Kindern zu stärken.
Die Rehabilitationsklinik SPZOZ Zgorzelec ist eines der bedeutendsten Zentren Polens für die konservative Behandlung adoleszenter Skoliosen. Im ersten Teil des Projekts wurde die Körperhaltung von 805 Kindern im Alter von sieben bis 13 Jahren untersucht. Bei 7,1 Prozent der Fälle wurde ein Verdacht auf Skoliose geäußert und zu weiteren Untersuchungen an Fachärzte verwiesen. In den meisten Fällen wurden Empfehlungen für mehr bzw. gezielte sportliche Betätigung gegeben. Diese Untersuchungen dienten als Grundlage für die Entwicklung des Screeningverfahrens. Im zweiten Teil entstand ein Konzept für die technische Realisierung der computergestützten Methode zur Klassifizierung der Körperhaltung. Im dritten Teil wurden Möglichkeiten erarbeitet, am Beispiel der Reihenuntersuchungen auf lokaler Ebene die bestehenden administrativen Grenzen zu verringern. Mit dem Projekt verband Dr.-Ing. Grzegorz Sliwinski, Projektleiter des Instituts für Biomedizinische Technik, weitere Ziele, die er in einem Beitrag im UJ 02/2018 wie folgt benannte: »Ich möchte dazu beitragen, die Gesellschaft beidseits der Grenze näher zusammenzubringen, damit die Europastadt auch in der Gesellschaft als eine Stadt wahrgenommen wird und die Menschen mehr miteinander in Kontakt kommen. Mittelfristig ist es unser Ziel, einen Prototyp für ein Gerät zu entwickeln, das standardisierte Untersuchungen zulässt und so konzipiert ist, dass es unter anderem in Schulen eingesetzt, von Sportlehrern im Unterricht angewendet werden kann und dessen Daten zentral ausgewertet werden. Dauerhaftes Ziel ist es, einen Wegweiser für Patienten und Ärzte zu erstellen mit Hinweisen zu den rechtlichen Rahmen, den entsprechenden Anlaufstellen und den Hinweisen, wer darf oder muss was tun beziehungsweise erlauben.«
Inwieweit konnten diese Ziele verwirklicht werden?
»Für uns etwas unerwartet hatten wir große Schwierigkeiten, Teilnehmer aus Deutschland für die Untersuchung in der polnischen Klinik zu gewinnen«, berichtet Dr. Grzegorz Sliwinski, der selbst aus Zgorzelec stammt. Von den 805 untersuchten Kindern kamen nur 69 von der deutschen Seite. Trotz vielfältiger Öffentlichkeitsarbeit, um das Projekt bekannt zu machen, war die Resonanz auf der deutschen Seite gering. Eine einzige Görlitzer Schule nahm an dem Projekt teil. Weitere Eltern und ihre Kinder erreichten die Projektmitarbeitenden auf außerschulischem Weg wie Sportvereine oder direkte Flyerverteilung. »Liegt es an Vorurteilen gegenüber polnischen Krankenhäusern oder generell an einer Hemmschwelle, die Grenze zu überqueren?«, fragt sich Dr. Grzegorz Sliwinski nach Abschluss dieses Projekts. »Natürlich bleibt auch die Frage offen, wie sich die polnischen Eltern verhalten hätten, wenn die Untersuchungen auf der deutschen Seite stattgefunden hätten.«
Torsobarographie und Videorasterstereographie
Mithilfe der vorausgegangenen Untersuchungen entwickelte das Projektteam zwei Ansätze zur Entwicklung eines innovativen medizintechnischen Verfahrens zur automatisierten Bewertung der Körperhaltung. Sowohl die Torsobarographie als auch die Videorasterstereographie liefern die Grundlage für ein Verfahren, das in ein mobiles, einfach zu bedienendes Gerät umgesetzt werden sollte. Dieses könnte künftig zum Beispiel von Lehrkräften im Sportunterricht einmal jährlich zum Screening eingesetzt werden, um so frühzeitig Haltungsschäden zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.
Lösungsvorschläge für den rechtlichen Rahmen
Neben einem dreisprachigen Projektbericht legt das Projektteam zusätzlich ein Gutachten zu den rechtlichen Bestimmungen für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen vor, so dass beispielsweise Görlitzer Eltern mit ihren Kindern zur Diagnostik und Therapie von Haltungsschäden die Rehaklinik Zgorzelec aufsuchen können anstatt einer viel weiter entfernten deutschen Einrichtung. In diesem Gutachten wird die rechtliche Ausgangslage umfassend dargestellt. Gleichzeitig werden mehrere Beispiele erfolgreicher grenzüberschreitender Kooperationen im medizinischen Bereich in anderen Grenzregionen geschildert und anhand dieser konkrete Lösungsvorschläge aufgezeigt. Das Gutachten weist zudem auf eine Versorgungslücke hin, die im deutschen System der Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten besteht: »Die Untersuchung des Bewegungsapparates erfolgt in den Untersuchungen U1 – U9 (maximal fünf Jahre). Ferner erfolgt die Skolioseuntersuchung bei den Jugendlichen erst im 13. bis 14. Lebensjahr (bei der J1-Untersuchung). Somit werden die Untersuchungen des Bewegungsapparates bei den Kindern im projektrelevanten Alter (9 bis 12 Jahre) nicht von dem Anwendungsbereich der Kinder- und Jungenuntersuchungsrichtlinien des GBA erfasst.«
Fazit
Das Projekt »Gesunde Kinder – Gesundes Europa. Große Wissenschaft für kleine Patienten – WiP« liegt Dr. Grzegorz Sliwinski und seinem Team sehr am Herzen. Er nutzt jede Gelegenheit, in seinem wissenschaftlichen Netzwerk dafür zu werben. In Kooperation mit mittelständischen Unternehmen strebt das Forscherteam an, einen Prototypen zu entwickeln und zur Produktreife weiterzuführen. Einen entsprechenden Förderantrag hat Dr. Grzegorz Sliwinski über das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) gestellt. Außerdem plant Dr. Grzegorz Sliwinski gemeinsam mit dem Uniklinikum Dresden ein Modellvorhaben, in dem mittelständische Unternehmen gemeinsam mit Medizinern ein für sie praktikables Screening-Gerät zur Skoliosediagnostik entwickeln. Dafür läuft derzeit ein Antrag beim Bundesministerium für Bildung und Forschung zum »Aufbau von Industrie-in-Klinik-Plattformen zur Entwicklung innovativer Medizinprodukte«. Für beide Anträge hofft der Forscher auf einen positiven Bescheid im zweiten Halbjahr dieses Jahres. Am Institut für Biomedizinische Technik der TU Dresden arbeiten derzeit zwei Doktoranden ebenfalls mit den Messergebnissen der abgeschlossenen Projekte und entwickeln die Algorithmen weiter. Auch Studierende führt Dr. Grzegorz Sliwinski regelmäßig an die Entwicklung von Screeningverfahren zur Skoliosediagnostik heran. »Ich hoffe, dass sie sich von diesem Thema begeistern lassen und Lust darauf haben, es in ihrem späteren Berufsleben weiterzuverfolgen.« Dr. Grzegorz Sliwinski lässt nicht nach in seinem Bemühen, sich für das Wohl der Kinder einzusetzen. »Wenn sich Kinder beizeiten screenen lassen können, werden sie später weniger Rückenprobleme haben.«
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 06/2021 vom 30. März 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.