Sep 21, 2021
Subjektive Einblicke in vergangene und gegenwärtige Alltage
Lebensgeschichtliches Archiv Sachsen ist im Netzwerk Oral History aktiv
Historiker, Archivare und Museumsexperten wissen, dass sich in schriftlichen Überlieferungen oft nur eine Perspektive auf Geschehnisse widerspiegelt: die der Verwaltung. Oral History, mündliche Geschichte, kann Lücken schließen, indem sie beispielsweise Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. Zwar gibt es in der Geschichtswissenschaft noch Widerstände dagegen, aber die Bedeutung von Oral-History-Projekten nimmt zu. Dafür engagiert sich seit 2014 das interdisziplinäre Netzwerk Oral History, das sich in diesem Jahr mit rund 100 Teilnehmern digital traf. Themen waren der Umgang mit Interviews in Museen und Ausstellungen, die Nutzung digitaler Technologien sowie aktuelle oder abgeschlossene Forschungsprojekte. In einem Rundtischgespräch wurden Interviewsammlungen vorgestellt, die sich mit Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen zur DDR-Geschichte beschäftigen. Nick Wetschel und Claudia Pawlowitsch, seit 2015 bzw. 2017 wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV), stellten das dort angesiedelte Lebensgeschichtliche Archiv Sachsen vor. Dr. Sönke Friedreich bearbeitet das Projekt am längsten. Weil die sich ständig wandelnde Sammlung kein klassischer Anlaufpunkt wie ein Archiv oder ein Museum ist, fragte UJ nach.
UJ: Für viele Dresdnerinnen und Dresdner ist Ihr forschendes Archiv vermutlich ein Insidertipp. Was genau erforschen Sie im Lebensgeschichtlichen Archiv Sachsen und warum ist das so besonders?
Dr. Friedreich: Das Lebensgeschichtliche Archiv für Sachsen (kurz: LGA) ist eine seit 1997 beständig erweiterte Sammlung lebensgeschichtlicher Dokumente aus Vergangenheit und Gegenwart – darunter verstehen wir Dokumente wie Tagebücher, Lebensberichte und Briefe, aber auch lebensgeschichtliche Interviews. Dokumente dieser Art befinden sich meist in Privatbesitz und werden von den staatlichen Archiven nicht gesammelt, daher ist eine Sammlung wie das LGA selten. Das Ziel ist es, mit Hilfe dieser biografischen und autobiografischen Materialien Einblicke in vergangene und gegenwärtige Alltage zu ermöglichen, indem sie fachgerecht erschlossen und der Forschung zur Verfügung gestellt werden.
Was sollten die Sachsen über volkskundliche Forschung wissen?
Volkskunde ist eine alte Fachbezeichnung für das, was wir heute meist als empirische Kulturwissenschaft oder Kulturanthropologie bezeichnen – der Name wirkt vielleicht auf manchen abschreckend. Diese Forschungsdisziplin ist aber hochaktuell und beschäftigt sich mit einem Thema, das alle angeht: der alltäglichen Lebenswelt und ihren Veränderungen. So werden dort etwa Fragen behandelt wie die Folgen des gegenwärtigen breitflächigen Strukturwandels für die lokalen Lebenswelten, der Einfluss von Migration auf Eigen- und Fremdwahrnehmungen, die spezifischen Bedingungen der Grenzlage zu Polen und Tschechien für die dortigen Bewohnerinnen und Bewohner oder der Umgang mit der Vergangenheit in der Art und Weise, wie wir uns kollektiv erinnern. Sachsen hat nicht nur eine lange Tradition volkskundlicher Forschung, sondern ist auch heute mehr denn je ein vielfältiges, aber auch spannungsreiches Forschungsgebiet für diese und viele andere Fragen.
Gibt es blinde Flecken in der regionalen historischen Wissenschaft, die Sie gern schließen würden?
Die blinden Flecken sind wohl in beinahe jeder wissenschaftlichen Disziplin weitaus größer als das, was man zu wissen glaubt, da machen Volkskunde und Geschichtswissenschaft keine Ausnahme. Für die Volkskunde ist vor allem die subjektive Perspektive wichtig. Über viele historische wie gegenwärtige Veränderungsprozesse sind wir auf struktureller Ebene gut informiert, aber wie wurden und werden diese von den Menschen selbst wahrgenommen? Dabei geht es nicht um Meinungsäußerungen in Talkshows oder den Spalten der Tagespresse – die Volkskunde bemüht sich über narrative Interviews, Feldforschung und archivalische Quellenstudien darum, tief in die Lebenswelt der Menschen einzudringen, ihre Handlungs- und Interpretationsmuster zu verstehen und die dahinterstehenden Logiken zu erschließen. In einer sich rapide wandelnden Welt ist dieser Forschungsprozess letztlich nie abgeschlossen.
Können Einheimische Ihre Arbeit unterstützen und wenn ja, wie?
Unterstützung ist immer sehr willkommen. Insbesondere sind wir für alle Hinweise auf interessantes lebensgeschichtliches Material dankbar, das wir entweder im Original oder in Kopie ins LGA aufnehmen können. Dabei geht es uns weniger um Nachlässe als darum, Aufzeichnungen wie unveröffentlichte Memoiren, Tagebücher, Fotoalben usw. zu sammeln. Natürlich sind unsere Kapazitäten begrenzt, aber grundsätzlich möchten wir gerne die Vielfalt und die Kreativität, die in privaten lebensgeschichtlichen Dokumenten steckt, aufzeigen. Nicht zuletzt helfen uns begleitende Informationen dabei, die Dokumente richtig einzuordnen. Ohne die Mithilfe von interessierten und engagierten Bürgerinnen und Bürgern geht dies schlecht.
Mit wem sprechen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen zu welchen Themen persönlich?
Die Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner für lebensgeschichtliche Interviews und die Wahl der Themen hängen in erster Linie ab von den Vorhaben, die am ISGV durchgeführt werden. Am Institut wurden zum Beispiel Forschungsprojekte über Flüchtlinge und Vertriebene als »Neubauern« in Sachsen, über das Erzählen und Dokumentieren von Urlaub und Reisen während der DDR-Zeit oder das Leben in der »Kontaktzone« des deutsch-tschechischen Grenzraums realisiert. Die Suche nach Interviewpartnerinnen und -partnern und der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses gehört zu den zentralen Aspekten solcher Projekte. Aufgrund der spezifisch volkskundlichen Sichtweise kommen dabei prinzipiell Interviewpartnerinnen und -partner aus allen Bevölkerungsgruppen und -schichten infrage, jeweils abhängig von der Zielrichtung des Projektes.
Die Fragen stellte Dagmar Möbius.
Weitere Informationen unter:
http://lga.isgv.de/
Das nächste Netzwerktreffen Oral History wird am 5. und 6. Mai 2022 im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn stattfinden.
www.fes.de/archiv-der-sozialen-demokratie
Was ist Oral History?
Oral History ist eine Methode der Geschichtswissenschaft, bei der Zeitzeugen zu bestimmten Ereignissen befragt und von den Interviewern möglichst wenig beeinflusst werden sollen. Die entstandenen Narrationen geben Auskunft über einen historischen Sachverhalt oder bestimmte Zusammenhänge und Deutungen. Ursprünglich war Oral History als reine Erzählung der Zeitzeugen gedacht, also gänzlich ohne Nachfragen, damit nicht Deutungen oder Schwerpunkte des Forschers oder der Forscherin die Aussagen verzerren. Mittlerweile wird Oral History eher als reguläre Interviewtechnik in der Geschichtswissenschaft verstanden, was der Methode gewissermaßen die Eigenheit raubt.
Quelle: https://home.uni-leipzig.de/methodenportal/oral-history
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 14/2021 vom 21. September 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.