26.10.2018
Vier Blicke auf einen Moment unserer Sonne
Forscher des Experiments „Borexino“, unter ihnen Kernphysiker der TU Dresden, vereinigten in einer Analyse erstmals vier Wege der Neutrinogeburt am selben Ort: der Sonne.
Zentral-Italien, 1.400 Meter unter dem Felsmassiv des Apennins: Hier fliegen sekündlich Milliarden Neutrinos aus der Sonne durch einen hochreinen Mineralöltank. Davon kann etwa ein Neutrino pro Tag eingefangen werden. Forscher des Experiments „Borexino“, unter ihnen Kernphysiker der TU Dresden, vereinigten in einer gemeinsamen Analyse nun erstmals vier der Neutrinoquellen – vier verschiedene Wege der Neutrinogeburt am selben Ort: der Sonne. Eigenschaften unseres Sterns, welche die Physik bislang nur theoretisch berechnet hatte, konnte der gleichzeitige Blick auf diese vier Geburtsarten nun bestätigen. „Eine kombinierte Studie der Entstehungswege von Neutrinos gab es bisher nicht“, erklärt Kai Zuber, Professor für Kernphysik an der TU Dresden. „Die Analysen aus dem Borexino-Experiment liefern den Beweis, dass das Bild, das wir von der Energieproduktion der Sonne und den Sternen haben, nicht falsch sein kann.“
Diese kombinierten Analysen sind ein Meilenstein für das Verständnis der Kernfusion in Sternen, so Prof. Zuber. Neutrinos, elektrisch neutrale Elementarteilchen, haben eine Masse von nahezu Null. Die „Geisterteilchen“ bewegen sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit und wechselwirken kaum mit anderen Teilchen – einen Quadratzentimeter, in etwa die Fläche eines menschlichen Fingernagels, durchströmen sekündlich 70 Milliarden Neutrinos ohne Auswirkung. In der Sonne gibt es fünf Reaktionsketten, die beim Verschmelzen von Wasserstoff zu Helium Neutrinos hervorbringen. Einige davon sind so schwach, dass selbst Borexino sie nicht zu fassen vermag; vier andere jedoch konnten einzeln bereits nachgewiesen werden. „Wenn man sie einzeln misst, bekommt man immer nur eine Summe von Einzelaufnahmen, nie die gesamte Momentaufnahme. Man ignoriert alle Seitenteile, die in diesem Augenblick auftreten. Die globale Analyse bezieht alle beobachteten Reaktionsketten ein – dass ihre Berechnungen weiterhin die vermuteten Resultate zeigen, bestätigt unser generelles Bild von der Sonne.“ Unter anderem die Technischen Universitäten Dresden und München, die RWTH Aachen und das Forschungszentrum Jülich sowie die Universität Hamburg, die Eberhard Karls Universität Tübingen und die Johannes Gutenberg-Universität Mainz arbeiten an dem italienisch geleiteten Projekt mit. Die Errungenschaft des internationalen Forscherverbunds veröffentlichte die Fachzeitschrift Nature in ihrer aktuellen Ausgabe.
Vor vier Jahren publizierte Borexino die Messung der ersten fundamentalen Reaktion der Verschmelzung von zwei Protonen in einer der Ketten, die zwei neue Neutrinos an ihrem Ende gebärt – ein wissenschaftlicher Meilenstein. „Wir werden, während wir hier reden, von Milliarden Neutrinos bombardiert“, führt Kernphysiker Zuber aus. „Nur passiert nichts, weil diese Teilchen nichts mit anderen zu tun haben wollen – um sie nachzuweisen, muss man darum große Experimente unter Tage aufziehen.“ Die Laboratori Nazionali del Gran Sasso, gelegen unter dem Gebirgsmassiv Gran Sasso in der Mitte des italienischen Stiefels, ist eines der größten unterirdischen Versuchslabore für Elementarteilchen weltweit. Das Gestein schottet die Experimentierstätten gegen andere Teilchen und mit weiterem Aufwand auch die natürliche Radioaktivität der Erde ab. Selten treffen in ihrem 300-Tonnen-Mineralöltank Neutrinos auf Elektronen – nach ebendiesen Ereignissen, die einmal am Tag einen kleinen Lichtblitz durch das Liquid schicken, halten die Forscher Ausschau. Das Experiment samt Vorbereitung streckte sich über Jahre, 2007 startete die Datennahme. Die Teilnehmer aus mehreren Ländern – Deutschland, USA, Italien, Russland, Polen, Frankreich und Spanien – kommen für Tag- und Nachtschichten in die Labore unter dem Apennin, um das Experiment zu überwachen, Reparaturen auszuführen und Servicearbeiten zu verrichten. „Die TU Dresden steuerte vor allem Datenanalysen zu physikalischen Resultaten bei sowie Computersimulationen des Detektors“, resümiert Prof. Zuber.
Die nächste physikalische Sensation, an der die Wissenschaftler bei Borexino arbeiten, ist eine Untersuchung dessen, was zwei Nobelpreisträger in den 1930er Jahren vorhersagten: den Umwandlungsprozess von Wasserstoff in Helium mittels eines Katalyseprozesses. Was die Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker und Hans Bethe damals im Gedankenexperiment durchspielten, ist heute in der Theorie als „Bethe-Weizsäcker-Zyklus“ bekannt. Die Forscher in den italienischen Laboren wollen ihn nun direkt nachweisen. „Es ist ein Prozess, der in größeren Sternen – schon ab einer anderthalbfachen Masse unserer Sonne – dominant die Energie produziert“, erklärt Prof. Zuber begeistert: „Nach 80 Jahren Theorie wäre es ein Hammer, das in der Realität 1.400 Meter unter Tage zu sehen.“
In Deutschland sind neben der Fakultät Physik der TU Dresden das Exzellenzcluster Universe der TU München, das Institut für Kernphysik des Forschungszentrums Jülich, das Institut für Experimentalphysik der Universität Hamburg, die RWTH Aachen und das Exzellenzcluster PRISMA der Johannes Gutenberg Universität Mainz beteiligt. Das Borexino-Programm wird finanziert mit Mitteln des INFN (Italien), des NSF (USA), des BMBF, der DFG, der HGF und der MPG (Deutschland), der RFBR, der RSF (Russland) und des NCN (Polen).
Informationen für Journalisten:
Prof. Kai Zuber
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