10.12.2019
Weltall ∙ Erde ∙ Ich
TUD-Professor Rainer Groh mit einem erfrischenden Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte
Rund um den 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer gab und gibt es eine regelrechte Flut von Rückblicken auf die Wendezeit und die DDR. Das Universitätsjournal befragte Rainer Groh, Inhaber der Professur für Mediengestaltung, zu seinem Buch »Weltall ∙ Erde ∙ Ich«.
UJ: Was bewog Sie, mit dem Buch »Weltall ∙ Erde ∙ Ich« Ihre Sicht auf das Leben in den Zeiten der DDR, der friedlichen Revolution und des dann wiedervereinigten Deutschlands darzulegen?
Rainer Groh: Ich fühle mich, das kann ich sagen, äußerst wohl in meiner Rolle hier an der Universität. Wenn ich Rückschau auf mein Leben in der DDR halte, dann frage ich mich allerdings: Wie konnte das passieren? Ganz sicher hätte es nicht funktioniert, wenn ich in harter und ehrenwerter Opposition zum DDR-Regime gelebt hätte. Und genauso wenig, wenn ich damals höhere politische oder geheimdienstliche Weihen erfahren hätte. Über die Probleme an und mit diesen Randbereichen wurden viele Bücher geschrieben. Also dachte ich mir, schreib auf, wie es sich lebte im Zwischenraum, der doch den Hintergrund meines Werdegangs bildet. Offensichtlich habe ich von dort einiges mitgenommen, das mich zunächst etliche Evaluationen und Überprüfungen überstehen und später in Bewerbungsverfahren attraktiv erscheinen ließ. Zu einem großen kulturgeschichtlichen Wurf hat es vorerst nicht gereicht. Entstanden ist ein Buch, das meine Sicht wiedergibt. Es ist also eher biografisch-authentisch als wissenschaftlich. Jene Leser, die sich wiedererkennen, sind herzlich eingeladen, ihre Erfahrungen anzuknüpfen. Natürlich sind auch jene potenziellen Leser eingeladen, die ihre ersten 20 bis 30 Lebensjahre aus unserer östlichen Sicht hinter der Mauer verbracht haben.
Das Buch trägt den Untertitel »von der Erträglichkeit der Zwischenräume«. Sie messen diesen Zwischenräumen also eine hohe Bedeutung bei – waren diese für Sie in DDR-Zeiten größer als heute oder hat sich nur die Art der »Nischen« verändert?
Die Nischen waren für einen »gelernten DDR-Bürger« des Jahrgangs 1956 leicht auffindbar. Metaphorisch gesprochen, fand das gesellschaftliche Leben in einem Tal zwischen den Gipfeln »Dafür« und »Dagegen« statt. Dort »unten« traf beispielsweise der schreibende Arbeiter auf den Kirchenmusiker. Man erkannte sich schnell und man öffnete sich. Die erträglichen Nischen sind heute immer noch da, doch sind sie sehr verteilt: Zwischen Auto und Fahrrad, zwischen Fleischwolf und Körnermühle, zwischen Gott und Darwin oder zwischen Ost und West. Zudem muss man achtgeben, dass sich die Nische nicht als Filterblase oder Echokammer entpuppt. Doch summa summarum ziehe ich heute ein Leben in vielen verteilten Nischen vor, auch wenn man sie suchen muss. Meine universelle und ewige Nische ist die Natur. Dort ist sogar die Einsamkeit auszuhalten. Damals wie heute.
»Alles ist lehrreich, das ist die Lehre.« So heißt es in Kapitel 12 Ihres Buches, in dem Sie Ihre Erfahrungen mit der Nationalen Volksarmee schildern. Welche Erkenntnisse aus Ihrer Zeit bei der »Asche« haben für Sie heute noch Bedeutung?
Ganz lebenspraktisch hat man gelernt, dass solidarisches Verhalten beim Überleben hilft. Sicher lebte man in einer besonderen Zwangslage, aber gerade in dieser ausweglosen Situation wuchs die Erkenntnis, dass es besser ist, sich freundlich miteinander zu beschäftigen. Ich weiß seitdem, dass überall – und eben nicht nur in der Uni – hochinteressante und kluge Leute zu finden sind. Diese Einsicht mag banal erscheinen, doch damals stand man als Mitglied der Intelligenz den Werktätigen als der herrschenden Klasse gegenüber. Es waren also einige Vorurteile abzubauen.
Der verklärte Blick auf die Vergangenheit ist psychologisch sicher gut zu begründen, hat aber bekanntlich seine Tücken, besonders beim Vergleich mit aktuellen Entwicklungen. Was war Ihr Konzept für das Finden einer ausgleichenden Perspektive?
Äußerer Anstoß für meinen Bericht war, dass über die alte Zeit, die Wende und die Folgezeit polarisierend und vor allem humorlos debattiert wird. Dem wollte ich begegnen. Entsprechend kann ich mein Buch nur jenen empfehlen, die Sinn für Ironie besitzen. Grundsätzlich griff ich auf die Binsenweisheit unserer Großmütter, dass die Wahrheit in der Mitte liegt, zurück. Meine Methode bestand darin, dass ich beim Erinnern und Sortieren der Funde immer nach dem heutigen Pendant gesucht habe. Und umgekehrt habe ich mich, von den heutigen Gegebenheiten ausgehend, gefragt: Gab es das früher schon und wenn ja, in welcher Form? Beispielsweise gibt es im Buch eine Passage, in der ich Seilschaften mit Netzwerken vergleiche. Freilich findet sich nicht immer eine echte Entsprechung. Aber auch bei deren Fehlen – ob nun in der frühen oder in der heutigen Zeit – können Einsichten gewonnen werden.
Die Fragen stellte Konrad Kästner.
Rainer Groh, »Weltall ∙ Erde ∙ Ich – von der Erträglichkeit der Zwischenräume«, Thelem Universitätsverlag, ISBN 978-3-95908-495-6
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 20/2019 vom 10. Dezember 2019 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.