01.12.2020
Woher kommt das europäische Wissen über die Neue Welt?
Unweit von Dresden beherbergt das Archiv der Herrnhuter Brüdergemeine einen großen Schatz: bislang kaum veröffentlichte Schriften über die Kolonialzeit
Anne Vetter
Woher wusste Karl May so viel über Nordamerika, seine Ureinwohner und die Konflikte mit den europäischen Siedlern, obwohl er nie dort war? Wieso konnte er sich bei einer drohenden Verhaftung derart überzeugend als Sohn eines karibischen Plantagenbesitzers ausgeben, dass ihn die Sicherheitskräfte zunächst nicht ins Gefängnis sperrten?
Das wüsste Alexander Lasch nur zu gerne. Seit er während seines Studiums auf die Nachrichten aus der Herrnhuter Brüdergemeine gestoßen ist, geht er davon aus, dass Karl May auch von ihren Berichten über die europäischen Übersee- Kolonien inspiriert wurde. »Als ich das erste Mal einen Blick auf die Herrnhuter Schriften werfen konnte, wusste ich, dass ein unglaublicher Schatz vor mir lag«, erzählt der heutige Professor für Linguistik an der TU Dresden. Seitdem lassen ihn die Berichte der Missionare aus der Oberlausitz nicht mehr los.
Oberlausitzer Missionare ab 1739 in Nordamerika
Nach dem, was Alexander Lasch bisher herausfinden konnte, führt ein direkter Weg von der Oberlausitz nach Nordamerika. Herrnhutische Missionare sind ab 1739 an der Westküste der heutigen Vereinigten Staaten bei den Native Americans bzw. First Nations und fertigen über ihre Arbeit umfangreiche Berichte an. Einer davon stammt von Georg Heinrich Loskiel (1789), der durch Christian Ignatius Latrobe ins Englische übersetzt wurde (1794) und zur Grundlage von John Heckewelders Arbeiten wird. Diese umfangreichen Erzählungen über die Stämme des nordöstlichen Waldlandes sind eine bedeutende Quelle für die Lederstrumpf-Erzählungen von James Fenimore Cooper: »Bekanntermaßen die Vorlage für Karl May«, erklärt Lasch. Auch das Nordamerika- Bild eines anderen berühmten Deutschen lässt sich auf Herrnhutische Berichte zurückführen: Friedrich Schleiermacher, Theologe, Altphilologe, Philosoph, Publizist, Staatstheoretiker, Kirchenpolitiker, Pädagoge und einer der wichtigsten Autoren seiner Zeit, wächst in der Gemeine auf und hatte sein kritisches Bild gegenüber den Kolonialmächten durch das Studium der Herrnhuter Schriften erlangt.
»Kann es sein«, fragt sich seither der Sprachwissenschaftler Lasch, »dass unser europäisches Wissen über die Ureinwohner Nordamerikas aus einer kleinen, 70 Kilometer von Dresden entfernten Gemeinde in der Oberlausitz stammt? Was hätte diese Erkenntnis für Konsequenzen?«
Europäische Verfehlungen drastisch beschrieben
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Siedlung der Herrnhuter Brüdergemeine Ausgangspunkt für die weltweite Glaubensarbeit – zunächst innerhalb Europas vom Baltikum über die Schweiz und die Niederlande bis nach Skandinavien und England. Kurze Zeit später erweiterten die Glaubensgeschwister ihren Wirkungsraum bis nach Nordamerika, in die Karibik, Südamerika und Südafrika. Neben ihrer Missionsarbeit war die Dokumentation über ihr Leben und all dessen, was sie erlebten, ein wesentlicher Teil ihres Tuns. »Die Herrnhuter Dokumente beschreiben die europäischen Verfehlungen in einer Drastik, die schwer auszuhalten ist. Sie machen die Brutalität deutlich, mit der Europa die Welt bis heute sortiert«, sagt Alexander Lasch. Aufgrund ihrer sehr klaren Haltung gegenüber denjenigen, die nicht Teil ihrer Glaubensgemeinschaft waren, hatten die Glaubensgeschwister einen relativ unverstellten Blick auf die Wirklichkeit. »Die, die nicht zur Gemeine gehören, sind aus der Innensicht der Gemeine gleich – egal, ob es sich um die Bewohner der Oberlausitz handelte, Siedler in Nordamerika oder in die Karibik verschleppte Sklaven«, erklärt Lasch. »Hinzu kommt, dass die Herrnhuter früh die Idee der Geschlechtergerechtigkeit lebten. Sie ist ein Ausdruck dafür, dass alle Menschen vor Gott gleich sind. Mit diesen Voraussetzungen waren sie sehr gute Beobachterinnen und Beobachter gesellschaftlicher Prozesse. Das macht ihre Quellen so unglaublich wertvoll«, führt der Wissenschaftler aus.
Menschen wie Loskiel und Heckewelder beschrieben die Vergehen der aus Europa geflohenen Siedler an den Ureinwohnern Nordamerikas. Aufgrund des Klimas und der geografischen Beschaffenheit ging es dort hauptsächlich um Siedlungsgründe. In Südamerika wiederum gab es ganz andere Ressourcen, die man wirtschaftlich ausbeuten konnte.
Am effizientesten und furchtbarsten aber funktionierte das europäische Überwachungs- und Strafsystem in der Hölle von Südsee und Karibik, wohin schwarze Afrikaner versklavt wurden. Aufgrund des Klimas ließ sich das Land gut ausbeuten und es ließen sich begehrte Produkte wie Tee, Kaffee, Schokolade und Tabak anbauen. Außerdem konnte man von den Inseln kaum fliehen. »Für dieses finsterste Loch der Kolonialgeschichte gibt es gut dokumentierte deutsche Quellen der Brüdergemeine «, so Lasch. Diese korrigieren den beschränkten deutschen Blick auf Kolonialpolitik als kurzen Zeitraum zwischen 1884 bis 1919: »Die Wirklichkeit war, dass es über Jahrhunderte aus europäischer Sicht nur darum ging, sich wichtige Rohstoffquellen zu sichern und dass es normal war, dafür andere Menschen auszubeuten. «
Im Unitätsarchiv schlummert ein riesiger Schatz
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts schickte man die weltweit vor allem in deutscher Sprache verfassten Dokumente an die Brüdergemeine in Herrnhut. Dort wurden sie kopiert und archiviert. »Im Unitätsarchiv schlummert bis heute ein Schatz, den man in Menge und Qualität so noch nicht gesehen hat«, vermutet der Wissenschaftler. Wie groß die Bestände sind, wissen momentan nur die Herrnhuter selbst. »Und sie wissen es sehr genau, deshalb ist Demut angezeigt, wenn man sich der Institution und den Beständen nähert. Mit forschem Aufklärungswillen kommt man nicht weit«, sagt Lasch. Es geht darum, »Vertrauen aufzubauen und auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten«, betont er.
Für Alexander Lasch ginge ein Lebenstraum in Erfüllung, wenn es gelänge, gemeinsam mit Herrnhutern, TU Dresden und der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) dieses große Archiv zu öffnen, in Teilen zu bergen und mittelfristig ausgewählte Quellen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein digitales Herrnhut schaffen, lautet seine Kurzformel: »Die Fülle und Qualität des Materials ist so gut und so umfangreich, dass wir es allein nicht leisten könnten, die Dokumente auszuwerten und zu aktivem Wissen in unserer Gesellschaft zu machen«, sagt der Wissenschaftler. »Auch international wäre das Thema aufgrund der weltweit tätigen Brüdergemeine spannend«, ist er überzeugt. So gibt es beispielsweise in Bethlehem, Pennsylvania zwar noch viele deutsche Quellen, aber kaum mehr jemanden, der sie lesen kann.
Welchen großen Fragestellungen künftige Wissenschaftsgenerationen auf Basis einer Quelledition nachgehen könnten, kann Alexander Lasch bereits skizzieren. »Für Linguisten sind die deutsch und englisch verfassten Quellen eine Fundgrube, wenn sie erforschen wollen, wie sich der Wandel der modernen Sprachen gestaltet. Historikerinnen und Historiker könnten mit digitaler Hilfe herausfinden, wie groß und wie vernetzt die europäische Gesellschaft ist. Erkenntnistheoretisch am spannendsten wäre, anhand der Dokumente herauszufinden, was wir von der Welt wissen und woher dieses Wissen kommt. Das ist allerdings was für Revolutionäre«, sagt er lachend.
Bei all den übergreifenden Themen bleibt für ihn letztlich auch die kleine Frage spannend, wo genau sich der Kreis zwischen Karl May und den Herrnhutern schließt: »Die Brüdergemeine hatte auch eine Innere Mission. Sie betreute Gefangene. Wer also hat Karl May die Geschichten aus Nordamerika gebracht, wer hat sie vorgelesen? Die Herrnhuter haben alles so gut dokumentiert, dass dieser Hinweis auf einen Karl May in der Lesestunde irgendwann einmal auftauchen muss«, hofft Lasch auf eine Lösung seines Herrnhut-Rätsels.
Zum Weiterlesen:
https://lingdrafts.hypotheses.org/tag/digitalherrnhut
https://www.grenzgänge.net/start/kultur/lasch-die-welt-wird-schwarz/
Aktuell in der Lehre:
https://www.gls-dresden.de/2020/09/21/koloniallinguistik/
https://youtu.be/YCe5CEzuwe0
Im Kontext der Digital Humanities:
https://www.gls-dresden.de/?s=digital+humanities
Für Neugierige:
2021 und 2022 finden zahlreiche Veranstaltungen im Rahmen des 300jährigen Jubiläums der Herrnhuter Brüdergemeine statt: https://www.kirchensaal-herrnhut.de.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 19/2020 vom 1. Dezember 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.