15.03.2022
Wollte Deutschland die Entwicklungen in Russland nicht wahrhaben?
TUD-Experten befragt: Historiker Dr. Matthäus Wehowski zu geschichtlichen Aspekten des Ukraine-Kriegs
UJ sprach zum Überfall Russlands auf die Ukraine mit Dr. Matthäus Wehowski, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) an der TUD.
UJ: Sie haben Geschichtswissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte sowie Slavistik studiert und promovierten ebenfalls in Geschichtswissenschaft. Wie bewerten Sie als Historiker den Krieg Russlands gegen die Ukraine?
Dr. Matthäus Wehowski: Als Historiker mit einer Spezialisierung auf Ostmitteleuropa ist man es leider gewohnt, sich mit Krieg und Gewalt zu beschäftigen. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder bezeichnete die Regionen zwischen Berlin und Moskau als »Bloodlands « des 20. Jahrhunderts, da es dort immer wieder zu grausamen Kriegen und Völkermorden kam. Dass es nun im 21. Jahrhundert erneut zu einem solchen Krieg kommen könnte, haben zwar einige Expert:innen befürchtet, jedoch hat es kaum jemand in diesem Ausmaß für möglich gehalten. Es ist nicht nur der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine, sondern es scheint sich tatsächlich ein Krieg zwischen den Epochen abzuspielen: Die russische Propaganda denkt in den Mustern, von denen wir geglaubt haben, dass es sich um Relikte einer längst überwundenen Zeit handelt: »Großrussischer« Nationalismus und Imperialismus. Putins Propagandamaschine greift auch eine, völlig verzerrte, Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs auf. Erneut würden sich die »faschistischen Feinde« zum Kampf formieren und die Existenz Russlands bedrohen. Putin versteht sich als »Chefhistoriker « seines Landes und hat die aktuelle Invasion bereits im Sommer 2021 mit einem historischen Essay begründet, in dem er der Ukraine jegliche eigenständige Geschichte und Kultur abgesprochen hat.
Wieviel »Sowjetunion« steckt in diesem Krieg? Anders gefragt, gibt es historische Wurzeln im ehemaligen totalitären Regime, das ja immerhin die KSZE-Schlussakte, diverse Abrüstungsverträge usw. unterschrieben und ratifiziert hatte?
Die Beziehung zwischen der sowjetischen Parteiführung in Moskau und der Ukraine war immer ein Auf und Ab zeitweiser Tolerierung und brutaler Unterdrückung. Lenin wusste, dass es nach Revolution und Bürgerkrieg schwierig war, die Ukraine in das politische System der Sowjetunion zu integrieren. Er versuchte daher zu Beginn der 1920er-Jahre, mit der Politik der »Einwurzelung« (Korenizacija) die kommunistische Ideologie mithilfe der ukrainischen Eliten zu verbreiten. Dafür war er auch zu (taktischen) Zugeständnissen an die ukrainische Nationalbewegung bereit. Als Stalin die Macht übernahm und nach 1929 seinen Personenkult festigte, begannen ab 1934 in allen Bereichen der sowjetischen Gesellschaft sogenannte »Säuberungen«. Stalin ging brutal und willkürlich gegen alle vor, die er als Feinde betrachtete. Die Ukraine war davon besonders hart betroffen, da Stalin sie mit aller Gewalt in eine »Musterrepublik« der Sowjetunion verwandeln wollte. Die Folgen der forcierten Industrialisierung und der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft war eine künstlich erzeugte Hungersnot, durch die etwa vier Millionen Menschen starben. Opfer von Stalins Gewaltpolitik wurden unter anderem ukrainische Intellektuelle, die sich für eine Eigenständigkeit der ukrainischen Kultur eingesetzt haben. Stalin rechtfertigte diese Verfolgung mit dem Kampf gegen den vermeintlichen »ukrainischen Faschismus« – dass dieser Begriff nun erneut verwendet wird, muss uns sehr große Sorgen machen. Viele Ukrainer:innen fürchten sich vor einer (erneuten) gezielten Zerstörung ihrer Kultur. Nach dem Zweiten Weltkrieg und Stalins Tod 1953 hörten Massenverhaftungen und Massenmord auf, obwohl es weiterhin zu Verfolgungen ukrainischer Intellektueller kam. Die Ukraine als Republik der Sowjetunion hatte dabei immer einen ambivalenten Charakter. So war sie einerseits integraler Teil der Sowjetunion, verfügte aber auch über einen eigenen Sitz in den Vereinten Nationen (gehörte sogar zu ihren Gründungsmitgliedern). De facto blieb die Macht allerdings bei der Parteiführung im Kreml. Nach der Unabhängigkeit 1991, der auch die mehrheitlich russischsprachigen Gebiete und sogar die Krim (wenn auch knapp) zustimmten, begann ein langsamer Prozess der politischen Transformation. Dieser wurde allerdings auch von vielen Rückschlägen begleitet und führte letztendlich zu einer großen Frustration in der Bevölkerung, die sich im November 2013 entlud. Ziel der Ukrainer:innen war nie die Zugehörigkeit zu irgendwelchen geopolitischen Machtblöcken, sondern ein Ende der post-sowjetischen Stagnation.
Hätte die Annexion der ukrainischen Krim durch Russland im Jahr 2014, die sich ja schon lange vorher anbahnte, nicht ein Warnsignal für Europas Politik sein können/müssen?
Warnsignale gab es in der Tat schon lange vorher. Putin sprach bereits 2005 vom Zerfall der Sowjetunion und der daraus hervorgehenden Unabhängigkeit der Ukraine als «größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts«. Diesen Spruch hat er seitdem ständig wiederholt und der Verweis auf die historische Größe Russlands gehörte zu seinen wichtigsten Machtinstrumenten. Der Historiker Karl Schlögel warnte schon vor Jahren vor einem »Russenkitsch« in Deutschland, der diese gefährliche Rhetorik Putins komplett ausblendete oder als Folklore verharmloste. Selbst die immer größeren Repressionen im Inneren und die immer aggressivere Außenpolitik (Tschetschenien 1999, Georgien 2008, Krim 2014, Syrien 2015) der russischen Regierung änderten daran kaum etwas. Man muss heute ehrlich nachfragen, ob man in Deutschland (auch aus ökonomischen Gründen) viele Entwicklungen in der russischen Politik nicht wahrhaben wollte. Jeder, der z.B. das russische Staatsfernsehen in der letzten Zeit aufmerksam verfolgte, wusste, dass sich die extreme Sprache gegen »den Westen« immer mehr zuspitzte. Den Ukrainer:innen sprach die russische Propaganda zudem auch vollständig die politische oder kulturelle Eigenständigkeit ab. Dass es dort, trotz aller politischen Probleme, einen friedlichen und demokratischen Machtwechsel in Regierung und Parlament gab, blendete die russische Propaganda komplett aus. Nach der Parlamentswahl 2019 gehörte nur noch einer der 450 Abgeordneten (vorher waren es sieben) des ukrainischen Parlaments einer rechtsextremen Partei (»Svoboda«) an, der berüchtigte »Rechte Sektor« scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde. Dessen ungeachtet sprachen russische Medien weiterhin von einem »faschistischen Putsch«, was sogar in Deutschland immer wieder von den extremen politischen Rändern aufgenommen und kolportiert wurde.
Sie haben Kontakte zu ukrainischen und russischen Wissenschaftlern. Wie funktionieren diese Kontakte derzeit und in welcher Verfassung befinden sich Ihre Kollegen?
Internet und Telefonverbindungen in die Ukraine funktionieren aktuell (Stand: 9. März 2022 – d. Red.) noch weitgehend problemlos. Die deutschen historischen und slavistischen Institute sind sehr gut mit Kolleginnen und Kollegen vernetzt. Die meisten sind entsetzt und erschüttert über die plötzliche und dramatische Eskalation des Krieges. Zwar haben viele eine Ausweitung des militärischen Konflikts erwartet, aber sind von Ausmaß und Intensität erschrocken. Dennoch findet eine gewisse Normalität statt, die sehr erstaunlich ist. Viele Einrichtungen, etwa auch die Universitäten, funktionieren weiter. Noch am 28. Februar habe ich mir eine wissenschaftliche Konferenz an der Kyiv School of Economics angehört. Zwischen Bombenalarm und der Beschaffung von Lebensmitteln, fertigen Forschende und Studierende weiter soziologische Untersuchungen in der Bevölkerung an oder erstellen Datenbanken, um die Kriegsschäden zu dokumentieren. Die Menschen versuchen, so gut wie es nur möglich ist, ein normales Leben zu führen. Dieser Krieg wird durchweg als ungerecht und völlig unnötig wahrgenommen. Allein die Vorstellung, dass weltoffene, multikulturelle (was auch die russische Kultur einschließt) und moderne Städte wie Kiew, Lwiw (Lemberg) oder Charkiw (das überwiegend russischsprachig ist) von »Neonazis« oder »Faschisten« regiert werden sollen, ist an Absurdität kaum zu überbieten.
Sie sind gebürtiger Pole, die Ukraine ist das Nachbarland Polens. Mit welchen Gefühlen nehmen Sie ganz persönlich diesen Krieg wahr?
Ja, und ich habe auch viele Verwandte in Ostpolen, manche sogar unmittelbar an der ukrainischen Grenze. Die Sorgen sind sehr groß und mein Großvater musste schon als Kind die Invasion durch die Deutschen miterleben; diese Erinnerungen kommen jetzt wieder hoch. Polen hat sich schon vor Wochen auf die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge vorbereitet und auch einige meiner Familienmitglieder helfen dabei mit. Es gibt eine große Welle der Solidarität. Dazu muss man auch sagen, dass in Polen bereits etwa zwei Millionen Ukrainer:innen leben, viele davon sind schon vor dem seit 2014 andauernden Krieg im Donbass geflohen. Allerdings haben meine aktuellen Gefühle weniger mit meiner polnischen Herkunft als mit meinem Forschungsschwerpunkt zu tun. Wir müssen leider beobachten, wie Jahrzehnte wissenschaftlicher, kultureller und zivilgesellschaftlicher Arbeit nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland in nur wenigen Tagen zerstört werden könnten.
Mit Dr. Matthäus Wehowski sprach Karsten Eckold.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 5/2022 vom 15. März 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden