14.11.2022
Fehlannahmen zu Lehr-Lern-Prozessen im Lehramtsstudium begegnen
Viele Studierende beginnen ihr Lehramtsstudium mit falschen Annahmen über psychologische bzw. neurologische Prozesse beim Lernen. Diesen verbreiteten Fehlkonzepten begegnet die Professur für Berufspädagogik der TU Dresden in ihren Lehrveranstaltungen in der Frühphase des Studiums.
Im Wintersemester bietet die Professur für Berufspädagogik ihre Lehrveranstaltungen zur Gestaltung berufsbildender Lehr-Lern-Prozesse an. Studierende im dritten Fachsemester setzen sich ein ganzes Semester lang vor ihrem Blockpraktikum A mit Unterrichtsplanung auseinander. Gleich zu Beginn werden subjektive Theorien zu effektivem Unterricht thematisiert. Die Studierenden tragen dazu ihre Annahmen auf einer digitalen Pinnwand ein, können Beiträge positiv bewerten oder kommentieren. Kommentare zur Bedeutung unterschiedlicher Lerntypen sind ein häufiger auftretendes Beispiel von Fehlannahmen. Spannend war dieses Mal zu Beginn, dass auch den sechs neu gestarteten internationalen Studierenden im Masterstudiengang Vocational Education (Venezuela, Indonesien, Mexiko, Kolumbien, Costa Rica, Usbekistan) diese Lerntypentheorie bekannt war und diese als relevant eingestuft wurde. Der Theorie nach unterscheiden sich Personen darin, auf welche Sinne sie beim Lernen bevorzugt zurückgreifen (visuell, auditive, haptische und intellektuelle Lerntypen). Die Theorie wurde in den 1970er Jahren von Frederik Vester entwickelt und findet bis heute große Resonanz. Aus Sicht der psychologischen und bildungswissenschaftlichen Forschung ist sie jedoch widerlegt und überholt. Unter anderem stellt Kirschner (2017) dieses pädagogische Konstrukt kritisch auf den Prüfstand.
Laut Krammer et al. (2019) sind neurologische Fehlkonzepte im Lehramtsstudium weltweit verbreitet. In Ihrer Studie konfrontierten sie 582 Lehramtsstudierende mit 20 neurologischen Mythen und 20 neurologischen Fakten, die im Zusammenhang zu Lern- und Gedächtnisprozesse stehen. Im Ergebnis zeigte sich interessanter Weise, dass die Kenntnis von Fakten dazu führte, dass auch mehr Mythen als falsch identifiziert wurden (r= 0,22, p< 0,001). Gleichzeitig zeigte sich aber auch das Gegenteil, nämlich je mehr Fakten man wusste, desto mehr Mythen wurden geglaubt (r= 0,31, p< 0,001). Daraus wird geschlussfolgert, dass „Neurofakten und Neuromythen weitgehend unabhängig voneinander sind“ (S. 236) und es daher wichtig ist, in der Lehramtsausbildung nicht nur neurowissenschaftliches Wissen zu präsentieren, sondern auch bewusst die Neuromythen zu diskutieren. Besonders wichtig erscheint das für Mythen, die sich ungünstig auf Unterricht auswirken können, z.B. „Lernschwierigkeiten, die in Verbindung mit entwicklungsbedingten Unterschieden in der Gehirnfunktion stehen, können nicht durch Bildung korrigiert werden.“ (Kramer et al., 2019, S. 224).
Dass sich solche Mythen so lange halten, hängt natürlich auch damit zusammen, dass sie immer wieder repliziert werden. Bei Benutzung einer Suchmaschine zum Stichwort „Lerntypen“ kommt sofort eine Vielzahl an Hinweisen und Angeboten, welche dem Fehlkonzept anheimfallen. Nutzt man hingegen bei der Suche die Fachdatenbank FIS, so erscheint gleich an zweiter Stelle die Publikation von Kramer et al. (2019). Jennifer Fischer (Universität Mainz) hat gerade erst zur Jahrestagung der DGfE in einem Vortrag Studienergebnisse präsentiert, die zeigen, dass Lehramtsstudierende die vorhandenen Datenbanken nur unzureichend nutzen. Das unterstreicht die Bedeutung empirischer Forschung für die Lehrkräftebildung.
„Ich selbst hatte 2011 noch an der Ausbildungsstätte eine ganze Veranstaltung zum Thema Lerntypen, deren Inhalte ich später im Unterricht in der Erzieher:innenausbildung weiterverbreitete. Inzwischen sind wir u.a. durch den Arbeitskreis berufliche Bildung gut mit der 2. Phase der Lehrer:innenbildung vernetzt und weisen die Hauptausbildungsleiter:innen auf aus unserer Sicht wichtige Forschungsergebnisse hin“, so Peter Schulze, der als Lehrkraft im Hochschuldienst an der Professur für Berufspädagogik tätig ist. Auch ins Team der Lehrkräfte im Hochschuldienst können solche Erkenntnisse eingebracht und damit schulartübergreifend thematisiert werden. Damit darf man gespannt sein, ob nach und nach auch der Mythos der Lerntypen unter den Lehramtsstudierenden selbst zum Mythos wird.
Verwendete Literatur:
- Bruyckere, P. de, Kirschner, P. A. & Hulshof, C. (2019). Urban myths about learning and education. LONDON: Routledge.
- Kirschner, P. A. (2017). Stop propagating the learning styles myth. Computers & Education 106, 166–171. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0360131516302482.
- Krammer, G., Vogel, S. E., Yardimci, T. & Grabner, R. H. (2019). Neuromythen sind zu Beginn des Lehramtsstudiums prävalent und unabhängig vom Wissen über das menschliche Gehirn. Zeitschrift für Bildungsforschung 9 (2), 221–246. doi:10.1007/s35834-019-00238-2