Beton-Bunker
Frau H. ist neu an ihrer Schule. Schnell bemerkt sie, dass die Schüler*innen scheinbar ungern in der Schule sind. Es wirkt fast so, als würden sie den Tag schnell rum bekommen wollen und dann direkt wieder die Schule verlassen. Einmal hat sie in der Pause aufgeschnappt, wie eine Schülerin meinte, dass sie niemanden kennt, der gerne in diesen Beton-Bunker geht, so grau und trostlos wie der aussieht.
Frau H. plant mit ihrer Klasse, im Rahmen ihrer Unterrichtsstunden, ein zweiwöchiges Projekt zur Schulhausgestaltung durchzuführen. Am besten gleich nächste Woche, scheint das Thema für sie doch sehr aktuell. Die Schüler*innen sollen in Kleingruppen ausgewählte Gestaltungskonzepte diskutieren und dann abstimmen. Für kurze Zeit scheinen die Schüler*innen motivierter, am Unterricht teilzunehmen. Eine sonst eher schüchterne Schülerin brachte in einer Sitzung sogar einen eigenen Entwurf für ein Graffiti ein, welchen die Klasse mit großer Begeisterung aufnahm. Frau H. ist glücklich, scheinbar einen guten Riecher gehabt zu haben. Nach Abschluss des Projekts, fragt eine Schülerin, wann sie loslegen können. Frau H. antwortet zögerlich, dass sie das erst mit der Schulleitung besprechen muss. Diese muss dem zustimmen. Die Schüler*innen sind nun sichtlich frustriert und traurig. Frau H. ist sich nicht mehr sicher, ob das Projekt wirklich eine gute Idee war.
Eigentlich hat Henrike Freude am Lernen, doch zu Schule geht sie nicht gern. Zwar trifft sie dort ihre engsten Freund*innen und hat oft Spaß, doch im Schulhaus fühlt Henrike sich immer unwohl. Sie empfindet das Gebäude als wahnsinnig trostlos und grau und sie versteht nicht, wie Menschen auf die Idee kommen, so einen Betonklotz als Schule zu bauen. In ihren Lieblingsserien sehen die Schulgebäude immer so cool aus! Auch Henrikes Mitschüler*innen geht es so. Sie gehen dann nach der Schule lieber schnell in den Park oder alternative Jugendclubs. Als Henrikes neue Klassenlehrerin mit der Idee kam, ein Projekt zur Schulgestaltung durchzuführen, war nicht nur Henrike total begeistert. Endlich passiert hier mal was. Henrike fing an, die Schule anders zu sehen und Ideen zu entwickeln, was noch so alles möglich wäre. In der Pause meinten Mitschüler*innen, sie fänden ein gemeinsam gestaltetes Graffiti total schön. Leider kennen sie aber niemanden, der das umsetzen kann. Graffitis sind jedoch schon lange ein großes Hobby von Henrike. Nur hat sie noch niemandem davon erzählt. Die Vorstellung, mit einem eigenen bei der Gestaltung der Schule mitzuwirken, animiert sie, sich auch außerhalb der Schule weiter mit dem Thema Wandgestaltung auseinanderzusetzen.
Am nächsten Tag nimmt Henrike ihren Mut zusammen. Sie stellt einen eigenen Entwurf für ein Graffiti vor und bietet an, es auch umzusetzen. Die Klasse ist begeistert und möchte Henrikes Idee realisieren. Glücklich und motiviert fragt Henrike ihre Lehrerin, wann sie loslegen können. Als diese antwortet, dass das erst mit der Schulleitung besproche werden muss, verflog Henrikes Zuversicht. Die Schulleitung hat noch nie was erlaubt. Das hat alles gar nichts gebracht.
- Gehört es zum Aufgabenbereich von Lehrenden, sich um die Schulgestaltung zu kümmern?
- Warum schlägt die Motivation der Lernenden in Frust und Demotivation um?
- Wie kann die Umsetzung von Mitbestimmung im schulischen Rahmen gelingen?
Weiterführende Fragen:
- Was bewirkt der fehlende, gemeinsame Umgang mit Rückschlägen? Lesen Sie dazu mehr im Fundus unter "Resilienz für alle".
- Welchen Einfluss hat die Architektur des Gebäude auf die Lernmotivation? Lesen Sie dazu ein Intreview mit Prue Chiles, die sich als Architektin auf Schulgebäude spezialisiert hat. Außerdem hat die Stadt Zürich 2010 die Broschüre "Gestaltung von Schulbauten. Ein Diskussionsbeitrag aus erziehungswissenschaftlicher Sicht" herausgegeben.
Was hat Schulhausgestaltung mit Lernen und Entwicklung zu tun?
Lehrende haben viele Aufgaben, die Gestaltung des Schulhauses gehört nicht dazu. Dennoch sollten die Augen und Ohren auch vor außergewöhnlichen Lern- und Entwicklungsgelegenheiten nicht verschlossen werden. Eine solche hat Frau H. im Fall erkannt. Die Lernenden fühlen sich im Schulgebäude nicht wohl und sind nicht gerne an diesem Ort. Das bedeutet, bevor Lernprozesse überhaupt stattfinden können, sind Lernen und Entwicklung bereits durch negative Emotionen beeinflusst (Lesen Sie dazu mehr unter “Unangenehme Stimmung hier”). Frau H. hat dies bemerkt und hat beschlossen, ein Thema, das für die Lernenden relevant ist, zum Unterrichtsthema zu machen. Ihr gelingt es durch die Ausrichtung des Lehr-Lern-Settings an den Bedürfnissen, Ideen und Interessen der Lernenden, Motivation und positive Gefühle zu initiieren. So ermöglicht Frau H. den Lernenden eine individuelle Sinnkonstruktion und gemeinsame Bedeutungsaushandlung. Schulhausgestaltung ist nur ein Beispiel dafür, dass sich Fragen aus der Lebenswelt der Lernenden oft mit unterrichtsrelevanten Themen verbinden lassen. Weiterhin ermöglicht Frau H. durch diese Verbindung und die Projektform den Lernenden vorerst Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit. Mitbestimmung ist zentral für die Entwicklung von Motivation und somit wichtiger Faktor für gelingende Lern- und Entwicklungsprozesse (Besand, Hölzel, Jugel 2019: 104). „Wenn Schüler*innen wahrnehmen, dass sie sich in dem Angebot weiterentwickeln können und es Möglichkeiten zur Anerkennung gibt, nach der jede*r sucht, können sie selbst wirksam werden und ein Angebot als nachhaltig interessant und wertvoll empfinden.“ (ebd.). Im Fall wird dies besonders an Henrike sichtbar. Henrike, die sich in der Schule unwohl fühlt, beginnt durch das Projekt nicht nur, sich wohler zu fühlen. Sie entdeckt eigene Anschlussstellen an individuelle Interessen, kann diese einbringen und im gemeinsamen Prozess mit ihren Mitschüler*innen Lösungen finden. Es entsteht dabei ein überindividueller Erkenntnisraum. Warum dies wichtig ist, können Sie im Erklärvideo “Lernen und Entwicklung verstehen” erfahren. Die Lernenden fühlen sich angesprochen, ernst genommen und können Sinn und Bedeutung in den Themen entwickeln und erkennen. Mehr zur Bedeutung von gemeinsamer Sinn- und Bedeutungskonstruktion können Sie im Fall „Weil das im Lehrplan steht“ erfahren.
Es geht also vor allem darum, Anschlussstellen an die Lebensrealität der Schüler*innen zu finden. So kann ein Thema sinn- und bedeutungsvoll werden und ermöglicht ihnen, Mitbestimmung und Wirksamkeit zu erleben. Wie genau Mitbestimmung die Motivationsentwicklung bestimmt, können Sie unter “Mitbestimmung ermöglichen” nachlesen. Außerdem liest IN*GE "Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation" von Edward Deci und Richard Ryan, wo der Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung, Motivation und der individuellen Entwicklung aufgeschlüsselt wird. Allgemeine Informationen zu Motivation finden Sie unter „Interesse wecken“.
Warum schlägt die Motivation in Frust und Demotivation um?
Auch dies lässt sich exemplarisch an Henrikes Verhalten nachvollziehen: Zunächst wird Henrike, als sonst eher zurückhaltende Schülerin, die sonst wenig Interesse und Motivation an Schule und Unterricht mitbringt, im Rahmen des Projektes aktiver. Sie bringt eigene Ideen ein und entwickelt über das Schulsetting hinaus Interesse am Thema. Henrike ist motiviert, wächst sogar über sich hinaus, indem sie ein Stück ihrer Schüchternheit ablegt. Diese Verhaltens- und Motivationsänderung entsteht vor allem aufgrund des Ausblicks auf Selbstwirksamkeit und Zusammenarbeit in der Klasse. Dieser Effekt löst sich jedoch in dem Moment auf, als herauskommt, dass die Umsetzung nicht endgültig geklärt ist. Henrike weiß um die Zurückhaltung der Schulleitung. Die Aussicht auf Selbstwirksamkeit wird genommen und das Gefühl der Mitbestimmung aufgelöst. Frau H. ist in die Scheinfalle getappt. Denn auch wenn Frau H. den Lernenden Selbstwirksamkeit und Mitbestimmung ehrlich ermöglichen wollte, hat die fehlende Absprache den gegenteiligen Effekt. Der Lebensweltbezug und die Aufnahme von Problemen und Interessen fühlen sich für die Lernenden nun an, als wären sie lediglich „Mittel zum Zweck“. Sie fühlen sich in ihren Bedürfnissen nach Mitbestimmung und ihren individuellen Interessen nicht mehr ernst genommen. Tappen Lehrende in die Scheinfalle, nimmt nicht nur die Motivation der Lernenden ab. Es werden auch negative Erfahrungen gesammelt und negative Zukunftserwartungen aufgebaut, sowohl hinsichtlich des Themas, des Faches, als auch bezüglich der Lehrperson. Dies kann langfristig Lern- und Entwicklungsprozesse hemmen. Impulse dafür, in welcher Form Lernende echte Mitbestimmung erleben können, bietet der Fundus unter „“Mitbestimmung ermöglichen“. Außerdem hat IN*GE mit Schüler*innen und Lehrpersonen einer Schule gesprochen, die seit vielen Jahren Mitbestimmung durch ein schulübergreifendes Demokratieprojekt ermöglicht.
Wie kann die Umsetzung von Mitbestimmung im schulischen Rahmen gelingen?
Mitbestimmung kann schon mittels kleiner Methoden im regulären Unterricht umgesetzt und ermöglicht werden. Sie beginnt beispielsweise schon bei der Auswahl des Lerngegenstands oder den Formen der Auseinandersetzung. Durch eine Abfrage der Interessen und Vorstellungen der Lernenden zum Thema, können Lerngegenstände subjektorientiert ausgewählt werden. Werden Lernende in diesen Prozess aktiv einbezogen, können sie Teilaspekte selbständig bearbeiten oder durch Methoden wie Stationsarbeit oder Lerntheken ihren Lernpfad selber bestimmen (Besand, Hölzel, Jugel 2019:104). Es geht darum, den Ideen, Bedürfnisse und Interessen der Lernenden in der Planung und Begleitung von Lern- und Entwicklungsprozessen Raum zu geben, sodass sie entsprechend ihrer Bedarfe mitentscheiden können, „wann sie wie lernen“ (Kracke 2021: 39). In welchen Formen das gelingen kann und worauf zu achten ist, können Sie im Fundus unter „Mitbestimmung ermöglichen“ nachlesen. Aber auch komplexe Methoden, wie bspw. die Projektmethode, eröffnen den Lernenden Möglichkeiten von Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit. Zwar wird die Projektmethode eher zu den organisatorisch herausfordernden Methoden gezählt, dennoch ist sie bezüglich der Mitbestimmung eine der erfolgversprechendsten. Jedoch müssen dabei verschiedene Aspekte beachtet werden, damit nicht, wie im vorliegenden Fall, Schein-Mitbestimmung entsteht und Frustration vermieden wird. Frau H. hätte bereits bei der Projektinitiative die Lernenden einbeziehen müssen, um im Verlauf Inhalte und Ziele gemeinsam auszudiskutieren. Auch die Kommunikation mit der Schulleitung, Umgang mit möglichen Rückschlägen oder Ablehnungen sollten vorab diskutiert werden. Gerade mit Blick auf mögliche Fehlschläge ist die gemeinsame Erfahrung sowie der Umgang mit dem Fehlschlag bedeutsam für Lernprozesse. Indem sie zum Teil des Projektes und demnach auch zum Bestandteil von Lern- und Entwicklungsprozessen werden, wird ein kooperativer Umgang mit ihnen ermöglicht. Daraus entstehende Erkenntnisse unterstützen die Entwicklung von Problemlösefähigkeiten und stärken Resilienz.
Warum sollte es in der Zuständigkeit der Lehrperson liegen, sich um die Schulgestaltung zu kümmern?
- Wofür fühle ich mich verantwortlich
- Welche Faktoren, die Lernen beeinflussen, denke ich mit?
- Welche lernhinderlichen Faktoren hab ich bisher wenig oder gar nicht berücksichtigt?
- Warum habe ich diese Faktoren nicht im Blick?
- Haben die Lernenden die Möglichkeit, für sie lernhinderlinge Faktoren zu beschreiben?
Erfahren Sie mehr zu Lern- und Entwicklungsprozessen unter Lernen und Entwicklung verstehen. -
Welche räumlichen/architektonischen/gestalterisches Aspekte der Institution, in der ich lehre, könnten Einfluss auf die Lernenden haben und wie?
Warum schlägt die Motivation in Frust und Demotivation um und wie kann die Umsetzung von Mitbestimmung gelingen?
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An welchem Punkt von Projekten beziehe ich die Schüler*innen mit ein?
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Welche Erfahrungsmöglichkeiten eröffne ich den Lernenden im Projekt?
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Vermeide ich von vornherein, dass Rückschläge möglich sind oder schaffe ich Raum, in dem mit diesen konstruktiv und wertschätzend umgegangen und gelernt werden kann?
Lesen Sie unter „Projektmethode" mehr dazu, wie die Umsetzung eines Projektes gelingen kann. -
Welche (anderen) Formen von Mitbestimmung eröffne ich den Lernenden?
Unter „Mitbestimmung ermöglichen“ bietet der Fundus Impulse dazu, wie Mitbestimmung in Lehr-Lern-Setting gelingen kann. -
Biete ich den Schüler*innen die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse einzubringen?
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Bin ich möglicherweise selber schon einmal in die Schein-Falle getappt?
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Was war mein Beweggrund, diese Form der Mitbestimmung zu nutzen?
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Wie hätte ich die Schüler*innen mitbestimmen lassen können, ohne in die Schein-Falle zu tappen?
Wenn Sie eine solche Situation haben und diese gemeinsam mit Kolleg*innen reflektieren wollen, finden Sie im Fundus unter „Kollegiale Fallberatung“ Hinweise zur Planung und Durchführung dieser Beratungsform. Außerdem hat IN*GE mit Hannah Bartels zur Kollegialen Fallberatung gesprochen.
Scheinfalle
Manchmal entpuppen sich Abstimmungen und Kooperationsangebote als leere Versprechungen, bei denen die Lernenden am Ende nicht wirklich etwas mitbestimmen und miteinander kooperieren können. Dies führt zu Frustration. Kooperation und Beteiligung müssen tatsächlich stattfinden und zu positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen führen. Beteiligung und Aktivität der Lernenden am Lehr-Lern-Prozess ist nicht nur Gelingensbedingung, es fördert positive Emotionen und gute Erfahrungen.
Intransparenzfalle
Nicht immer können Lernende jedes Detail mitbestimmen. Das ist nicht schlimm, doch werden gesetzte Rahmenbedingungen nicht transparent gemacht, tappen Lehrende schnell in die Intransparenzfalle. Intransparenz lässt Lernende mit Fragen, warum etwas ist, wie es ist allein. Das führt zu Unsicherheiten im Lernprozess und kann demnach Lernen und Entwicklung hemmen. Machen Sie hingegen Rahmenbedingungen sichtbar und verständlich, können Lernende diese besser nachvollziehen und werden dadurch bei der Orientierung im Lernprozess unterstützt.
Einzelkampffalle
Die Umsetzung von Mitbestimmung im Lehr-Lern-Setting bedarf nicht nur Kooperation zwischen den Lernenden, sondern auch der Lehrenden untereinander. Versuchen Lehrende kooperative und durch Lernende bestimmte Formate als Einzelkämpfer*innen umzusetzen, werden vielfältige Möglichkeiten der Auseinandersetzung verwehrt. Werden solche Angebote hingegen von verschiedenen Lehrenden gemeinsam entwickelt und umgesetzt, entlastet das nicht nur die Lehrenden. Auch die Verknüpfungen zwischen verschiedenen Themengebieten können so sichtbar und zugänglich für die Lernenden gemacht werden.