Student*in zweiter Klasse
Sophie ist Fachdozentin an der Universität. In ihren Veranstaltungen sitzen sowohl Fach- als auch Lehramtsstudierende. Sophie selbst macht keine Unterschiede zwischen diesen Studierendengruppen. Sie kennt allerdings ein paar Vorurteile gegenüber Lehramtsstudierenden aus dem Kollegium.
Neulich kam es trotz der Gleichbehandlung aller Studierenden zu einer eigenartigen Situation in einem von Sophies Seminaren. Als eine Person, die Lehramt studiert, das Ergebnis einer Aufgabe vorstellte, hörte man plötzlich Gelächter. Im Anschluss pakten mehrere Lehramtstudierende ihre Sachen und verließen den Seminarraum. Das Gelächter kam wohl von Fachstudierenden. Sophie hat keine Ahnung, was da eigentlich passiert ist.
Gerit ist Lehramtsstudent. Gerit studiert also Erziehungswissenschaften sowie zwei spätere Unterrichtsfächer mitsamt deren Fachdidaktiken (gilt für Lehramt an Oberschulen, Gymnasien und Berufsbildende Schulen, Grundschullehramt ähnlich). Für die fachlichen Inhalte besucht Gerit Vorlesungen und Seminare, die auch Bachelor- und Masterstudierende der Fachwissenschaft belegen. Oft ist das nicht leicht. Auch Gerit kennt Situationen wie von Dozentin Sophie im Fall beschrieben. Daher traut sich Gerit schon nicht mehr, in den fachwissenschaftlichen Veranstaltungen etwas zu sagen oder Fragen zu stellen. Die Angst vor einer Bloßstellung durch die Fachstudierenden ist groß. Denn den Fachstudierenden scheint meist alles klar zu sein. Sie wirken genervt, wenn Fragen gestellt werden. Gerit hat zunehmend das Gefühl, dumme Fragen zu stellen und keine Ahnung vom Thema zu haben. Auch die Dozierenden haben anscheinend oft kein gutes Bild von den Lehramtsstudent*innen, was die Situation nicht besser macht. Er fragt sich, ob da ein Zusammenhang besteht.
Fragen die sofort hier beantwortet werden:
- Was wird bezüglich des Verhältnisses zwischen den Studierenden sichtbar?
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Wie kann die Lehrperson auf diese Situation reagieren?
Fragen die an anderer Stelle beantwortet werden:
- Kann die Lehrveranstaltung auch inhaltlich so gestaltet werden, dass sich die Lehramtsstudierenden mehr angesprochen fühlen? Lesen Sie weiter beim Fall "Keine Praxisrelevanz?!"
- Warum schneiden Lehramtsstudierende in der Wahrnehmung der Lehrenden schlechter in fachwissenschaftlichen Prüfungen ab? Der Fall "Bestehen reicht denen..." kann hier einige Ansätze zum Verständnis und Perspektivwechsel liefern
Was wird bezüglich des Verhältnisses zwischen den Studierenden sichtbar?
Was zunächst vielleicht wie eine überkonstruierte Situation im Fall anmuten mag, ist einer der Autorinnen des Fundus Inklusion tatsächlich so im Lehramtsstudium an der TU Dresden passiert. Sie und ihre Kommiliton*innen beziehungsweise deren Gruppenergebnis wurde in einem Fachseminar von einer Gruppe Fachstudierender ausgelacht. Gegangen ist damals niemand, aber dennoch hat die Situation langfristig emotional nachgewirkt. Bis heute ist sie als negative Erfahrung in Erinnerung geblieben. Die Situation führte bei den belächelten Studierenden:
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zu Angst vor dem nächsten Seminar und einer erneuten Bloßstellung durch die Fachstudierenden,
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zum Hinterfragen des eigenen Könnens,
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zur Frage nach der Rolle von Lehramtsstudierenden an der TU Dresden sowie
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zum Wunsch nach einer Reaktion durch die Lehrperson.
Es scheint also - zumindest in einigen fachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen - Spannungen zwischen Lehramts- und Fachstudierenden zu geben. Auch Gerit macht diese Spannungen im Perspektivwechsel sichtbar.
2016 hat im Rahmen der ersten Förderphase von TUD-Sylber eine Datenerhebung unter Dozierenden, Mittelbauvertreter*innen und Lehramtsstudierenden der TU Dresden stattgefunden. Diese hat ergeben, dass einige Vorurteile gegenüber Lehramtstudierenden bestehen. Diese Vorurteile scheinen sich auch auf die Fachstudierenden zu übertragen. Wodurch Angst, Unsicherheit, Scham und weitere negative Emotionen Lernen und Entwicklung erschweren oder sogar unmöglich machen. Daher ist es Aufgabe der Dozierenden, eine von positiven Emotionen getragene Atmosphäre zu schaffen. Dazu zählt auch, sich den möglichen Spannungen zwischen den Studierenden zu widmen. Denn ein Umfeld - in dem Vorverurteilungen und ein Gefühl der Unsichtbarkeit zum Erfahrungsschatz zählen - kann nicht als angenehm, sicher und angstfrei gelten.
Wie kann die Lehrperson auf diese Situation reagieren?
Sophie ist es in der beschriebenen Situation nicht gelungen, eine sichere und angstfreie Lernatmosphäre für alle Lernenden zu schaffen. Diese wäre jedoch Ausgangspunkt, um Lernen und Entwicklung überhaupt erst zu ermöglichen. Es gehört zu den pädagogischen Aufgaben, eine mit positiven Emotionen verknüpfte Lernatmosphäre zu schaffen. Es genügt jedoch nicht, diese zu planen. Die Lehrperson muss auch situativ und spontan agieren, um diese Atmosphäre erhalten zu können. Beispielsweise indem reflektiert wird, ob das Lehrendenhandeln die psychische Grundbedürfnisse der Lernenden berücksichtigt. Dazu zählen:
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das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle,
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das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und -schutz sowie
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das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung (Grawe 2004: 192-303).
Die Bedürfnisse der Lehramtsstudierenden nach Selbstwerterhöhung und -schutz sowie nach Lustgewinn und Unlustvermeidung wurden im geschilderten Fall beispielsweise nicht erfüllt. Zugegebenermaßen hatte die Lehrperson im Fall auch kaum Zeit hier nachzusteuern und auf die Situation angemessen zu reagieren, da die Lehramtsstudierenden im Beispiel mit Rückzug auf die Verletzung reagiert haben. Ein zeitnahes Nachsteuern wäre ansonsten jedoch dringend geraten, um die Situation zu entschärfen und Lernen und Entwicklung wieder für alle zu ermöglichen.
Was wird bezüglich des Verhältnisses zwischen den Studierenden sichtbar?
- Kann die Lernatmosphäre als sicher und angstfrei eingeschätzt werden?
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Würde ich mich, wenn ich in meiner Lehrveranstaltung Studierende*r wäre, sicher und angstfrei fühlen?
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Kenne ich potentielle emotionale Trigger meiner Lernenden und versuche ich diese entsprechend zu beachten und nicht auszulösen?
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Schaffe ich Möglichkeiten zum sicheren und angstfreien Austausch zwischen den verschiedenen Studierenden?
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Ermuntere ich zur gegenseitigen Perspektivübernahme?
Wie kann die Lehrperson auf diese Situation reagieren?
- Beziehe ich klar Stellung zu unangebrachtem Verhalten unter den Studierenden und schütze damit den Selbstwert der angegriffenen Parteien?
- Berücksichtige ich anhand meines aktuellen Handelns die psychischen Grundbedürfnisse Bindung, Orientierung und Kontrolle, Selbstwerterhöhung und -schutz sowie Lustgewinn und Unlustvermeidung (Grawe 2004: 192-303) der Lernenden?
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Habe ich versucht, aus der Perspektive der Lernenden mögliche Alternativen für mein Handeln zu reflektieren und auszuprobieren?
Alle Stolperfallen auf einen Blick finden Sie im Bereich Reflektieren.
Etikettierungsfalle
Sophie selbst versucht Studierende individuell zu betrachten und nicht mit verallgemeinerten Gruppenzuschreibungen zu etikettieren.
Nichtsdestotrotz kennen Lehramtsstudierende es nur zu gut, von Dozierenden oder Fachstudierenden mit teilweise verletzenden Etiketten versehen zu werden. So bleiben Einzigartigkeit und individuelle (Lern)Bedürfnisse unberücksichtigt.
Gleichbehandlungsfalle
Sophie versucht alle Studierenden gleich zu behandeln, weil sie meint, dann ginge es fair zu. Da unterschiedliche Lernende jedoch mit verschiedenen Studienrealitäten (Strukturen der Studiengänge, Anforderungen) konfrontiert sind, kann dies zu Lernbarrieren führen. Erst durch den Ausgleich ungleicher Startbedingungen durch Ungleichbehandlung kann Chancengerechtigkeit entstehen.
Homogenisierungsfalle
Wenn alle Studierenden zu einer homogenen Masse verschmelzen, wird es unmöglich, ihre unterschiedlichen Studienrealitäten wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren.
So scheint es in Sophies spezifischer Lerngruppe so zu sein, dass die Lehramtsstudierenden "Schutz" gegenüber unfreundlichen anderen Studierenden benötigen. Damit der Lernraum sicher und angstfrei bleibt oder wieder werden kann.