Wie beeinflusst die emotionale Atmosphäre das Lernen?
Lernen und Entwicklung sind die obersten Ziele pädagogischer Einrichtungen. Somit liegt es in der Verantwortung der am Lernprozess beteiligten Fachkräfte, eine Grundlage dafür zu schaffen, dass diese Ziele von allen Lernenden erreicht werden können. Aus der Forschung wissen wir, dass positive Emotionen das Gehirn für Lernprozesse öffnen, während emotional negativ aufgeladene Situationen den Menschen für das Lernen verschließen (Steffens 2016: 34 nach Vygotskij 2001: 162). Damit das Lernumfeld für alle lernförderlich ist, gehört es somit auch zu den pädagogischen Aufgaben, eine mit positiven Emotionen verknüpfte Lernatmosphäre zu schaffen.
Dies kann durchaus herausforderungsreich sein, denn alle am Lernprozess beteiligten Personen starten mit unterschiedlichen Ausgangsemotionen. So gibt es durchaus Lernende, die von einer eher negativen emotionalen Lernausgangslage betroffen sind, was einen starken Einfluss auf deren Wahrnehmung der Lernsituation hat (Kreische
2021: 222). Es genügt also nicht, eine emotional positive Lernatmosphäre zu planen. Die Lehrperson muss auch situativ und spontan agieren, um diese Atmosphäre erhalten zu können. Positive Lernerfahrungen ebnen zudem den Weg für zukünftiges Lernen und sind für alle Beteiligten auch eine Quelle für Resilienz (z.B. Diers 2016, Grams Davy 2017, Kreische 2021).
Wie hat das Lehrendenhandeln die Situation beeinflusst?
Das Problem der im Fall beschriebenen Situation besteht darin, dass gegensätzliche Emotionen und Interessen aufeinandertreffen. Einerseits haben wir Jules, der mit überwiegend negativen Emotionen zum Unterricht kommt. Es ist anzunehmen, dass das Zuspätkommen und Rechtfertigen vor der Klasse nun weitere negative Emotionen wie Scham oder Angst in ihm hervorruft. Jules ist dennoch bewusst, dass er durch die Verspätung eine Regel verletzt hat und bittet dafür um Entschuldigung. Damit zeigt er trotz seiner derzeitigen negativen emotionalen Situation Weitsicht und Verständnis für die Gesamtumstände. Vermutlich würde Jules jetzt eigentlich gern allein sein, um weiter nachdenken zu können. Dem Unterricht kann er, wie wir aus dem Perspektivwechsel wissen, gerade ohnehin nicht gut folgen.
Demgegenüber haben wir Florin. Sie scheint viel Wert auf Ordnung und Routinen zu legen. Für sie ist das Zuspätkommen von Jules eine Störung dieser Routinen. Daher scheint sie auch nicht gewillt, weiter auf Jules aktuelle Emotionen und Bedürfnisse einzugehen. Florin ist so stark in ihren Routinen verhaftet, dass sie scheinbar nicht darüber reflektiert, was es für Jules bedeuten könnte, nun auch noch zur mündlichen Kontrolle vor die Klasse gerufen zu werden. Zudem hat die Lehrperson zuvor kaum auf Jules Erklärung und Entschuldigung reagiert. Vielleicht fühlt er sich aufgrund dessen unverstanden, ignoriert oder allein gelassen. Er wird außerdem mit einer - auch unter normalen Umständen - Stress, gegebenenfalls auch Angst oder Scham auslösenden Prüfungssituation konfrontiert. Aus Jules Sicht sollte die Lehrperson aufgrund seiner vorgebrachten Erklärung nachvollziehen können, wie es ihm geht. Möglich wäre es daher, dass das Verhalten der Lehrperson Unverständnis, oder sogar Zorn in ihm auslöst. Denn er könnte das Aufrufen zur Leistungskontrolle als ungerechtfertigte Sanktion wahrnehmen - er hat schließlich sogar um Entschuldigung für das Zuspätkommen gebeten. Zusätzlich gehört eines der ihn beäugenden Augenpaare seinem Freund, mit dem er zuvor Streit hatte.
Natürlich hat die Lehrperson nicht den Vorteil, alle Hintergründe und Informationen so genau zu kennen, wie wir es durch den Fall und den Perspektivwechsel tun. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier ein fehlendes Gespür für die emotionalen Bedürfnisse der Lernenden. Die Lehrperson scheint vor allem auf Inhalte und Routinen fokussiert und vergisst dabei, dass Lernen und Entwicklung in Begleitung negativer Emotionen ohnehin kaum möglich sind. Auch für die anderen Lernenden ist es nicht unerheblich, wie die Lehrperson auf die Situation reagiert. Beispielsweise könnten empathische Lernende Mitleid mit Jules empfinden. Was auch deren weitere Motivation, Konzentration und Interessen beeinflussen könnte. Warum meldet sich beispielsweise niemand für die mündliche Kontrolle? Ein Grund könnte sein, dass die Atmosphäre allgemein eher als unsicher wahrgenommen wird.
Überhaupt nicht auf die emotionalen Bedürfnisse im Klassenraum einzugehen, kommt daher einem Vertrauensbruch in der Lehrenden-Lernenden-Beziehung gleich. Es entsteht eine mit negativen Emotionen wie Angst, Unsicherheit, Unverständnis, Scham etc. aufgeladene Atmosphäre. Ohne eine Auflösung der Situation sind Lernen und Entwicklung langfristig erschwert. Was im Fall nachhaltige negative Konsequenzen für Jules Schulerfolg nach sich zieht.
Welche anderen Handlungsoptionen hätte es gegeben?
Nach Grawe gibt es vier universelle psychische Grundbedürfnisse:
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das Bedürfnis nach Bindung,
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das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle,
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das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und -schutz sowie
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das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung (Grawe 2004: 192-303).
Im Fall wurden Jules psychischen Bedürfnisse durch den Streit mit dem Freund und anschließend durch das Verhalten der Lehrperson nicht erfüllt. Die Verletzung des Bindungsbedürfnisses sowie der Kontrollverlust durch den Streit wurden begleitet von schamvollen Situationen vor der Klasse, was den Selbstwertschutz erschwerte (ebd.). Zudem handelte die Lehrperson nicht anerkennend bezüglich der Emotionen von Jules, was eine Erhöhung von Jules Selbstwert hätte bewirken können (ebd.). Die Situation im dargestellten Fall ermöglichte für Jules außerdem kein Streben nach Wohlergehen, wodurch Unlust nicht vermieden werden konnte (ebd.).
Wie können Lehrpersonen in ähnlichen Situationen handeln, um die psychischen Bedürfnisse der Lernenden mehr zu achten?
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Das Zuspätkommen nicht persönlich nehmen oder zumindest die Verärgerung darüber nicht offen zeigen.
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Lernende nicht dazu auffordern, sich vor der Klasse zu erklären. Stattdessen Verständnis demonstrieren und ein Gesprächsangebot für die Pause unterbreiten. Falls die Lehrperson das Gefühl hat, dass dies die lernende Person nicht ausreichend unterstützt, könnte man anbieten, sofort unter vier Augen zu sprechen.
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Anerkennend auf das Bitten um Entschuldigung reagieren.
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Der Klasse Sicherheit vermitteln, indem die Lehrperson Ruhe ausstrahlt, sich um den Hilfe suchenden Mitschüler kümmert und Lernangebote für die Klasse unterbreitet.
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Auf die mündliche Kontrolle verzichten, um die zur Hilfestellung aufgewendete Zeit zu kompensieren oder andere Formen auszuprobieren: beispielsweise kooperative Wissensabfragen in Teams oder fakultative Bewertung, wenn eine für den Prüfling zufriedenstellende Leistung erbracht wurde.
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Falls die Lehrperson bemerkt, dass das eigene Handeln zu einer Veränderung der pädagogischen Beziehung, zu Lernschwierigkeiten oder Demotivation geführt hat, versuchen, das Vertrauen durch ehrliches Bitten um Entschuldigung und erneute Beziehungsangebote wieder aufzubauen.
Im Lehralltag ist es nicht einfach, stets bedacht und reflektiert zu handeln. Jedoch ist ein ausgewogenes Beziehungshandeln und "ernsthaftes Bemühen um eine gelingende, wertschätzende, nichtdiskriminierende Beziehung zu jedem [E]inzelnen [...] ein zentrales Merkmal pädagogischer Professionalität“ (Baldus 2013: 288). Emotional herausfordernde Situationen können nicht immer vermieden werden, aber zumindest nachgelagert sollte versucht werden, die pädagogische Beziehung wieder aufzubauen und Verletzungen zu heilen.