18.05.2020
Schule in Zeiten von Corona – Erziehungswissenschaftlerin Anke Langner im Gespräch
Wie unter einem Brennglas zeigen sich in der aktuellen Krisensituation die Versäumnisse der Vergangenheit: selbstreguliertes Lernen und technische Ausstattung für das digital gestützte Lernen sind an vielen Schulen im Bundesgebiet nicht gegeben. Prof. Dr. Anke Langner sieht gerade in der Krise eine Chance: "Die Krise zeigt uns auch die Lücken unseres Bildunssystems. Schule hat sich seit über 100 Jahren nicht verändert. Wir sollten jetzt diese Krise nutzen, um Veränderungen anzustoßen, denn Krisen sind die besten Situationen um etwas grundlegend zu ändern. Sie sind die schlechtesten Momente an Altbewährtem umso fester zu halten" und richtet mit Kolleg*innen die Petition "Güterabwägung in der Krise" an den Bundestag.
Im Interview mit Collien Ulmen Fernandes für die Sendung "Familien allein zuhaus" (auf ZDFneo verfügbar bis 15.05.2021) spricht Anke Langner über den Unterschied zwischen digitalem und digital gestütztem Lernen, die Situation an deutschen Schulen und gelingendes Lernen im Homeschooling in Zeiten von Corona. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt "Corona-Challenge" an der Universitätsschule Dresden. Am Ende steht die Frage: Was bleibt von der Corona-Zeit im besten und im schlimmsten Fall?
Was heißt denn Digitales Lernen eigentlich bzw. was ist in den Diskussionen meist gemeint?
In der Diskussion wird aktuell vor allem gemeint, dass Arbeitsblätter oder Lehrbücher nicht mehr analog, also in Papier vorliegen, oder dass man versucht, mit vielen weiteren Eindrücken wie bei manchen Lernapps bei den Kids zu punkten. Diese sind dann bunt und schrill. Für mich ist das eine starke Verkürzung, die die Begrifflichkeit digitales Lernen auch fehlleitet. Das Wichtigste ist aber: Lernen ist ein individueller Prozess, der nur von jedem Menschen selbst vollzogen werden kann, er kann nicht durch das Digitale ersetzt werden. Daher plädiere ich für digital gestütztes Lernen und hier stehen wir in der Entwicklung erst am Anfang,
Wie steht es um die Digitalisierung von Deutschlands Schulen?
Der Digitalpakt von 2019 zeigt sehr gut, was Digitalisierung vor allem auch in der Öffentlichkeit bedeutet: Die Schulen sollen fit gemacht werden – in erster Linie durch eine Ausstattung, die Digitalisierung ermöglich mit Internetanbindung der Schulen und Bereitstellung von Computern. Dafür haben die Schulen im letzten Jahr Medienentwicklungspläne schreiben müssen, in denen es vor allem um eben diese Ausstattungsfragen geht. Erst in einem zweiten Schritt geht es darum, was tun und wie tun mit dem Digitalen. Aber auch hier ist der pädagogische Umgang mit den digitalen Werkzeugen eher verkürzt. Unternehmen bieten sich gern an, diese Pläne mit zu schreiben und dies mit einer bestimmten Vorstellung von einem – und hier würde ich richtigerweise sagen digitalen Lernen – die zeigen, dass es nach wie vor nicht um pädagogische Fragen der Nutzung von Digitalisierung in Schule geht.
Als Konsequenz lassen zum Beispiel die Ergebnisse aus der Icils-Studie Deutschland im Mittelfeld landen: Bei der Befragung von 8.-Klässlern zeigte sich, dass ein Fünftel der Schülerschaft keine digitalen Medien im Unterricht nutzt und Lehrer Smart-Bords wie Tafeln nutzen. Das heißt, zum einen muss Technik weiter angeschafft werden aber zum anderen muss qualifiziert werden und dies geschieht viel zu wenig. Das unterstützen die Studienergebnisse auch auf Seiten des Kompetenzerwerbs der Schüler*innen: Ein Drittel der befragten Schüler*innen kann am Rechner nicht mehr al eine E-Mail verschicken oder einen Suchbegriff in eine Suchmaschine eingeben.
Warum ist das überhaupt wichtig? Reichen nicht Zettel und Stift um Rechenaufgaben zu machen?
Zettel und Stift sind und bleiben das zentrale Werkzeug zum Lernen, wenn wir entwicklungspsychologische Grunderkenntnisse nicht einfach über Bord werfen wollen. Es brauch das Haptische und das Motorische für den Verinnerlichungsprozess. Unser Gehirn lernt sich vor allem auch über motorische Übungen gut zu vernetzen, was wir benötigen um kreativ zu denken. Einen Diskurs zu Digitalisierung als „entweder Tablet oder Zettel und Stift“ zu führen, halte ich für fatal. Vielmehr sollten wir die Stimmen der Erziehungswissenschaftler*innen, Psycholog*innen zur Kenntnis nehmen. Die aktuelle Generation wächst in zwei Welten auf – der digitalen und der analogen Welt – und als Pädagogin habe ich den Auftrag, sie darin zu begleiten sich beide Welten zu erschließen, beide Welten aus der jeweils andere betrachten zu können und sich zwischen ihnen bewegen zu können. Dies werde ich nicht erreichen, indem ich pädagogisch in der Schule das Digitale verdamme und ausschließe. Wir wissen, dass die Welt außerhalb der Schule neue Kompetenzen von Schüler*innen einfordert, damit sie verantwortlich mit ihr umgehen können. Mein Auftrag als Pädagogin ist, sie darin zu begleiten: sich Information zu suchen und diese bewerten zu können, für sich eine Strategie zu entwickeln, wann das digitale Werkzeug „zugeklappt“ werden muss – um zum Beispiel gemeinsam mit Mitschüler*innen eine Aufgabe ganz analog und im Klassenraum zu bearbeiten. Die Kinder müssen lernen, wie sie das Werkzeug für sich spielerisch, für Lernprozesse und für die Kommunikation nutzen können.
Die Zeit der Schulschließung in Sachsen ab dem 16.03.2020 endet auch für die Grundschulen am 18.05.2020. Bildungsexpertin Anke Langner von der TU Dresden betrachtet die Vor- und Nachteile der Rückkehr in die Schule. Neben den aktuellen Herausforderungen hat sie aber auch die Zukunft im Blick: die Erprobung von digital gestütztem Lernen an der Universitätsschule Dresden und die Krise als Chance für eine grundsätzliche Debatte in der Bildungspolitik: Wie kann schulische Bildung unter den aktuellen Bedingungen gelingen und was ist der Maßstab von Bildung in Zeiten von Corona und darüber hinaus?
- Online-Diskussion »Digitale Schule: Geht die Schere der Bildungsgerechtigkeit (weiter) auseinander?" in der Reihe "Aus der Krise lernen? - Offene Gesellschaft in der (Post-)Corona-Phase" der SLpB, 13.07.2020, Facebook-Video
- "Chance für einen Entwicklungsschub", Michael Bartsch, Zusammenfassung der Online-Diskussion am 13. und 14.07.2020, Blog der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB), 17.07.2020
- Online-Diskussion »Früher war mehr Polylux! Wie geht Schule morgen?«, Fraktion DIE LINKE im sächsischen Landtag, 07.07.2020, Video auf YouTube
- CoronaCast mit Prof. Dr. Anke Langner (TU Dresden), Sächsische Zeitung, 13.05.2020
- Schule neu denken: Warum wir ausgerechnet in der Krise bei der Bildung umsteuern sollten, Interview mit Prof. Dr. Anke Langner, DNN, 12.05.2020
- Im Gleichtakt lernen nach Lehrplan? Petition fordert, Druck herauszunehmen, News4Teachers, 08.05.2020
- Herausforderungen an Schule und Lernende in Zeiten von Corona, Prof. Dr. Anke Langner (TU Dresden) im Interview beim MDR-Sachsenspiegel, 07.05.2020
- Dokumentation “Familien allein zu Haus”, Collien Ulmen-Fernandes im Experten-Gespräch mit Prof. Dr. Anke Langner (TU Dresden), 25.04.2020
- Jung & Live #19 mit Bildungsexpertin Prof. Dr. Anke Langner, Jung & Naiv, 21.04.2020
- Corona-Sprechstunde “Zurück in die Schule – aber wie?” mit Prof. Dr. Anke Langner (TU Dresden), ZDF heute plus, 17.04.2020
- Zur Übersicht der Medienstimmen
Hat die Homeschooling-Situation viele Schulen überfordert?
Diese Frage hat eigentlich zwei Ebenen: Überfordert Schüler*innen diese Krisensituation und können sie sich jetzt wirklich Mathematik oder Physik zuwenden? Das wird gerade einfach nicht diskutiert und Familien werden damit allein gelassen. Ich weiß, darauf zielte ihre Frage nicht ab, sondern ob die Umsetzung von Digitalisierung verbunden mit Homeschooling überfordert. Ich denke um dies beantworten zu können, müsste man sich jetzt viele Schulen anschauen und deren Umgang. Was ich erlebt und erfahren habe, ist dass viele Initiativen entstanden sind, die den Schulen helfen wollten, digitale Lernaufträge zur Verfügung zu stellen. Das ist überhaupt nicht minder zu schätzen, aber zeigt eben auch, an welcher Stelle wir stehen. Wir sind immer noch dabei, analog gleich digital zu setzen und der Fokus liegt vor allem auf dem Content, der Oberfläche des Lernens. Natürlich benötigen wir Inhalte, aber das macht nicht den Lernprozess aus. Darauf fokussieren wir uns aber aktuell in der Diskussion. Häufig konnte man auch sehen, dass schnell Werkzeuge eingeführt wurden, die dem Dokumentenmanagement dienen, und es gibt auch Schulen, die virtuelle Klassenzimmer eingerichtet haben. Aber auch das versucht, bisherige pädagogische Prozesse, also Instruktion, in das Digitale zu überführen. Das funktioniert leider nur begrenzt gut und vor allem wird meiner Meinung nach einmal mehr die bestehende Bildungsungleichheit verstärken. Die aktuellen Formate des digital gestützten Lernens setzen – und das müssen sie auch, weil Kinder gar nicht gelernt haben so selbstgesteuert zu lernen – auf die Eltern als Co-Lehrer*innen.
Hat die aktuelle Situation auch gezeigt, dass die meisten Schulen gut und schnell auf Ideen kommen, sobald es dringend nötig ist?
Schulen haben reagiert, wie es in ihrem Möglichkeitsraum denkbar war, und dazu muss man Schulen, die eigentlich relative träge Institutionen sind, gratulieren. Sicher konnten Schulen auch reagieren, weil es viele kreative Lehrer gab, denen die Arbeit mit ihren Schüler*innen wichtig ist und die das als Herzensangelegenheit tun. Daraus entstehen dann auch häufig kreative Lösungen, die Lösungen für die aktuelle Situation sind aber keine strategisch entwickelten Lösungen für eine echte Herausforderung: die virtuelle Welt mit der realen Welt zu verbinden in pädagogischen Prozess. Die Lösungen für den Moment lassen die eigentliche Krise außer Acht, die Kinder verarbeiten können müssen. Das jetzige Erlebte ist ein Einschnitt in das bisherige Leben. Daher Respekt für alles, was entstanden ist und zugleich, ist dies in der Regel keine längerfristige Antwort auf eben die benannte Herausforderung, dazu muss Schule in der Zukunft deutlich stärker pädagogische und schulorganisatorische Prozesse verändern.
Wofür ist Digitales Lernen gut und was kann es nicht?
Was es nicht kann, ist die Lernanlässe und Motive unterstützen, die braucht es aber um Lernen gelingend zu gestalten. Wenn Schüler ihre Umgebung wahrnehmen und anfangen Fragen zu stellen, ist der Moment gegeben, um lernbegleitend, pädagogisch zu agieren – dies kann kein Computer und dies können Lehrer*innen aktuell in der Ausnahmesituation der Corona-Krise auch nicht – das müssen förmlich aktuell Eltern leisten, die zugleich im Homeoffice sind. Das lässt die Situation auch zu einer schwierigen und wenn ich ehrlich bin keiner lernunterstützenden werden, denn zum Lernen braucht es das Soziale und den Dialog miteinander – entweder zwischen Schüler*innen oder zwischen Schüler und Lehrer. Dieser Dialog ist vom ganzheitlichen Erleben gekennzeichnet, vor allem bei Schüler*innen, die sich schwer damit tun ihre Welt zu erschließen. Dies geht nicht in einem virtuellen Raum, dazu braucht es die wahre Begegnung miteinander, die inzwischen seit 4 Wochen fehlt. Haben wir diese Form der Kooperation nicht, kann nicht die Zone der nächsten Entwicklung begangen werden – Schule kann folglich in der aktuellen Situation trotz Digitalisierung nicht mehr als versuchen das Bestehende beizubehalten, sie kann aber nicht entwickeln.
Wir müssen ehrlich bleiben. Das Digitale wird und kann das Soziale nicht ersetzen, d.h. auch es kann nur begrenzt Angebote machen, das jetzige Erlebte zu verarbeiten und für jeden positiv zu wenden. An dieser Stelle möchte ich auch gern kurz auf die Situation der Lehrer eingehen, weil eben diese Rahmenbedingungen für sie genauso relevant sind – sie mussten von gestern auf heute förmlich aus ihrem Küchentisch ein Lehrerpult machen, auch sie haben Arbeitsbedingungen mit eigenen Kindern, die es verunmöglichen Schüler*innen kontinuierlich digital zu begleiten und die Technik kann das Dialogische auch verhindern, auf das der Lehrer so sehr angewiesen ist.
Können Schüler mit digitalem Lernen leichter selbstständig lernen? Also verhilft das zu mehr Selbstständigkeit?
Durch ein digital gestütztes Lernen, das auf selbständiges Lernen ausgelegt ist – wie wir es in dem Schulversuch an der Universitätsschule in Dresden tun – ja. Aber auch hier ist das Digitale nur ein Werkzeug, zunächst müssen sich grundlegende pädagogische Prozesse verändern, die dann digital unterstützt werden – und ja wenn die Kids dies lernen würden, wären wir für nächste ähnliche Krisen pädagogisch besser aufgestellt.
Es gibt ja häufig die Kritik, dass die viele Nutzung von digitalen Medien dazu führt, dass wir nur noch Wissen aus dem Netz abfragen anstatt zu denken. Was fördern digitale learning tools?
Genau, es geht um den pädagogischen Prozess! Das meine ich damit, dass Pädagogen den Auftrag haben, mit den Schüler*innen die virtuellen und die reale Welt zu erkunden. Es muss gelernt werden, das Netz als Wissengeber zu nutzen, das ersetzt aber nicht selbstständiges Denken und auch nicht das Lernen und gleich gar nicht eine kritische Reflexion, um was für Wissen es sich da handelt. Schüler müssen also lernen, wann und wie das digitale Werkzeug ihn helfen und sie unterstützen kann und wann es einfach auszuschalten ist.
Auch Erwachsene müssen damit ihren Umgang finden und es gelingt sehr different. Wir wissen, dass der frühe Umgang mit digitalen Werkzeugen die Wahrnehmung verändert und auch andere Dinge von Kindern abfordert. Und was tut Schule? Sie tut eben so, als wäre es dies nicht der Fall, und macht weiter wie vor hundert Jahren. Das ist meiner Meinung nach keine Pädagogik, sondern Schule muss umso mehr hinsehen und sich überlegen, wie sie das Digitale integriert. Sonst findet man andere Antworten, die dann leider wenig pädagogisch sind und Schüler*innen zu Maschinen macht. Das sehen wir bei bestimmten Learning Analytics Modellen in Apps, die von einem maschinellen Lernen auch beim Schüler ausgehen. So vollzieht sich aber weder Lernen noch Entwicklung beim Menschen.
Was ist für gelingendes Lernen am wichtigsten?
Das sind eindeutig Feedback und Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern, das Soziale, also der Dialog und die Kooperation. Vor allem letzteres leidet sehr stark unter der aktuellen Umsetzung eines digital gestützten Lernens und wir brauchen für nachhaltiges Lernen unbedingt Kooperation. Kooperation bedarf differenter Möglichkeiten der Kommunikation – die haben wir auf dem ausschließlich digitalen Weg nicht ausreichend. Den nächsten Entwicklungsschritt vollzieht der Mensch nur durch die Kooperation mit einem anderen. Nur darüber entsteht die menschliche Kreativität, die uns immer von Maschinen unterscheiden wird. Ohne die wirkliche Kooperation verbleibt alles bei einer Wissensvermittlung, die kaum mit einem Erkenntnisgewinn verbunden ist, weil sie nicht an Erfahrungen und Fragen des Einzelnen andockt und somit für den jeweiligen Schüler/ die jeweilige Schülerin subjektiv sinnlos bleibt. Schüler*innen erfahren sich eben über diese kooperativen Prozesse in der realen Welt als gegenseitig bedeutsam. Dies ist für gelingendes Lernen zentral und kann durch das Digitale nur begrenzt unterstützt und genährt werden
Was bedeutet digitales Lernen im Idealfall – gleiche Aufgaben, nur digital vermittelt? Oder andere Aufgaben?
Was digital gestütztes Lernen wunderbar kann, ist u.a. mit dem Modell der Gamification Schüler*innen üben lassen. Das kennen alle Eltern spätestens durch die Coronakrise mit der sogenannten Antonapp. Die Kinder werden belohnt durch Anton und sie erhalten direkt ein Feedback. Und wenn Kinder in Gruppen agieren, können daraus auch Challenges entstehen. Das ist etwas, was digital gestütztes Lernen wunderbar unterstützen kann. Die Rückmeldungen in solchen Apps erfolgen jedoch leider nur als „richtig“ oder „falsch“ und weniger darauf, wie Schüler*innen Strategien entwickeln, was für den Lernprozess viel zentraler ist als die Rückmeldung „richtig“ oder „falsch“.
Das Digitale kann auch über das Programmieren vieles Spielerische – was so wichtig für das Lernen ist und in Schule zu häufig verloren geht – vor allem auch in den höheren Jahrgängen zurückbringen. Es kann helfen, Vorstellungen zu simulieren, und es kann für manche Schüler auch mehr Selbstbestimmung bedeuten, wenn sie aufgrund von körperlichen Beeinträchtigungen z.B. ein Experiment nicht selbst durchführen aber es virtuell vollziehen können.
Lernen ist üben, handeln und Wissen recherchieren, bei all dem kann das Digitale unterstützen,
Sie haben an der Universitätsschule Dresden mit den sogenannten „Corona-Challenges“ in der fünften Klasse ein Beispiel dafür angeboten. Wie funktioniert sie und was packt die Kinder an diesem Ansatz?
Die zentrale Idee ist es, Schüler*innen an einem bedeutungsvollen Gegenstand lernen zu lassen und dies ist in diesen Tagen von Corona: Was macht es mit meinem Leben, was ist es, wo ist es und viele andere Fragen. Daran können viele fächerspezifische Themen bearbeitet werden: Mathematik (Lesen und Beurteilen von Diagrammen), Geografie (Länder diese Welt), Biologie (Immunsystem des Menschen), Deutsch (Bericht lesen und verfassen) um nur einiges zu nennen. Zugleich ist es wichtig, dass Kinder diese Aufgaben mit anderen teilen, indem es andere lesen oder indem gemeinsame Dinge dazu bearbeitet werden. Davon geleitet hat eine Lehrerin der Universitätsschule die Corona-Challenges mit unterschiedlichen Aufgabenformaten und vor allem mit der Möglichkeit des gemeinsamen Teilens entwickelt. In Zeiten der Schulschließung wurde dies digital gestützt umgesetzt durch ein Padlet. So können alle Schüler*innen sich gegenseitig Rückmeldung geben und auch die Lehrer*innen können den Prozess gut begleiten.
Für die Schülerinnen funktioniert es unter anderem, weil es Momente von Gamification enthält – das packt, es ist was Neues, das macht es interessant. Die Schüler sind aber auch eigenverantwortlicher im Umgang. Daran müssen sie, wenn sie bisher in eine Regelschule gegangen sind, herangeführt werden. Sie haben die Möglichkeit an Dingen zu arbeiten, die sie berühren, was differente Zugänge ermöglicht. Und die Methoden können durch das Digitale vielfältiger sein und auch zeitlich besser differenziert werden, aber immer eingebettet in einen wirklichen pädagogischen Dialog.
Maria Schmager, Lehrerin in der Klassenstufe 5 an der Universitätsschule Dresden, hat für ihre Schülerinnen und Schüler ein Padlet, vergleichbar mit einer digitale Pinwand, mit vielfältigen Aufgaben erstellt, die die Schüler daheim in der Küche, im Kinderzimmer oder am Schreibtisch erledigt haben (siehe Bildergalerie unten). Die Ergebnisse wurden im Anschluss auf die Pinnwand hochgeladen und Mitschülerinnen und Lehrkräfte konnten Feedback geben. Dies ist eine Möglichkeit für die Kinder, weiterhin untereinander und mit den Lehrerinnen in Kontakt zu bleiben und sich mit der aktuellen Situation gemeinsam auseinanderzusetzen.
Was bringt Kinder zum Lernen?
Im besten Fall die eigene Neugier, der beste Unterstützer dabei, sich die Welt zu erschließen. Dies tun Kinder ohne viel Unterstützung, bis sie zur Schule kommen.
Wie sind die Erfahrungen in der 5. Klasse an der Universitätsschule Dresden? Kann man sie vergleichen mit „Ergebnissen“ im Sinne von Wissensstand laut Lehrplan an anderen Schulen ohne digitalen Ansatz?
Die Unischule wurde zum Schuljahr 2019/20 mit den Klassenstufen 1, 2, 3 und 5 eröffnet. Wir haben also gerade frisch angefangen und wir haben 15 Jahre Zeit für den Schulversuch in Kooperation von Stadt Dresden und TU Dresden.
Jetzt schon erleben wir, dass Kinder an der Schule systematisch einen verantwortlichen Umgang mit dem Digitalen lernen und so lernen, es für sich zu nutzen. Und für die Schulorganisation ist das wunderbar, da diese von der Lernplanung der Schüler aus organisiert und live digital in der schuleigenen Software abgebildet wird. Das heißt die Universitätsschule Dresden ist organisatorisch von den Schüler*innen aus gedacht. Als Wissenschaft haben wir auch etwas davon, denn wir dürfen die durch die Schüler*innen im Digitalen erzeugten Daten auswerten und so hoffentlich sehr zeitnah erste datenbasierte Erkenntnisse zu Bedingungen für gelingende Lernprozesse formulieren und somit vielen Schulen Hinweise zu förderlichen Entwicklungswegen geben.
Jetzt gibt es ja viel Extra-Bildschirmzeit durch Schulaufgaben, Lernapps etc. Ist das nicht zu viel Bildschirm? Wann ist es zu viel? Wann ist es schädlich in ein Lehrbuch oder auf eine App zu schauen?
Beides hat keinen Sinn, wenn es nicht mehr mit einem Erkenntnissinteresse bei dem Kind zu tun hat. Wie bereits erwähnt, handelt es sich um ein Werkzeug. Wenn nicht mehr durch den Schüler gelernt, geforscht und entdeckt wird, kann das Buch zugeklappt und der Rechner ausgeschaltet werden.
Computer, Laptops üben oft eine große Faszination auf Kinder aus. Ist es super, das als Motivationsfaktor für Schulaufgaben zu nutzen oder birgt es noch mehr Suchtpotential?
Ich bin keine Suchtforscherin, sondern Pädagogin. Aber ich weiß natürlich, dass alles was Kinder nicht haben können, einen ausübt Reiz. Das können sie an ihren eigenen Kindern in unterschiedlichen Ausmaß sehen – und Kinder habe immer Wege gefunden, dem Begehren nachzugehen und es zu erfüllen, auch ohne elterliche Hilfe. Eine Suchtgefahr besteht dann, wenn ich nicht um die Gefahren weiß, wenn ich etwas ausgesetzt bin, das ich nie gelernt habe einzuschätzen. Aufklärungsarbeit und einen verantwortlichen Umgang vermitteln, damit kann pädagogisch vorgebaut werden.
Was können wir in Bezug auf Digitales Lernen aus dieser Zeit mitnehmen?
Dass wir viele kreative Lehrer haben, in denen viel Potential steckt, dass wir uns endlich strategisch und wissenschaftlich basiert auf einen Entwicklungsweg machen sollten, dass wir Schule grundlegend verändern müssen, um das digitale Werkzeug sinnvoll und nachhaltig für Schule nutzen zu können und dass wir das Digitale nie überschätzen sollten, es kann das Soziale nicht ersetzen.
Wird die Corona-Zeit diese Entwicklung beschleunigen?
Sie wird vieles verändern, beschleunigen kann sie den Prozess nur, wenn wir anfangen nach dem Kern von Digitalisierung im pädagogischen Prozess zu fragen und uns nicht mit den Oberflächen begnügen, also dem Content und der Ausstattung von Schule. Wir müssen gemeinsam kreativ denken und Schulen nicht alleinlassen – nicht selten höre ich von Kollegen oder anderen Experten, wenn wir den Schulen die Tools geben, dann werde sie diese nutzbar machen. Aber nein, so einfach ist es nicht, denn das Digitale bringt die Schule in ihrem Grundsätzlichen ins Wanken. Was ist Wissen und was Erkenntnis und wie können wir Schule so gestalten, dass sie für jeden Schüler und jede Schülerin ein echtes Entwicklungspotential darstellt? Um darauf Antworten eines 21. Jahrhundert geben zu können, müssen wir Altehrwürdiges von Schule in Fragestellen dürfe. Diese erlebte Zeit wird an sich neue Fragen an die Pädagogik stellen, weil Kinder das Erlebte als einschneidend empfinden werden und dieses muss bearbeitet werden – damit diese Krise zu einem Entwicklungsmotor und nicht einer Entwicklungsbarriere wird – ganz unabhängig von der Digitalisierung.
Was bleibt von der Corona-Zeit im besten Fall?
Der Mut, dass Veränderungen vollzogen werden und neue Weg gemeinsam beschritten werden, und gestärkte Persönlichkeiten.
Was bleibt von der Corona Zeit im schlimmsten Fall?
Die Idee, dass digital gestütztes Lernen bei Kindern das Lernen nicht unterstützen kann, weil es in der aktuellen Form eben häufig nur das Analoge im Digitalen wiederholt, und das eine zukünftige Generation das Erlebte nicht für sich wenden kann und vereinsamt.
Was nehmen Sie persönlich mit aus der Corona-Zeit?
Den Schock, wie schnell Ausschluss zu einer legitim Praxis werden kann, und wie schnell viele Menschen vergessen werden über flächendeckende Maßnahmen zum Schutz der gesamten Gesellschaft – einmal mehr wie wenig differenziert ein gesellschaftlicher Diskurs geführt wird, und wie schweigend wir hinnehmen, dass Bildungsungerechtigkeit einmal mehr befördert werden kann, aber auch die Hoffnung, das Politik jetzt anfängt an die künftige Generation zudenken, und auch abwägt wie wichtig für diese Bildung und sozialer Austausch sind.
Um diesen bildungspolitischen Diskurs einzufordern und auch um Lösungen zu finden die verantwortungsvoll sind, habe ich gemeinsam mit Kollegen aus der Erziehungswissenschaft im April die Petition „Güterabwägung in der Krise“ an den Bundestag gerichtet – auch um in der Krisenzeit Chancen zu eröffnen für neue Bildungsmöglichkeiten (siehe Infokasten auf dieser Seite und Pressemitteilung der TU Dresden vom 15.04.2020). Die 150 Erstunterzeichner*innen fordern, dass auch die Bedürfnisse der Kinder in der Diskussion eine Stimme bekommen und wir eine grundsätzliche Debatte führen: Wie kann schulische Bildung unter den aktuellen Bedingungen gelingen und was ist der Maßstab von Bildung in Zeiten von Corona und darüber hinaus?
Die Universitätsschule Dresden ist ein gemeinsames Projekt der Landeshauptstadt Dresden und der Technischen Universität. Sie ist eine öffentliche und kostenfreie Gemeinschaftsschule in städtischer Trägerschaft, an der unter wissenschaftlicher Begleitung innovative Formen des Lehrens und Lernens erprobt werden. Darüber hinaus ist sie Ausbildungsschule für zukünftige Lehrkräfte und künftig auch Weiterbildungsschule für Lehrer:innen. Wissenschaftlich begleitet wird der Schulversuch von der Forschungsstelle ForUS an der TU Dresden.