26.02.2020
Auf Forschungsreise durch ein gespaltenes Land – England nach dem Brexit
Thomas Kühn
Die erste Woche nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union bot einen guten Anlass, der Stimmung im Land auf einer Reise in London und im Süden Englands nachzuspüren. Die Absicht der Erkundungsreise war dabei weniger, wissenschaftlich fundierte Daten zu erheben. Vielmehr galt es "Witterung" aufzunehmen und somit keineswegs repräsentativ, sondern eher zufällig ausgewählten Menschen zuzuhören und mit ihnen zu sprechen. Das kulturwissenschaftliche Interesse konzentrierte sich hierbei darauf, in zahlreichen Interviews mehr über die Haltungen und Einstellungen der Befragten, ihr persönliches Erleben sowie ihre individuelle Sicht auf die Geschichte eines Landes zu erhalten, das nach 47 Jahren die Europäische Union verlassen hatte.
So gespalten sich das Land in Umfragen und bei den während der Reise Befragten zeigt, so unterschiedlich waren die geäußerten Meinungen, die von "Hass auf die EU und Liebe zu Europa" und freudige Erleichterung über den endlich vollzogenen Austritt bis hin zu tiefer Trauer über den Austritt und Liebesbekundungen zu Europa und zur EU reichten. Zugleich wurde deutlich, wie vielfältig die Gesprächspartner ihr Verhältnis zum eigenen Land beschreiben, unabhängig vom sozialen Hintergrund, Bildungsgrad, Beruf oder Alter. Deutlich wurde zudem ein hohes Ausmaß an Emotionalität in der Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Position, sowohl bei "Remainers" wie auch "Leavers".
Ein Aspekt, der auf dem europäischen Kontinent wenig bekannt ist, im Vereinigten Königreich dagegen eine wichtige Rolle spielt, ist die Unterscheidung in "britisch" einerseits und die Bezeichnungen für die vier Nationen »englisch«, »schottisch«, "walisisch" und "irisch" andererseits. Durch den Interessenschwerpunkt England stand die Frage nach dem Verhältnis einer spezifischen "Englishness" zur "Britishness" auch auf dieser Reise im Zentrum. Hier fielen die Antworten der Gesprächspartner ebenso erhellend wie vielschichtig aus.
Die Befragten machten klar, dass für sie ein Unterschied zwischen der Zuordnung zu England und zu Großbritannien besteht, auch wenn dieser weit weniger deutlich ausgeprägt ist als etwa in Schottland oder Wales, wo die Identifizierung mit dem jeweiligen Landesteil sehr viel stärker ist. Die geführten Interviews lassen vermuten, dass das Verhältnis der beiden Begriffe "englisch" und "britisch" auch in Zukunft spannungsreich bleiben wird.
Die vorläufigen Ergebnisse laden ein zu weiteren Forschungen zur Verhältnisbestimmung England – Großbritannien und versprechen erhellende Erkenntnisse über die Einstellung eines europäischen Landes zu sich selbst, über sein Verhältnis zu seinen Schwesternationen Wales, Schottland und Nordirland, zu seinen europäischen Nachbarn, Mitgliedern wie Nichtmitgliedern der Europäischen Union, aber auch zu seiner Selbstverortung im globalen Konzert, jenseits der auf der Reise nach Brexitanien gewonnenen Impressionen.
Prof. Thomas Kühn ist Inhaber der Professur für Großbritannienstudien am Institut für Anglistik und Amerikanistik der TU Dresden. Zum Lehr- und Forschungsbereich der Kulturstudien Großbritanniens gehören neben den Kulturen der britischen Inseln auch die der postkolonialen englischsprachigen Länder mit Ausnahme Nordamerikas.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 4/2020 vom 25. Februar 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.