02.07.2024
Evident effizient: Selbstorganisation informeller Buslinien im Globalen Süden
Öffentliche Personennahverkehrs-Systeme sind im weltweiten Vergleich sehr unterschiedlich organisiert. Industrienationen im Globalen Norden besitzen meist zentral organisierte öffentliche Verkehrsmittel mit festen Routen und Fahrplänen. In Ländern des Globalen Südens hingegen, wo mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung leben, sind in hohem Maße informelle Fahrdienste mit Ad-hoc-Routen zu finden, z.B. in Form von privat organisierten Kleinbusverkehren. Aufgrund ihres oft chaotisch wirkenden Betriebs werden solche informellen Verkehrsdienste von außen leichtfertig als ineffizient angesehen – aufgrund fehlender Daten bis jetzt jedoch ohne systematischen Vergleich.
In einer neuen wissenschaftlichen Arbeit, die kürzlich in Nature Communications veröffentlicht wurde, analysieren und vergleichen Kush Mohan Mittal, Marc Timme und Malte Schröder von der Professur für Netzwerkdynamik an der TU Dresden die strukturelle Effizienz von mehr als 7.000 formellen und informellen Buslinien über 36 Städte und 22 Länder hinweg. Eine der zentralen, überraschenden Erkenntnisse ist, dass sich die Routen informeller Verkehre auf eine Weise selbst organisieren, die dem Effizienzniveau zentralisierter Dienste entspricht oder gar darüber liegt.
Anknüpfend an vorherige Forschungen der Gruppe zu On-Demand „Ridepooling“, also nachfrage-gelenkten Sammeltaxiangeboten, hat die Forschungsgruppe für die aktuelle Studie ihren Radius stark geweitet und den Versuch gewagt, eine immens große Stichprobe auszuwerten, die Daten aus sehr unterschiedlichen Orten der Welt umfasst.
Insbesondere in den Ländern des Globalen Südens decken informelle Transportsysteme oft Gebiete ab, in denen öffentlich organisierter Transport keine Linien anbietet oder dieser für einen großen Teil der Nutzer:innen nicht erschwinglich ist. Teilweise werden solche Angebote durch zivile Interessenverbände (NGOs) organisiert, oft aber durch private, wirtschaftlich motivierte Akteure. “Unsere zentrale Fragestellung der Studie war: Wie sind die Routen in den verschiedenen Systemen organisiert? Wie effizient sind sie? Lassen sich Muster erkennen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es?“, erklärt Malte Schröder. Als Basis für die Untersuchung dienten frei verfügbare GPS-Routendaten von über 7.000 Buslinien aus dem Dienst OpenStreetMap, die insbesondere für informelle Verkehre meist nur verfügbar sind, wenn sie von freiwilligen Mitwirkenden vor Ort gesammelt werden. Anhand dieser Daten werteten die Wissenschaftler aus, wie sich die Linien auf die lokalen Bevölkerungsdichten ausrichten und wie stark Umwege im Routenverlauf eingebaut werden.
Die gefundenen Erkenntnisse stellen die globale Wahrnehmung des informellen Verkehrs als ‚minderwertige Alternative‘ zu zentral organisierten Diensten infrage. Auch hier bilden sich mehr oder weniger feste Routen, Linien oder Fahrtkorridore heraus. Die typischen Linien sind dabei im zentralen Bereich der Routen eher geradlinig, an den Enden werden mehr Umwege gefahren, um größere Flächen erschließen zu können. Dieses Muster findet sich sowohl bei zentral organisierten als auch bei informellen Verkehren und entsteht unabhängig von der unterschiedlichen Geografie der Städte. „Informelle Verkehre weisen insgesamt aber weniger Umwege und einheitlichere Routen auf als zentral geplante Buslinien, sie sind also effizienter – und dabei auch ohne die im Globalen Norden üblichen umfangreichen Subventionen rentabel“, stellt Kush Mohan Mittal heraus. Weitere Faktoren, die über die untersuchte Struktur der Routen hinausgehen, konnten aufgrund der immer noch geringen Datenverfügbarkeit für informelle Verkehre nicht in die Analyse einbezogen werden. Aspekte wie Lohnniveau, Sicherheit der Fahrzeuge, Ausbildung der Fahrer:innen, Planbarkeit und Verlässlichkeit der Angebote etc. haben aber natürlich ebenso einen wichtigen Anteil an einem effizienten und nachhaltigen öffentlichen Verkehrssystem wie die Routenführung.
Dennoch zeigen die Erkenntnisse der Studie bereits jetzt, dass heute bestehende informelle Systeme nicht einfach durch formelle, zentral geplante Routen ersetzt werden sollten. Stattdessen kann die effiziente Selbstorganisation genutzt und die Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit der informellen Angebote erhöht werden, um die Angebote zu verbessern. Auch öffentliche, zentral organisierte Angebote können möglicherweise von der Routenbildung informeller Systeme lernen. Diese umfassende Analyse informeller Verkehrssysteme unterstreicht die potenziellen Vorteile und fordert einen Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie sie wahrgenommen und in die städtische Verkehrsplanung integriert werden.
Studientitel: Efficient self-organization of informal public transport networks
DOI: 10.1038/s41467-024-49193-1
Autoren: Kush Mohan Mittal, Marc Timme, Malte Schröder
Veröffentlicht: Nature Communications, 8. Juni 2024
Download: http://doi.org/10.1038/s41467-024-49193-1
Blogpost auf ‘Springer Nature Research Communities’:
https://communities.springernature.com/posts/informal-transport-a-symphony-in-chaos
Kontakt:
Center for Advancing Electronics Dresden:
Dr. Malte Schröder, Chair of Network Dynamics
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Matthias Hahndorf
Wissenschaftskommunikation
Tel.: +49 351 463-42847
Über die Professur für Netzwerk-Dynamik
Die Professur für Netzwerk-Dynamik unter der Leitung von Prof. Marc Timme wurde im Jahr 2017 eingerichtet. Ziel dieser strategischen Professur der TU Dresden, die sowohl dem Forschungscluster "Center for Advancing Electronics Dresden" (cfaed) als auch dem Institut für Theoretische Physik angegliedert ist, ist es, eine Brücke von Methoden aus Angewandter Mathematik und Theoretischer Physik zu Anwendungen in Biologie und Ingenieurwissenschaften zu schlagen. Es ist die erste Professur für Netzwerk-Dynamik in dieser disziplinübergreifenden Ausprägung in Mitteleuropa. Da Netzwerke fast überall um uns herum sind, strebt das Forschungsteam ein vereinheitlichendes Verständnis der grundlegenden Mechanismen an, die der kollektiven Dynamik großer, nichtlinearer, miteinander verbundener Systeme zugrunde liegen, indem es fundamentale theoretische Beschreibungen mit datengetriebener Analyse und Modellierung verbindet. Ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit liegt darin, selbst-organisierte systemische Effekte zu untersuchen und neue konzeptionelle Perspektiven für theoretische sowie rechnerische Werkzeuge zu entwickeln, die notwendig sind, um diese Dynamiken zu verstehen. Dieses Verständnis ist die Grundlage, um das Verhalten von komplexen vernetzten Systemen vorherzusagen und schließlich auch kontrollieren zu können. http://networkdynamics.info
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