01.12.2020
PoL – das Leben ist dynamisch
Nach welchen physikalischen Gesetzen wächst die lebende Materie?
Magdalena Selbig
»Zellen und Gewebe verformen sich, um Lebewesen zu bilden. Im Exzellenzcluster Physics of Life erforschen wir die physikalischen Gesetze, die den Wachstumsprozess lebender Materie ermöglichen. Wir liefern den Grundstein dafür, Kräfte und Mechanismen zu verstehen, die der biologischen Selbstorganisation zugrunde liegen.«
Es geht um Zellen, Gewebe und Moleküle. Im renommierten Magazin »Nature« veröffentlichten Prof. Stephan Grill, Dr. Pavel Tomancak und Kollegen einen Meilenstein ihrer Forschung: Das Team konnte darstellen, wie die Ei-Hülle von Mehlkäfern den Embryo im entwicklungsbiologischen Formgebungsprozess mechanisch beeinflusst. »Es sind nicht nur interne Kräfte der Zellen – der Wachstumsprozess wird auch durch äußere Gegebenheiten gezielt reguliert«, berichtet Grill begeistert. Er ist Sprecher des Exzellenzclusters Physics of Life (PoL) und Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik. Welchen Stellenwert diese Erkenntnis hat, erklärt er anhand eines Ausflugs in die Biografie von Erwin Schrödinger: »Nach seinen bahnbrechenden Erkenntnissen der Quantenmechanik widmet er sich 1944 in ›What is life‹ physikalischen Gesetzmäßigkeiten in lebender Materie – also in Lebewesen.« Tiefgründiges biologisches Wissen war damals nicht bekannt. Aber Schrödinger stellte die richtigen Fragen, auf denen das Exzellenzcluster heute aufbaut. »Wir haben das Ziel, diese über 70 Jahre alte Vision zu erfüllen.« Der Zeitpunkt scheint dem Clustersprecher geeignet, da die Forschung durch die Erkenntnisse der molekularbiologischen Revolution nun zu quantitativer Betrachtung übergeht. Wie das abläuft, beschreibt Grill: »Unser Team im Exzellenzcluster unternimmt eine Theoriefahrt und beschreibt den Status Quo der Physik in Zellen und Geweben. Grundlagenforschung liefert Verständnis, und Verständnis bedingt Anwendung.«
Die Hauptarbeit erfolgt am Mikroskop. Hier werden Gewebeproben mit encodierten Farbstoffen eingefärbt und unter starker Vergrößerung im Zeitraffer aufgenommen. »Bisher kamen hervorragende Ergebnisse zustande: Wir können in beeindruckenden Videoaufnahmen beobachten, wie sich ein Zellhaufen binnen Stunden zum Körper eines Zebrafischs wandelt. Unklar ist, welche Physik das beeinflusst. Welche Kräfte wirken?« Grill reicht zu seinen Ausführungen ästhetisches Anschauungsmaterial von leuchtenden Zellen, die in Bewegung sind, sich ausdehnen und verformen. Zur Aufnahme und Auswertung der Datenmengen bedarf es der IT- und Ingenieurskunst. Die Sichtweise eines einzelnen Fachbereichs reicht zum Erkennen der Prozesse längst nicht mehr aus. Dagegen profitiert interdisziplinäre Teamarbeit von den Synergien und bringt neue Betrachtungsweisen mit sich. »Wir analysieren die Daten, diskutieren die Experimente und leiten physikalische Theorien ab. Es zeichnet unser Cluster aus, dass wir biologische Prozesse als physikalische Phänomene begreifen, um so die Mechanismen der Strukturbildung in aktiver und lebender Materie zu verstehen.«
Gemeinsam mit den Forschungsinstituten CRTD, BIOTEC und B CUBE befindet sich die Einrichtung PoL auf dem TUD-Campus Johannstadt. Hinzu kommen Forschungspartner aus dem DRESDEN- concept-Verbund. »Wir sind stolz auf unsere strukturbildenden Maßnahmen: Alle Forschungsgruppen teilen die Infrastruktur mit den Partnern. Außerdem bringen wir mit PoL zehn neue themenbezogene Professuren nach Dresden, und ein PoL-Neubau ist in Planung. Das ist ein klares Bekenntnis der TU Dresden zur Forschung des Clusters. Mit den Berufungen von Otger Campas und Helmut Schießel gewinnen wir zwei Koryphäen der Biophysik, was den Studierenden zugutekommt.« Über die strukturellen Ziele gibt Geschäftsführerin Dr. Maria Begasse Auskunft: »Wir bauen den Masterstudiengang ›Physics of Life‹ auf, wo Absolventen aus Physik, Biologie, Chemie und Informatik miteinander lernen und forschen. Wir wollen kein Leuchtturm-Außenposten sein, sondern viele Bereiche einbinden.«
Trotz der Faszination, unsere physische Existenz besser zu begreifen, bleibt die Frage nach dem praktischen, weitergehenden Nutzen dieser Forschung: »Verformungsprozesse im Körper können pathologischer Natur sein und unsere Gesundheit beeinträchtigen«, so Grill. »Natürlich ist Grundlagenforschung unter anderem für die Krebstherapie bedeutend – auch ein Tumor ist Gewebe! Was wir zum Verständnis beitragen – und was implizit in unserem Forschungsansatz steckt – wird für viele falschlaufende Wachstumsprozesse von Relevanz sein und Ansätze für neue Therapien liefern. Dresden ist dafür ein weltweit prädestinierter Standort.«
Weitere Informationen: https://physics-of-life.tu-dresden.de/en
An der TU Dresden werden drei Exzellenzcluster gefördert – eine erste Zwischenbilanz
Es war Anfang November 2019, als an der TU Dresden zum dritten Mal die Exzellenzförderung des Bundes startete, nachdem sie im Juli zum zweiten Mal Exzellenzuniversität geworden war. Bis 2026 erhält die TUD nun Gelder, um über 40 Maßnahmen umzusetzen, die die Weiterentwicklung der gesamten Universität gewährleisten. Um diesen Status der Exzellenzuniversität zu erlangen, mussten die Bewerber mehrere Bedingungen erfüllen: zum einen ein dezidiertes Konzept für besagte Weiterentwicklung vorlegen, zum anderen den Zuschlag für die Förderung von mindestens zwei Exzellenzclustern erhalten. Von den sechs Forschungsclustern, die sich 2018 dafür bewarben, gewannen im Januar 2019 ganze drei! Sie erhalten jährliche Ausschüttungen für ihre Forschung und sind die Voraussetzung dafür, dass die TUD bei Vorhaben zur Optimierung ihrer Infrastruktur, Lehrangeboten und Service-Leistungen gefördert wird. Spitzenforschung findet seitdem in interdisziplinären Projekten der Elektrotechnik (CeTI), der Physik (ct.qmat) und der Biologie (PoL) statt. Ein Jahr nach Beginn der Exzellenzförderung für die TUD und fast zwei Jahre nach Förderungsbeginn der Exzellenzcluster ziehen deren Sprecher – die Professoren Frank Fitzek, Matthias Vojta und Stephan Grill – ein Resümee und erläutern ihre Forschung. Magdalena Selbig
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 19/2020 vom 1. Dezember 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.