07.11.2023
Under Pressure: den Druck in lebenden Organismen sehen
Druck erzeugt Gegendruck: Um zu überleben, müssen Organismen den Druck in ihrem Inneren kontrollieren. Das gilt für Zellen, Gewebe und auch Organe. Die Messung dieser Druckverhältnisse in lebenden Zellen und Geweben unter physiologischen Bedingungen stellt bislang eine große Herausforderung dar. Jetzt präsentieren Forscher:innen des Exzellenzclusters Physik des Lebens (PoL) an der Technischen Universität Dresden (TU Dresden) in der Fachzeitschrift Nature Communications eine neue Technik, mit der dieser Druck während der Entwicklung von Organismen "sichtbar" gemacht werden kann. Diese Messungen können zum Verständnis beitragen, wie Zellen und Gewebe unter Druck überleben, und aufzeigen, wie Krankheiten durch Probleme der Druckregulierung entstehen.
Osmose kennt man noch aus Schulzeiten: Wenn in Wasser gelöste Moleküle in verschiedene Abschnitte eingeteilt sind, hat Wasser die Tendenz, von einem Abschnitt in einen anderen zu fließen, um die Molekülkonzentrationen auszugleichen. Aber können einige Moleküle die Abschnitte nicht wechseln, baut sich ein ungleicher Druck zwischen den Abschnitten auf – der osmotische Druck. Dieses Prinzip ist die Grundlage für viele technische Anwendungen, wie z. B. die Entsalzung von Meerwasser oder die Entwicklung von feuchtigkeitsspendenden Cremes. Auch die Erhaltung eines gesunden, funktionierenden Organismus steht auf der Liste.
Unsere Zellen bewegen ständig Moleküle in die Zellen hinein und aus ihnen heraus, um zu verhindern, dass sie wegen des osmotischen Drucks platzen. Molekulare Pumpen halten den Druck in Schach. Der osmotische Druck beeinflusst viele Aspekte des Lebens der Zellen und bestimmt sogar ihre Größe. Wenn viele Zellen zusammen Gewebe und Organe aufbauen, stehen sie erneut vor einem Druckproblem. Unser Gefäßsystem, die Bauchspeicheldrüse oder die Leber enthalten Hohlräume, die mit Flüssigkeit gefüllt sind - sogenannte Lumina. Sie sind für die Organfunktion unerlässlich. Gelingt es den Zellen nicht, den osmotischen Druck zu kontrollieren, können diese Lumen kollabieren oder gar bersten - mit möglicherweise katastrophalen Folgen für das Organ. Um zu verstehen, wie Zellen den Druck in Geweben regulieren, ist es wichtig, den osmotischen Druck in lebenden Geweben zu messen und zu "sehen".
Dies ist jetzt möglich dank Wissenschaftler:innen unter der Leitung von Professor Otger Campàs, Inhaber der Professur für Gewebedynamik an der TU Dresden und derzeit geschäftsführender Direktor des Exzellenzclusters Physics of Life (PoL). Das Team entwickelte einen neuartigen Drucksensor zur Messung des osmotischen Drucks in lebenden Zellen und Geweben mit Hilfe spezieller Tropfen, die als Doppelemulsionen bezeichnet werden. Für diese Technik brachten sie ein Wassertröpfchen in ein Öltröpfchen ein, durch das Wasser fließen kann. Wenn diese "Doppeltröpfchen" in Salzlösungen unterschiedlicher Konzentration gegeben wurden, floss das Wasser in das innere Wassertröpfchen hinein und wieder heraus, wobei sich sein Volumen änderte, bis zum Druckausgleich. Die Forscher zeigten, dass der osmotische Druck gemessen werden kann, indem man einfach die Tröpfchengröße bestimmt. Anschließend brachten sie diese "Doppeltröpfchen" mit Hilfe von Mikrokapillaren aus Glas in lebende Zellen und Gewebe ein, um deren osmotischen Druck zu ermitteln. "Es stellte sich heraus, dass Zellen in tierischen Geweben den gleichen osmotischen Druck wie Pflanzenzellen haben. Aber im Gegensatz zu Pflanzen müssen tierische Gewebe den Druck ständig mit ihrer Umgebung ausgleichen, um nicht zu explodieren – denn sie haben keine starren Zellwände", sagt Campàs.
Mit diesem genialen Prinzip ist es den Wissenschaftler:innen nun möglich, den osmotischen Druck in einer Vielzahl von Kontexten zu "sehen". Prof. Campas meint dazu: "Wir wissen, dass mehrere physikalische Prozesse die Funktionsweise unseres Körpers beeinflussen. Insbesondere ist bekannt, dass der osmotische Druck eine grundlegende Rolle bei der Bildung von Organen während der Embryogenese, aber auch bei der Erhaltung gesunder erwachsener Organe spielt. Mit dieser neuen Technik können wir nun endlich untersuchen, wie sich der osmotische Druck direkt auf all diese Prozesse in lebendem Gewebe auswirkt". Dank dieser Methode sind auch vielversprechende industrielle und medizinische Anwendungen denkbar – z. B. die Überwachung des Wasserhaushalts der Haut, die Analyse von Cremes oder Lebensmitteln und die Diagnose von Krankheiten, die bekanntermaßen mit einem Ungleichgewicht des osmotischen Drucks einhergehen, wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Tumorbildung. Das Patent für diese Technik wird derzeit durch die University of California in Santa Barbara (UCSB) erlangt, an der Prof. Campàs vor seinem Wechsel an die TU Dresden geforscht hat.
Die Arbeitsgruppe von Prof. Campàs hatte zuvor einzigartige Techniken entwickelt, um die winzigen Kräfte, die Zellen im Gewebe erzeugen, sowie deren physikalische Eigenschaften mit Hilfe winziger Einzeltröpfchen zu messen. Dr. Antoine Vian, der Hauptautor der Arbeit und Experte für Mikrofluidik – die Technologie, die die Erzeugung von Doppelemulsionströpfchen ermöglicht – betont deren Schlüsselrolle: "Doppelemulsionen sind sehr vielseitig und können in Wissenschaft und Technik auf vielfältige Weise eingesetzt werden. Einzelne Tröpfchen können verformt werden, sind aber inkompressibel und erlauben keine Druckmessungen. Stattdessen können Doppelemulsionströpfchen ihre Größe verändern und als osmotische Drucksensoren verwendet werden. Ihr Einsatz in lebenden Systemen wird sicherlich neue und aufregende Entdeckungen ermöglichen."
Über das Exzellenzcluster Physik des Lebens (PoL):
Physics of Life (PoL) ist einer von drei Exzellenzclustern an der TU Dresden. Er konzentriert sich auf die Identifizierung der physikalischen Gesetze, die der Organisation des Lebens in Molekülen, Zellen und Geweben zugrunde liegen. In dem Cluster untersuchen Wissenschaftler:innen aus Physik, Biologie und Informatik, wie sich aktive Materie in Zellen und Geweben zu bestimmten Strukturen organisiert und Leben entstehen lässt. PoL wird von der DFG im Rahmen der Exzellenzstrategie gefördert. Es ist eine Kooperation zwischen Wissenschaftler:innen der TU Dresden und Forschungseinrichtungen des Netzwerks DRESDEN-concept, wie dem Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG), dem Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme (MPI-PKS), dem Leibniz-Institut für Polymerforschung (IPF) und dem Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR).
Medienkontakt:
Dr. Maria Begasse
Chief Operating Officer
Cluster of Excellence Physics of Life
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