Oct 19, 2021
Bunte Truppe macht es spannend
»Geschichte lebt vom Spannungsfeld aus Individuum und Gemeinschaft«
Beate Diederichs
Der Dresdner Mittelalter-Historiker Jörg Sonntag wurde vor Kurzem in das »Junge Forum« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften berufen. Der habilitierte Mediävist möchte sich dort weiter vernetzen, am wissenschaftlichen Diskurs beteiligen, Forschungsprojekte entwickeln, kurz: Dinge bewegen. »Etwas zu bewegen, heißt für mich Fortschritt, und ihn braucht jede Wissenschaft«, sagt der 44-jährige begeisterte Mediävist, der an der Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte (FOVOG) tätig ist, einer zentralen Einrichtung der TUD innerhalb des DRESDEN-concept Project Centers.
Finsterstes Mittelalter, mittelalterliche Vorstellungen, ein Land ins Mittelalter zurückwerfen – solche Redewendungen zeigen: Viele Menschen verbinden mit der Epoche zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Neuzeit Rückschrittliches, im negativen Sinne Archaisches, sogar Abschreckendes. Der Mittelalter-Historiker Jörg Sonntag hingegen kennt zwar natürlich auch diese Kehrseiten der Zeit, die viele Forscher zwischen dem sechsten und dem fünfzehnten Jahrhundert einordnen. Doch gleichzeitig fasziniert ihn diese Epoche sehr, sonst hätte er sie sich nicht zum Forschungsgegenstand gewählt: »Für mich ist das Mittelalter ein geradezu verdichtetes Biotop an ungemein spannenden Phänomenen. Es ist dabei einerseits zeitlich weit genug weg, um einfacher objektive Analyse zu betreiben. Andererseits ist es nahe genug an unserer Zeit, um grundlegende strukturelle Entwicklungen bis in die Moderne weiterverfolgen zu können«, sagt der 44-Jährige. Für den Mediävisten ist seine Untersuchungsepoche in mehrerer Hinsicht spannend: als Zeitalter großer Auseinandersetzungen zwischen weltlichen und geistlichen Mächten, von Heldenerzählungen und Sagen, von erfindungsreichen Klöstern, von Entdeckungsreisen in ferne Kontinente, von wieder aufblühenden Städten, von Rittern, Burgen und Schlössern, aber auch – Stichwort Kehrseiten – von Epidemien, Ketzerverfolgungen, Fehden und Kriegen. Und natürlich ist es das Zeitalter des Glaubens, der Jörg Sonntag, der während seines Studiums in Dresden und Marburg Theologie als Nebenfach studierte, besonders interessiert: »Der Glaube war damals so fundamental, dass er sich als kulturelle Matrix durch alle Lebenslagen der Gesellschaft zog. Daher eignet sich das Mittelalter besonders gut für glaubens- und ideengeschichtliche Analysen.« An der FOVOG forscht Jörg Sonntag im Projekt »Klöster im Hochmittelalter: Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle«, das von Prof. Gert Melville geleitet wird. Momentan befasst er sich dabei mit dem Ordensrecht, erklärt den innovativen Charakter der Klöster aber auch gerne am Beispiel des Spiels, eines weiteren seiner Forschungsgegenstände: »In den Klöstern erfand man nicht nur im 13. Jahrhundert das Tennis und entdeckte das Kegeln wieder, sondern transformierte das Schachspiel auch so, dass man es gewissermaßen verstand, da es nun der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung mit König, Königin, Bischof, im Spiel Läufer, Ritter, im Spiel Pferd, Richter, im Spiel Turm, und Bauern entsprach. Zusammenfassend kann man sagen, dass in den Klöstern der Grundstein für die positive Bewertung des Spiels als Grundbedürfnis menschlichen Lebens gelegt wurde.«
Vor einigen Wochen wurde Jörg Sonntag nun gleich nach seiner Habilitation an der TUD ins »Junge Forum« der Sächsischen Akademie der Wissenschaften berufen. Als Mediävist kann er im »Jungen Forum« mit Kolleginnen und Kollegen aus Stadt- und Regionalentwicklung, Kunstgeschichte, Maschinenbau, systematischer Theologie und Biologie zusammenarbeiten. »Wir sind eine bunt zusammengewürfelte Truppe – aber genau das macht es spannend«, meint er. Mit einem der Fachkollegen, Dr. Stephan Flemmig, der Experte für Thüringische Landesgeschichte ist, hat Jörg Sonntag bereits konkrete Pläne der Kooperation entwickelt: »Ich werde auf einer Akademie-Tagung im kommenden Jahr, die er organisiert, über das Thema Andacht und Spiel sprechen.«
Vielleicht bekommt der Mittelalter-Historiker im Rahmen der Kooperation im »Jungen Forum« auch die Gelegenheit, seine Forschungen über ein weiteres Phänomen zu präsentieren, mit dem er sich beschäftigt: dem Haar und seiner kulturellen Kraft im Mittelalter. »Als organischer, sympathetischer, also eine geheimnisvolle Wirkung auslösender, und höchst wandelbarer Teil des menschlichen Körpers war es weitaus geeigneter als beispielsweise Kleidung, um einerseits individuelle menschliche Anliegen – vom Opfer bis zur Selbstverwirklichung – und andererseits gemeinschaftsübergreifende und abgrenzende soziale Bindungen zu erzeugen, darzustellen, zu bewahren oder zu stören«, fasst Jörg Sonntag zusammen und verweist als Beispiel auf die Merowinger, deren Macht auch in ihren Haaren gelegen haben soll, und auf Bauersfrauen, die sich ihre Stirn ausrasierten, um als adlige Frauen durchzugehen. Mönche trugen Tonsur, um die Dornenkrone Christi zu symbolisieren. Haare wurden sogar für Liebeszauber benutzt, weil sie die angebetete Person repräsentierten. »Das Haar stand so einerseits für das Selbst eines Menschen und fungierte andererseits als äußerer Ausweis eines inneren Seelenzustandes und konnte über seine sozial-kodierten Botschaften andere beeinflussen. Damit stand dieses Körperattribut in dem Spannungsfeld aus Individuum und Gemeinschaft, von dem die Geschichte lebt, wenn nicht sogar manchmal im Zentrum der Geschichte selbst. Hieraus bezog es sein kulturelles Potenzial«, erläutert der begeisterte Mediävist, der dieses Thema im Dezember im Rahmen eines zweiwöchigen Lehrfellowships in Tel Aviv den dortigen Studierenden nahebringen und so nebenbei seine bereits jetzt umfangreichen internationalen Erfahrungen in Lehre und Forschung um eine weitere Facette ergänzen wird.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 16/2021 vom 19. Oktober 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.