21.09.2021
Ein Klassenraum, der fast alles kann
Der Lehr-Lern-Raum Inklusion kann sich nahezu jeder Lerngruppe anpassen
Beate Diederichs
Im November 2020 wurde im Erdgeschoss des SE 2, eines Teils des Seminargebäudes am Zelleschen Weg, der Lehr-Lern-Raum Inklusion fertiggestellt. Dass es dieses multifunktionelle Klassenzimmer, das zum Zentrum für Lehrerbildung, Schul- und Berufsbildungsforschung (ZLSB) gehört, nun gibt, wurde leider weniger bekannt, als es unter normalen Umständen gewesen wäre. Das ist sehr schade, meint Tina Czaja, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Koordinierungsstelle Inklusion am ZLSB. Denn dieser Klassenraum, der fast alles kann, hat das Potenzial, sich an den Bedarf nahezu jeder Lerngruppe anzupassen.
Er ist so groß wie eine elektronische Zahnbürste und aus ähnlichem Material, reinigt aber keine Zähne, sondern spricht. Um genauer zu sein: Eigentlich ist es natürlich Tina Czaja, die durch ihn, den Vorlesestab, spricht. »Ich habe dafür beispielsweise Texte eingelesen, die Szenen aus einem Bilderbuch beschreiben. Sie lassen sich abspielen, wenn man mit dem Vorlesestab Sticker an der entsprechenden Stelle im Buch antippt. So kann man vor allem Kindern, die nicht ausreichend lesen können, die entsprechende Szene nahebringen«, erläutert die wissenschaftliche Mitarbeiterin des ZLSB. Der Vorlesestab ist nur ein Beispiel des Materials, das der Lehr-Lern-Raum Inklusion bereithält, um didaktische Prozesse zu unterstützen. Schließlich sollen Lehramtsstudierende an der TUD darauf vorbereitet werden, einer heterogenen Schülerschaft die gleichberechtigte Teilhabe an Unterricht und Schulleben zu ermöglichen. »Wir haben dabei einen sehr weiten Begriff von Inklusion: Wir möchten nicht nur auf die Bedürfnisse von Kindern mit Lern- oder anderen Behinderungen eingehen, sondern auch auf die von verschiedenen Lerntypen«, fasst Tina Czaja zusammen. So findet man im SE 2 Nummer 22 neben integrierbaren Ohrstöpseln, Etiketten in Brailleschrift und eben dem Vorlesestab auch Klangpaare für auditive, also hör-orientierte Lerntypen und Fühlrätsel für taktile Lerntypen; das sind Menschen, die vor allem über das Berühren lernen. Das multifunktionelle Klassenzimmer kann sich wie ein Chamäleon anpassen an das, was die entsprechende Lerngruppe braucht. Dazu gehören auch eine ausgefeilte digitale Ausstattung, eine kombinierte interaktive und traditionelle Tafel und analoge Elemente wie unterschiedlich einsetzbare Stuhl-Tisch-Ensembles und Sitzsäcke.
Vor seiner Transformation bis zum November 2020 war Raum 22 ein normaler Seminarraum, wo vor allem Lehrveranstaltungen der Fachdidaktik stattfanden. So arbeitete hier beispielsweise vor einiger Zeit eine Förderschulklasse gemeinsam mit einer Gymnasialklasse unter Anleitung an einem Projekt über Europa. Die Idee zur Neugestaltung stammt von Frank Beier und entstand 2018. Der promovierte Wissenschaftler und Kollege von Tina Czaja trug dann auch entscheidend dazu bei, den Raum inhaltlich mit Leben zu füllen – und leitet ihn heute. »Inklusion ist ein fächerübergreifender Themenschwerpunkt in den Lehramtsfächern, der alle Studierenden betrifft. In diesem Raum kann man dazu unterschiedliche Veranstaltungen und Aktivitäten durchführen, wie Seminare, Beratungen, Exkursionen mit Klassen oder Workshops«, sagt Tina Czaja, die dies koordiniert. Dafür gab es im letzten Jahr eine Förderung durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK). In diesem Jahr erhält ein Seminar innerhalb des Projekts Gelder als Digital Fellowship. Die studentischen Hilfskräfte Anne-Sophie Neubert, Anja Weitzmann und Nikita Uhde arbeiten daran mit. Zusätzlich möchte man noch eine wissenschaftliche Hilfskraft für IT einstellen.
Denn das Digitale ist ein wichtiger Baustein des Lehr-Lern-Raums Inklusion. Seine Fertigstellung fiel nämlich mitten ins zweite Fernlernsemester. »So stand der Raum rein physisch erst einmal leer. Wir entwickelten aber Konzepte, ihn digital zu nutzen«, berichtet Tina Czaja. Eins davon ist »Escape from your classroom! – Digital inklusiv lehren und lernen«, ein Projektseminar, das im Sommersemester 2021 entstand. Nach einem Theorieteil, in dem unter anderem vermittelt wird, was Inklusion ist und mit welchen digitalen Werkzeugen man diese umsetzen kann, arbeiten die Studierenden im Praxisteil an eigenen digitalen Projektideen. Frank Beier und Tina Czaja betreuen sie dabei. Das Entfliehen aus dem Raum funktioniert beispielsweise so: Man aktiviert einen QR-Code auf einem Arbeitsblatt, das sich im Zimmer befindet, und greift so auf ein Erklärvideo zu. Innerhalb des Themas »Wasser« im Chemieunterricht könnten sich Lehrende oder Lernende so zum Beispiel Zusatzinformationen aneignen, wie Mikroplastik im Wasser wirkt. »Wir wollen das mit kundiger Unterstützung so programmieren, dass man von überall darauf zugreifen kann«, so die Koordinatorin. Für dieses Seminar wurden die Mittel über das Digital Fellowship bewilligt. Die zweite Idee ist ein digitaler Katalog, wo Lehrkräfte nach konkreten Schlagworten gezielt in dem Material danach suchen können, was sie für eine bestimmte Unterrichtsstunde brauchen. »In der Zeit, als wir komplett geschlossen hatten, war das Material natürlich nicht direkt zugänglich. Wir wollten aber dennoch den Lehrkräften diese kostenlose Unterstützung unsererseits bieten. Das Material ist zum Beispiel danach geordnet, in welchem Fach, zu welchem Bedarf oder zu welchem Lerntyp es einsetzbar ist. Man kann es mit einem Kochbuch vergleichen: Wir geben an, was das Ziel ist, was man dafür braucht und wie man damit arbeitet«, sagt Tina Czaja. Vor kurzem ist der Katalog zusätzlich in Printform erschienen. Denn auch unter den Lehrkräften gibt es den taktilen Typ, der sich freut, neben der digitalen Liste eine auf Papier zum Anfassen und Blättern zu haben.
Der digitale Katalog ist hier zu erreichen.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 14/2021 vom 21. September 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.