02.11.2021
Eine Zeitreise in textile Hochleistungen
Bergungsfallschirm der V-2-Rakete zur textiltechnischen Untersuchung an der TU Dresden
Dr. Tino Kühn
Technische Textilien sind heute Hightechprodukte und Gegenstand intensiver Forschung. Dies war bereits schon vor über 80 Jahren der Fall, wobei bisher nur relativ wenig über die frühe stoffliche Qualität und deren Anwendungsfelder bekannt ist.
Der Ingenieur, Wissenschafts- und Technikhistoriker Dr. Andreas Haka, welcher seit vielen Jahren an der Universität Stuttgart zur Geschichte und Praxis von technischen Textilien und Verbundwerkstoffen forscht und lehrt, entdeckte nach intensiven Recherchen in einem Archiv bisher unbekannte Materialproben sowie Fallschirme, welche für die Wehrmacht entwickelt wurden. Dreh- und Angelpunkt hierbei war die Stuttgarter »Forschungsanstalt Graf Zeppelin« (FGZ), über die nur wenig bekannt ist. Grund dafür ist, dass kurz vor Kriegsende an der FGZ der größte Teil des Aktenbestandes vernichtet wurde. Es ist lediglich bekannt, dass an Themen wie beispielsweise Sprengstoffphysik, Zielballistik, Aerodynamik und Fallschirmentwicklung geforscht wurde. Letztere wurde zur Wiege des heute allgegenwärtigen Bänderfallschirmes. Der Entwickler dieser Fallschirme war der Ingenieur Theodor Knacke, welcher nach seiner Tätigkeit an der Stuttgarter FGZ im Jahr 1945, wie auch der bekannte Raketenwissenschaftler Wernher von Braun, für eine Tätigkeit in den USA rekrutiert wurde. Dort zeichnete er später für die Brems- und Bergungsfallschirme der Mercury-, Gemini- und Apollo-Missionen verantwortlich. Die gefundenen Proben und Fallschirme stammen auch aus Knackes Nachlass.
Bei den aufgefundenen Materialproben handelt es sich um sehr frühe Proben der PeCe-Faser (Polyvinylchlorid) und der Polyamidfaser, die später unter dem Markennamen »Perlon« bekannt wurde. Der Perlon-Entwickler Paul Schlack war eng mit der Stuttgarter FGZ verbunden, daher verwundert es nicht, so Haka, dass seine 1938 entwickelte Perlonfaser, welche als geheim eingestuft wurde, zeitnah für militärische Entwicklungen Verwendung fand.
Haka recherchierte für seine Arbeit in rund 30 Archiven weltweit. Den entscheidenden Hinweis lieferte ein kleines Ortsarchiv, wo auf die Existenz von sehr frühen Fallschirmen hingewiesen wurde, und was schließlich auch zum Fund der Fallschirme und Materialproben selber führte. Einer der so entdeckten Fallschirme ist der Bergungsfallschirm für das Atmosphärenmesssystem (bekannt als »Regener-Tonne«) der V-2-Rakete, welcher von der FGZ in Kooperation mit der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde in den 1940er-Jahren entwickelt wurde und auch noch 1945 zum Einsatz kam.
Dass die Proben und Fallschirme nunmehr in Dresden untersucht werden können, ist zum einen dem exzellenten Ruf der Dresdner Textilforschung und insbesondere der dortigen Professur Montagetechnik für textile Produkte am Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik geschuldet. Zum anderen liegt es auch an der Beharrlichkeit des Entdeckers. Es war ein langer Weg bis nach Dresden, so Haka. Bei den Fallschirmen führte der Weg von einer Seniorenresidenz in Florida in den USA über Stuttgart schließlich nach Dresden zur Untersuchung. Später werden die Materialproben und Fallschirme ihren dauerhaften Platz im Stuttgarter Universitätsarchiv finden, wo sie dann für die weitere Forschung zur Verfügung stehen.
Bei der Sichtung der Materialproben und Fallschirme der FGZ stellte Prof. -Kyosev fest, dass es sich für die damalige Zeit um absolute Hightechwerkstoffe handelte. Allein schon die Tatsache, dass zu dieser Zeit bereits eine dreifädige Bindung für Fallschirmseile Verwendung fanden, ist bemerkenswert. Nach Ansicht des Textilwerkstoffforschers ist dieses Projekt eine spannende Zeitreise durch sein Fachgebiet.
Die nunmehr angestoßene Kooperation zwischen Stuttgart und Dresden wird sich auf die textiltechnische Untersuchung der Proben und Fallschirme, die Designanalyse und die digitale Rekonstruktion der Fallschirme und deren Untersuchungen im Windkanal erstrecken. Die Ergebnisse sollen im Anschluss in mehreren gemeinsamen Publikationen vorgestellt werden.
Die Wissenschaftler erhoffen sich von den Dresdner Untersuchungen unter anderem Aufschluss über die damaligen Standards im Bereich der technischen Textilien. Im Kontext der Nachhaltigkeit interessiert sie auch, in welchem Zustand die Proben und die Fallschirme heute sind und welche Alterungserscheinung beispielsweise die Perlongewebe nach so vielen Jahren aufweisen. Viele der Proben und Fallschirme weisen Herstellernamen auf, was genutzt werden soll, um das Netzwerk der Rüstungsforschung und -produktion besser verstehen zu können. Die Untersuchungen sollen auch die tragischen Dimensionen berücksichtigen, da an der Entwicklung und Produktion KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter eingebunden waren.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 17/2021 vom 2. November 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.