Oct 05, 2021
»Familie 2021 – Ende einer Schicksalsgemeinschaft?«
Lebhaftes Interesse an erster Online-Jahrestagung der Psychosomatik
Dagmar Möbius
Die 22. Jahrestagung der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Dresden (PSO) fand Mitte September erstmals als Online-Konferenz mit rund 170 Teilnehmern statt. Mit dem aktuellen Thema »Familie 2021 – Ende einer Schicksalsgemeinschaft?« standen nach 2019 zum zweiten Mal in Folge Familienaspekte im Mittelpunkt. Im Jahr 2020 musste die jährliche Tagung pandemiebedingt abgesagt werden. Nun wurde über plurale Familienmodelle, Krankheitsverarbeitung über zwei Generationen, Möglichkeiten und Grenzen der Multifamilientherapie, über Mentalisieren sowie über neuere Forschung zu Chancen und Grenzen psychotherapeutischer Bindungsförderung in Schwangerschaft und früher Elternschaft gesprochen. Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit der VAMED Rehaklinik Schwedenstein GmbH – Fachklinik für Psychosomatische Medizin, der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Görlitz und dem Städtischen Klinikum Dresden – Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie (Weißer Hirsch) durchgeführt.
»Rund zwanzig Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind psychisch auffällig.« Auf diesen schon vor der Corona-Pandemie attestierten Forschungsbefund sowie auf die dramatischen Auswirkungen von Armut wies Dr. Carmen Eschner aus Solingen hin. Die Erziehungswissenschaftlerin hat über den Wandel von Erziehungskonzepten promoviert und erläuterte, wie sich autoritäre und demokratische Stile auswirken. Sie plädiert für ressourcenorientiertes Arbeiten und appellierte an alle therapeutisch Tätigen: »Bringen Sie den Eltern große Wertschätzung entgegen. Das vermissen sie in Politik und Gesellschaft am meisten.« Die Psychologische Psychotherapeutin empfiehlt, Pädagogik und Entwicklungspsychologie als Schulfach einzuführen. Nach ihrem Vortrag entwickelte sich eine intensive Diskussion, nicht nur über Ideologisierung. Einen allgemeingültigen Erziehungsratgeber gebe es nicht. »Eine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit Erziehungskonzepten der DDR beschäftigt, würde ich interessant finden«, ermunterte Eschner. »Denn in meiner Veröffentlichung kamen diese aus Kapazitätsgründen zu kurz.«
Über den Wert von Verlusten wird seit Corona zwar öfter als zuvor gesprochen. Dennoch gehört Trauer zu den gern vermiedenen Themen. Der Dresdner Diplom-Psychologe Stefan Höring begleitet als Systemischer Therapeut unter anderem Trauernde und steuerte Erfahrungen sowie neuere wissenschaftliche Ansichten zum Thema »Trauer in der Familie« bei. Nicht nur der Verlust von Bezugspersonen, auch plötzliche körperliche, krankheitsbedingte Einschränkungen, der Verlust beruflicher Ideale oder das Bewusstwerden eigener ungelebter Anteile können Menschen belasten. Todesfälle, besonders Suizide, Gewaltverbrechen, aber auch Trennungen und Erkrankungen beeinflussen die Dynamik einer Familie. »Ungewollte Kinderlosigkeit beispielsweise wird von außen oft nicht als Verlust anerkannt«, sagte Höring. »All das wirkt sich auf die Rollen und das Gleichgewicht einer Familie aus.« Der Begriff »pathologische Trauer« soll heute nicht mehr verwendet werden, da Trauer als neurobiologisch angelegte Reaktion mit adaptiver Funktion verstanden wird. In anderen Worten: Intensiv Trauernde können zwar Symptome wie Depressive aufweisen, sie sind jedoch nicht krank und verkraften den erlittenen Verlust ohne Behandlung. Sätze wie »Jetzt muss es mal wieder gut sein« sind nicht hilfreich. Wie lange das Verarbeiten dauert, ist sehr verschieden. Laut Studien finden nur relativ wenige Trauernde nach einem Jahr nicht in ihren Alltag zurück. Die neuere psychologische Forschung beschreibt den Prozess als komplex: »Phasen stärkeren Trauerns wechseln sich mit Zeiten geringeren Leidens ab.« Stefan Höring stellte aktuelle Diagnosekriterien und therapeutische Instrumente vor.
»Vielschichtig, nachdenklich stimmend, informativ und motivierend«, fasste die wissenschaftliche Leiterin der Tagung, Professorin Kerstin Weidner von der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Dresden, die zweitägige Konferenz zusammen. Die mottogebende Schicksalsfrage könne sich nach vielen Impulsen jeder individuell beantworten. Teilnehmer lobten die gelungene Brücke zwischen Forschung und Praxis. Die 23. Jahrestagung der PSO wird für den 23./24. September 2022 zum Thema »Therapeutische Beziehungen« geplant.
Weitere Informationen unter:
www.uniklinikum-dresden.de/pso-jahrestagung
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 15/2021 vom 5. Oktober 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.