Mar 15, 2022
Nur mit dem Finger auf die Politik zu zeigen, ist zu einfach
TUD-Experten befragt: Politikwissenschaftlerin Prof. Anna Holzscheiter zu Diplomatie und internationalen Organisationen vor dem und im Ukraine-Krieg
Prof. Anna Holzscheiter hat an der TUD die Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik inne. UJ sprach mit der Wissenschaftlerin von der Philosophischen Fakultät zur Thematik des Überfalls Russlands auf die Ukraine.
UJ: Am 24. Februar 2022 begann Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zuvor liefen diplomatische Bemühungen, diesen Überfall zu verhindern, auf Hochtouren. Ist der Krieg auch ein Versagen europäischer und transatlantischer Diplomatie?
Prof. Anna Holzscheiter: Wir erleben momentan einen entsetzlichen, überflüssigen Angriffskrieg – und eine beispiellose internationale Kraftanstrengung, um diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Wir erleben aber auch, dass, trotz vielfacher Warnungen von Politikwissenschaftler:innen, Osteuropa- und Russlandexpert:innen, außenpolitischen Berater:innen und Journalist:innen, ein sich eindeutig anbahnender Angriff russischer Streitkräfte auf fremdes Territorium nicht verhindert wurde. In diesem Sinne teilen viele die Ansicht, dass die europäische und transatlantische Diplomatie versagt hätten, insbesondere seit dem 5-Tage-Krieg zwischen Russland und Georgien 2008 und der Annexion der Krim im Jahr 2014. Auf der anderen Seite zeichnen die psychologischen Porträts des russischen Staatspräsidenten das Bild eines hochintelligenten, unberechenbaren Autokraten, der, in den Worten des Journalisten Nikolai Swanidse, Sprache benutzt, »um seine Gedanken zu verstecken, nicht, um sie zu äußern« (»In seiner Welt«, SZ vom 11.2.2022), der über die Jahrzehnte nicht nur einen autoritären russischen Staat geschaffen, sondern auch paranoide und wahnhafte Züge entwickelt hat. Es ist sehr einfach, mit dem Finger auf die europäische oder transatlantische Politik gegenüber Russland zu zeigen – wichtiger als gegenseitige Schuldzuweisungen ist es jedoch, die vielen und sehr komplexen Ursachen und Zusammenhänge dieses Angriffskrieges zu verstehen, um im Moment dieser humanitären Katastrophe die richtige Antwort auf den Krieg zu finden.
In einer Regierungserklärung bezeichnete Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich den Krieg als eine »Zeitenwende«. Sehen Sie das auch so?
Es ist schwierig, in einem Moment der Katastrophe bereits von einer Wende zu sprechen, wenn ja noch gar nicht absehbar ist, in welche Richtung der Krieg die Geschichte, die Zukunft der Ukraine, Russlands, Europas und der Welt wenden wird. In meinen Augen ist nicht der Krieg selbst eine Zeitenwende, sondern er ist Ausdruck einer Zeitenwende, wenn man sich beispielsweise die Kriegsführung durch russische und ukrainische Hacker im Cyberspace vor Augen führt oder die beispiellosen Fluchtbewegungen, die er ausgelöst hat. Oder wenn man die Reaktionen auf die Invasion Russlands in der Ukraine betrachtet, die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der Regierungen, Zivilgesellschaft, Medien, aber auch viele Unternehmen die Aggression Russlands und das sinnlose Blutvergießen sanktioniert und angeprangert haben. Zugleich birgt der Begriff jedoch auch Gefahren, wenn er einem autokratischen Staatschef, der eine solche rückwärtsgewandte Zeitenwende gerade herbeiführen will, geradezu in die Hände spielt.
In der Woche nach dem Beginn des Krieges hat die Ukraine am 28. Februar Russland beim höchsten UN-Gericht, dem Internationalen Gerichtshof, wegen Völkermordes verklagt. Welchen Stellenwert hat solch eine Klage? Hat das Gericht überhaupt Machtmittel?
Eine solche Klage hat einen hohen Stellenwert, denn wir wissen, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) wiederholt Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und diejenigen, die sie ausgeübt haben, zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt hat. Allerdings hat Russland bislang das Rom-Statut, also den Gründungsvertrag des IStGH, nicht unterzeichnet, auch die Ukraine ist kein Vertragsstaat des IStGH, hat allerdings 2013 erklärt, dass sie die Zuständigkeit des IStGH für alle Geschehnisse auf ukrainischem Territorium ab dem 21. November 2013 anerkennt. Der IStGH kann daher gegen Täter:innen russischer Staatsbürgerschaft ermitteln. Im Laufe eines Verfahrens vor dem IStGH müssen allerdings mannigfaltige Beweise gesammelt werden, um Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen der Aggression zu belegen, insbesondere deshalb, weil der Strafgerichtshof Einzelpersonen zur Verantwortung zieht.
Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats gegen den Einmarsch Russlands scheiterte am Veto Russlands. Kann man »Moskau« diplomatisch isolieren, bzw. ist das überhaupt sinnvoll?
Wir sehen schon jetzt, wie vehement und geschlossen sich große Teile der Welt von Russland abwenden, gerade in den Vereinten Nationen. Die UNVollversammlung hat am 2. März mit großer Mehrheit den Krieg gegen die Ukraine verurteilt – 141 UN-Mitgliedsstaaten haben für eine UN-Resolution gestimmt, die Russland dazu auffordert, die Aggression sofort zu stoppen und von jeder weiteren rechtswidrigen Androhung oder Ausübung von Gewalt abzusehen. In den Reden vor der UNGeneralversammlung, die der Resolution vorangingen, zeigten viele Mitgliedsstaaten blankes Entsetzen über die Invasion Russlands in der Ukraine und die offensichtlich menschenverachtende Kriegsführung der russischen Streitkräfte. Auch der hochpolitisierte Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat am 4. März beschlossen, eine unabhängige internationale Kommission zur Untersuchung möglicher Menschenrechtsverletzungen im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine einzusetzen. Dennoch ist es angesichts der geopolitischen Stärke Russlands und des Eskalationspotenzials des Konflikts natürlich nicht sinnvoll, Russland diplomatisch zu isolieren. Wir erleben ja gerade das Gegenteil davon – der ukrainische Staatspräsident betont jeden Tag seine Verhandlungsbereitschaft, es fanden mehrere Gespräche zwischen dem französischen Staatspräsident Emmanuel Macron und dem russischen Präsidenten Putin statt, die Außenminister von Russland und der Ukraine trafen sich am 10. März in der Türkei zu Verhandlungen. Es wäre offensichtlich fatal, Russland diplomatisch zu isolieren und die Gesprächskanäle nicht offen zu halten.
Sie sind Projektleiterin eines auf drei Jahre angelegten Forschungsprojekts zu politischen Ideen. Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Kanada und Großbritannien wollen Sie dazu beitragen, »dass politische Akteure, Nichtregierungsorganisationen, Aktivisten und die Öffentlichkeit die Prozesse besser verstehen, durch die sie beeinflusst werden«, sagten Sie. Lassen sich in Ländern mit politischer Unterdrückung, unfreier Medienberichterstattung und intransparenten politischen Aushandlungsprozessen überhaupt solche Forschungsprojekte durchführen?
Sie sprechen ein sehr wichtiges Problem der politikwissenschaftlichen Forschung an: Wir sind in unserer Forschung angewiesen auf historische Dokumentation und öffentlich zugängliche Archive, die diese bereitstellen, auf einen transparenten politischen Aushandlungsprozess, idealerweise über lückenlose Protokolle von Parlamentsdebatten, auf eine möglichst ausgewogene Medienberichterstattung und eine lebhafte Zivilgesellschaft. Wo diese Elemente nicht gegeben sind, wird es unglaublich schwierig, gerade aktuelle, – und damit natürlich oft hochexplosive politische – Entscheidungsprozesse und gesellschaftliche Debatten nachvollziehen zu können. Selbst dann, wenn wir uns auf Interviewpartner:innen aus politischen Institutionen, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Medien verlassen wollen, müssen wir in autoritären Systemen damit rechnen, dass wir diese alleine durch eine Kontaktaufnahme oder durch unser Interview exponieren und gefährden. Da wir in unserem Projekt die Entstehung und Diffusion von »frames«, also bestimmten Deutungen politischer Probleme und bestimmter Diskurspositionen, möglichst lückenlos nachvollziehen wollen, stützen wir uns momentan nur auf die Dokumentation von Aushandlungsprozessen in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen und der Europäischen Union.
Mit Prof. Anna Holzscheiter sprach Karsten Eckold.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 5/2022 vom 15. März 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden