Jun 14, 2022
Weiße Flecken in der sächsischen Landesgeschichte tilgen
Verein für sächsische Landesgeschichte e. V. vergibt erstmals seinen neu eingerichteten Hubert-Ermisch-Preis
Beate Diederichs
Vor einigen Wochen vergab der Verein für sächsische Landesgeschichte e. V. zum ersten Mal den Hubert-Ermisch-Preis. Er hat diesen Preis eingerichtet, um herausragende studentische Abschlussarbeiten zur Historie Sachsens zu würdigen. Die erste Preisträgerin war die ehemalige Masterstudentin Sophie Döring mit ihrer Arbeit zum Kino im Ersten Weltkrieg – einer sehr aufwändigen Studie, für die die 25-Jährige rund 3000 Filme bearbeiten musste. »Abschlussarbeiten wie ihre stellen eigenständige Forschungsleistungen dar und haben daher eine größere Verbreitung und Anerkennung verdient«, sagt Judith Matzke, die Erste Vorsitzende des Vereins.
Alles begann mit der »Sammlung Ott«, einer Chronologie der Dresdner Kinos, auf die die Forschung vor einigen Jahren im Dresdner Stadtarchiv aufmerksam wurde. »Es gibt meines Wissens in ganz Deutschland nichts Vergleichbares zu dieser Liste, die der Opernsänger Ott zusammengestellt hat. Warum er das getan hat, wissen wir nicht genau. Leider endet die Auflistung abrupt zu NS-Zeiten. Dennoch ist sie ein wertvolles Dokument der Zeitgeschichte, ohne die meine Masterarbeit nicht möglich gewesen wäre«, berichtet Sophie Döring. Die 25-Jährige ist ehemalige Masterstudentin der Geschichte an der TUD, jetzige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde und erste Trägerin des Hubert-Ermisch-Preises des Vereins für sächsische Landesgeschichte e.V. Mit der Sammlung zu arbeiten und sie zu deuten, war nichts Neues für Sophie Döring: Denn sie hatte bereits als studentische Hilfskraft an einem Forschungsprojekt dazu mitgewirkt, das der damalige Lehrstuhlinhaber Winfried Müller initiiert hatte. Aus dieser Arbeit gingen auch die Ideen zu ihrer Bachelor- und ihrer Master-, also ihrer Abschlussarbeit, hervor. Auf Basis des Materials analysierte sie für die Masterarbeit die Dresdner Kinolandschaft der 1910er- und frühen 1920er-Jahre. »Kino im Krieg – das klingt erst einmal nach Frontkino. Aber ich fand es spannender zu untersuchen, wie es gewissermaßen an der Heimatfront aussah«, erklärt die junge Historikerin. Am Ende stand eine sehr aufwändige Studie, an der Sophie mehrere Monate arbeitete und die sie im Juni 2021 verteidigte. Dafür musste sie rund 3000 Filme erfassen und prüfen, wobei es zu der überwiegenden Zahl davon nur Eckdaten wie Erscheinungsjahr und Titel gibt. Lediglich ein kleiner einstelliger Prozentsatz ist noch physisch vorhanden, kann also angeschaut werden. Aber es fehlen teils einzelne Passagen. Die Forscherin zog zudem zum Vergleich Filminserate aus den »Dresdner Neuesten Nachrichten« heran. »Meine Leitfrage war: Wie hat der Erste Weltkrieg die Dresdner Kinokultur verändert? Nach und nach kristallisierten sich mehrere Thesen heraus, die ich dann in meiner Arbeit festhielt«, erzählt Sophie Döring. Sie fand unter anderem heraus, dass Dresdens Kinolandschaft im Untersuchungszeitraum stabiler blieb als die vergleichbarer Städte, dass hier damals mehr inländische Filme und weniger »große Militärfilme« gezeigt wurden als anderswo, dass die Stadt eine eigene Wochenschau produzierte und dass man in Dresden überproportional viele Detektivfilme sah. »Generell hat das Kino damals enorm an Prestige gewonnen, auch weil es durch den Krieg nicht viele konkurrierende Kulturangebote gab. Davon profitierte es noch in den 20er-Jahren.«
Der 1992 gegründete Verein für sächsische Landesgeschichte e. V. richtete den Hubert-Ermisch-Preis ein, um Abschlussarbeiten wie die von Sophie Döring zu würdigen und ihnen eine breitere Reichweite zu verschaffen. »Zahlreiche studentische Abschlussarbeiten in der Geschichtswissenschaft arbeiten mittlerweile auf Basis von archivischen Quellen und tilgen damit bislang weiße Flecken in der sächsischen Landesgeschichte. Sie stellen eigenständige Forschungsleistungen dar und haben eine größere Verbreitung und öffentliche Anerkennung verdient«, sagt Judith Matzke. Für die promovierte Historikerin und Erste Vorsitzende des Vereins entspricht die Studie zum Kino im Ersten Weltkrieg beispielhaft den Kriterien, die der Verein an preiswürdige Arbeiten anlegt: »Sie verknüpft Filmgeschichte und Landesgeschichte in hervorragender Weise und macht Trends der Kinogeschichte am regionalen Beispiel präzise fassbar. Mit dieser Masterarbeit ist auf breiter Quellenbasis und methodisch versiert eine außerordentlich ergebnisreiche Untersuchung entstanden.« Sophie Dörings Arbeit setzte sich bei der Bewertung durch eine Jury gegen drei weitere Abschlussarbeiten aus Dresden und Leipzig durch. Da der Preis zum ersten Mal verliehen wurde, sind die Vereinsmitglieder mit dieser Resonanz sehr zufrieden. Da die Anerkennung jährlich vergeben werden soll, ist davon auszugehen, dass sie Schritt für Schritt bekannter wird und in Zukunft mehr Einsendungen anzieht. Eckdaten des Procederes sollen dabei beibehalten werden: »Verbunden mit der Preisverleihung ist ein öffentlicher Vortrag zur preisgekrönten Arbeit und eine Unterstützung durch den Verein bei einer beabsichtigten Publikation. Diejenigen, die den Preis erhalten haben, werden außerdem für drei Jahre kostenfrei Mitglieder in unserem Verein und können mit ihren Ideen die Vereinsarbeit bereichern.« Der Verein für sächsische Landesgeschichte e. V. bringt akademische Landeshistorikerinnen und Landeshistoriker aus Universitäten, Museen, Archiven und Bibliotheken mit interessierten Laien zusammen und bietet ein vielfältiges Programm mit Vorträgen, Workshops und Exkursionen. Zudem dient er als Plattform für Vernetzung und Austausch. Der neue Preis, der nach dem Historiker, Archivar und Bibliotheksdirektor Hubert Ermisch benannt wurde, soll als Angebot für die junge geschichtswissenschaftliche Generation dazu beitragen, den Verein auch für andere Zielgruppen attraktiv zu machen als die, die er bisher erreichen konnte.
Sophie Döring, die die Preisverleihung am 30. April sehr genossen hat, schaut nun nach vorn und freut sich, dass ihre Arbeit bald ein breiteres Publikum erreichen kann: Bei ISGV Digital, einer Online-Publikationsreihe des Instituts, in dem sie seit Februar für vier Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist, kann sie sie noch dieses Jahr publizieren. Dort wird ihr Werk dann barrierefrei und kostenlos für alle Interessierten abrufbar sein. An ihrem neuen Arbeitsort, dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, wirkt sie nun an einem Digitalisierungsprojekt für ortsgeschichtliche Daten mit. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts wird sie demnächst auch ihre Dissertation -schreiben. »Als Thema habe ich mir die Afrikaexpedition gewählt, die August der Starke in Auftrag gegeben hat. Die ersten Rechercheschritte muss ich dabei bald angehen«, so die 25-Jährige.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 11/2022 vom 14. Juni 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.