16.02.2021
Zeit, die doch nicht stillsteht
Zugesehen: Emin Alpers »Eine Geschichte von drei Schwestern« fängt authentische Lebensmomente aus Anatolien ein
Andreas Körner
Natürlich sehen unsere Augen dann, wenn sie im wechselnden Licht der Leinwand groß und größer werden, auf besondere Weise nach vorn. Wenn spektakuläre Landschaften auftauchen, werden diese schon mal nach potenziellen Urlaubszielen vermessen. Spektakulär ist, was besonders abgelegen. Wo die Zeit stillzustehen scheint, wäre gut rasten. Wir gönnen uns das.
Karg und karstig thronen die Berge als Solitär, Menschen verschwinden mitsamt ihren Straßen und Dörfern im Stein. Was der Fels nicht leistet, schafft der Himmel. Männer sitzen am Feuer und parlieren sich beim Raki um Kopf und Kragen, Frauen bereiten schwatzend aus Joghurt, Salz und Wasser traditionellen Ayran im schaukelnden Holzfass zu, Hunde bellen ungefragt ihre Meinung ins Tal. Dass abends elektrische Lichter leuchten, überrascht ein wenig. Zentralanatolien – da müsste man auch mal hin!
Als 2014 »Winterschlaf« des großen türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan zu sehen war, der ein modernes Drama aus Kappadokien erzählte, waren bald die ersten Rucksäcke gepackt. Emin Alpers »Eine Geschichte von drei Schwestern« setzt gleichsam auf kunstvoll verwobene Bilder, die ihren Subtext aus zartbitterem Realismus beziehen. Es ist ein feinfühliger, nie anklagender, folkloristischer oder verklärender, eher resümierender Blick auf Tatsächlichkeiten. Kein Erklärfilm, das gerade nicht!
Regisseur Alper, 46-jährig, stammt selbst aus Zentralanatolien. Das lässt ihn im Beobachten Ruhe finden. So schlicht wie der Titel, baut sich knapp zwei Stunden lang eine Handlung auf, die auch Fragen stellt. Muss man vorab schon wissen, was eine »Besleme« ist, welche Rolle sie in der türkischen Familientradition spielt? Witwer Sevket wäre glücklich darüber, wenn seine drei Töchter »Besleme« geblieben wären. Wenn sie also in einem städtischen Haushalt arbeiten und leben würden, bei einem Doktor vielleicht oder Anwalt und dessen Ehefrauen, die sie dann gleichsam Vater und Mutter nennen.
Es hat nicht geklappt. Reyhan, die jetzt Zwanzigjährige, kam mit einem Kind zurück und wurde eilends mit dem schlichtgemütigen Veysel, einem der letzten verfügbaren Männer im Dorf, verheiratet. Nurhan wird mit 16, Havva mit 13 wieder heim geschickt, die Gründe sind zum Teil tragisch. Es soll nur ein »Parken« sein, denn es geht auch um Anerkennung in der Gemeinschaft. Reyhan hat bereits Pläne, sie will zur Tante nach Ankara und ihr Sohn soll Arzt werden – er ist noch ein Baby. Doch das nächste Unglück geschieht. »Eine Geschichte von drei Schwestern« ist im Ton spröde und in Dialogen sperrig. Authentische Lebensmomente einzufangen, war das Ziel. Mit Mut zur Lücke davon zu erzählen, dass die Zeit dort eben doch nicht stillsteht. Grandios gelingt es im Zusammensein der drei jungen Frauen, die schön sind und frech, sich necken und verletzen, die sich brauchen und in naher oder ferner Zukunft verlieren könnten.
Doch schon im Winter nach dem Sommer lässt uns dieser auf wundersame Weise nachwirkende Film wieder allein mit unseren Projektionen.
Nicht im Kino, aber als Stream auf www.grandfilm.de zu sehen.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 03/2021 vom 16. Februar 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.