Wer oder was stört hier eigentlich?
Wenn von einer "Störung" gesprochen wird, ist damit zuerst einmal ein beobachtetes Verhalten gemeint. Im pädagogischen Kontext wird Verhalten als die Fähigkeit
gekennzeichnet, "mit Sprache und/oder Handlungen auf die Reaktion von Anderen
oder ihren Erwartungen zu reagieren" (Langner 2009: 1). So wird beispielsweise von Schüler*innen erwartet, still auf ihren Plätzen zu sitzen, sich mit vorgegebenem Material zu beschäftigen oder sich zu einem bestimmten Zeitpunkt für das Thema X zu interessieren. Schüler*innen sollen sich also gemäß einer Normalitätsvorstellung vom Lernen verhalten: konzentriert, still, interessiert, motiviert usw.
Das Verhalten hängt damit von einem (Normalitäts-)Maßstab ab, der die*der Beobachter*in des Verhaltens innehat. Auffälligkeiten und Störungen im menschlichen Verhalten hängen folglich von der Perspektive der beobachtenden Person ab (ebd.).
Die Beschreibungen von Verhalten, die sich stark aus dem Fokus von Außenstehenden
ergeben, laufen jedoch Gefahr, die innere, "subjektiv sinnhafte Seite" (Lanwer
2002: 10) unberücksichtigt zu lassen. Die Folgen sind Zuschreibungen, die sich hauptsächlich aus der äußeren Perspektive speisen (z.B. "Du störst (mich/uns".).
Wenn die Erwartungen, wie sich eine Person dem "normalen", intendierten Lernprozess nach verhalten soll, gebrochen werden, wird das als Störung bezeichnet: Einer Störung des von der Lehrperson geplanten Lehr-Lern-Settings. Und hier kommen wir schon zum Kern der Sache: Es kommt zu einer “Störung”, wenn eine (lernende) Person keinen Zugang bzw. Anschluss an den von einer Lehrperson geplanten Ablauf findet. Oder kulturhistorisch gesprochen: Die Person kann in dem fremd geplanten Ablauf bzw. den Inhalten keinen individuellen Sinn für sich erzeugen (Steffens 2019: 40). Das Verhalten der Personen wird dann fälschlicherweise als "gelangweilt", "unaufmerksam" oder ganz allgemein als "störend" bezeichnet. Das “Problem” liegt also nicht bei der Person an sich, sondern an einem unpassenden Verhältnis von (Unterrichts-)Inhalt bzw. Aufbereitung und Individuum. Für die Person ist eine isolierende Bedingung entstanden, die sie mit einem (vorher) erlernten Verhalten zu kompensieren versucht: Das können z.B. Formen von aggressivem Verhalten, Zurückgezogenheit/depressives Verhalten oder selbstverletzendes Verhalten sein.
Anders gedeutet ist eine sogenannte “Unterrichtsstörung” also ein kompetenter Versuch, mit einer isolierenden Bedingung umzugehen.