Am Ende sind nur noch Drei übrig
Frau Z. ist Fachdozentin und freut sich, dass sie inzwischen vor allem Seminare anbieten kann. Das lag ihr schon immer besser und das anonyme Format einer Vorlesung mit vielen Teilnehmenden mochte sie noch nie. Denn sie hat das Gefühl, in Vorlesungen weniger an den Studierenden dran zu sein. Frau Z. freut sich auf jede einzelne Seminarsitzung. Seit einiger Zeit bemerkt sie, dass immer weniger Studierende am Seminar teilnehmen. In einem Gespräch mit einer Kollegin empfiehlt ihr diese, einen Seminarplan auszuhändigen und den Studierenden mehr Beteiligungsmöglichkeiten im Seminar zu bieten. “Oftmals wissen Studierende nicht, welche Themen sie genau erwarten. Mit einem Plan weckst du das Interesse. Außerdem habe ich bemerkt, dass Studierende aktiver sind, wenn sie das Seminar mitgestalten können. Eigene Ideen einzubringen motiviert sie!”. Frau Z. versucht, das im nächsten Semester umzusetzen. Sie schreibt einen Plan und bietet darin den Studierenden die Möglichkeit, in der letzten Sitzung aus drei Themen zu wählen. Bereits im Ankündigungstext für das Seminar verdeutlicht sie die Mitbestimmungsmöglichkeiten bei der Ausgestaltung von Sitzungen.
Tatsächlich haben sich im neuen Semester mehr Studierende eingeschrieben, doch bereits nach drei Wochen, nehmen die Zahlen wieder ab. Frau Z. ist ratlos. Sie hat Angst, dass sie ihr Seminar aus mangelndem Interesse der Studierenden und zu geringer Teilnehmendenzahlen nicht mehr anbieten kann.
Ronja ist im vierten Semesters ihres Studiums. Sie besucht am liebsten Lehrveranstaltungen, bei denen sie ihre Ideen und Themen einbringen kann. Durch die Mitbestimmung ist der Austausch am besten und die Diskussionen besonders spannend. Daher sucht sie besonders nach Veranstaltungen, die ihr in den Ankündigungstexten das Gefühl vermitteln, sie kann sich an der Gestaltung beteiligen Besonders freut sie sich, wenn Dozent*innen dazu bereits im Vorfeld einen Seminarplan zur Verfügung stell
Auf ein Seminar hat sie sich dieses Semester besonders gefreut. Die Dozentin soll fachlich sehr gut sein, der Seminarplan klingt spannend und Partizipationsmöglichkeiten wurden auch angekündigt. Nach einigen Wochen ist Ronja aber frustriert. Zu einem Kommilitonen sagt sie während des Mittagessens: “Ich hab echt keine Lust mehr auf dieses Seminar. Nie hält sich die Dozentin an den Plan. Wozu macht sie ihn dann? Und auch die angebliche Mitgestaltung ist eher ein Witz. Wir dürfen für letzte Sitzung eines aus drei Themen auswählen. Das ist doch keine Studierendenbeteiligung!”
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Welchen Einfluss hat ein fester Seminarplan auf die Beteiligung von Studierenden?
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Warum sollen Studierende mitbestimmen, was im Seminar behandelt wird?
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Warum bringt die “Beteiligung” der Studierenden keine dauerhafte Verbesserung der Teilnehmendenzahlen mit sich?
Weiterführende Fragen:
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Wie hängt Mitbestimmung mit Motivation zusammen? Lesen Sie dazu mehr unter „Mitbestimmung ermöglichen“.
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Wie sollten Lehrankündigungstexte gestaltet sein, dass sie Interesse wecken? Dazu finden Sie Material bei „Orientierung geben“.
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Wie lässt sich mit dem Zeitmangel für kollegiale Kooperation umgehen? Hinweise für gelingende kollegiale Kooperation finden sie im Fundus unter „Kooperation“. Außerdem hat IN*GE mit Hannah Bartels zur Kollegialen Fallberatung gesprochen.
Welchen Einfluss hat ein fester Seminarplan auf die Beteiligung von Studierenden?
Begeben sich Menschen in Situationen, in denen sie Neues lernen (können), erfolgt immer eine Erfolgsbewertung (Jugel, Steffens 2019: 96). Dabei geht es neben der Frage nach Sinn und Bedeutung immer auch darum, ob Lernenden durch das Thema Potenzial zu individueller Weiterentwicklung erkennen können (Besand, Hölzel, Jugel 2019: 104). Lernende stellen sich Fragen wie: „Warum soll ich hier mitmachen? Wozu dient das? Was habe ich davon? Worum geht es hier eigentlich? Gibt es etwas, was ich eigentlich lieber tun würde?“ (ebd.: 103). Auch wenn die Fragen zunächst banal erscheinen, die individuellen Antworten geben Aufschluss darüber, ob es für die Lernenden sinnvoll erscheint, das Seminar zu besuchen oder nicht. Mit Seminarplänen und guten Seminarbeschreibungen, geben Sie den Lernenden Orientierungshilfen durch Transparenz (ebd.: 104). So werden ihnen Möglichkeiten zur Mitbestimmung, für adaptives Handeln sowie Selbstwirksamkeit” aufgezeigt (ebd.: 92f). Fluktuationen während des Semesters sowie Frustration kann so, für alle Beteiligten, vermieden werden. Wirkungsvoll werden diese Orientierungshilfen vor allem dann, wenn Austausch mit den Lernenden zum geplanten Ablauf und den Themen zusätzlich ermöglicht wird. Es kann und sollte darüber gesprochen werden, warum die Themen bedeutsam sind, was die Ziele des Seminars sein sollen und welche Rahmenbedingungen existieren (ebd.: 104). Aber auch Erwartungen und Wünsche - von Lehrenden und Lernenden - können und sollten an dieser Stelle besprochen werden (ebd.: 102). Möglich ist auch, den Seminarplan gemeinsam mit den Studierenden zu entwickeln und zu gestalten. Hier bieten sich echte Mitbestimmungschancen und gute Selbstwirksamkeitserfahrungen. Seminarpläne, die weder besprochen, noch erklärt, noch eingehalten werden, führen zu Verunsicherung und Frustration.
Impulse, wie Sie Transparenz und Orientierung in Ihren Veranstaltungen schaffen können, finden sie im Fundus unter „Orientierung geben“.
Welche positiven Folgen hat es, wenn die Studierenden die Inhalte mitbestimmen können?
Ronja wählt im vorliegenden Fall Veranstaltungen nach deren Beteiligungsmöglichkeiten aus. Denn ihre Erfahrungen zeigen, dass sie dann besonders gut lernt. Ronjas Wahrnehmung lässt sich verallgemeinern: Mitbestimmung signalisiert den Lernenden die Möglichkeit, zur Ausgestaltung von Lehr-Lern-Angeboten (ebd.: 92f, 104f). So können sie anhand ihrer Ideen, Bedürfnisse und Interessen die inhaltliche und methodische Gestaltung der Veranstaltung mit beeinflussen. Mitbestimmung eröffnet außerdem vielfältige Perspektiven zum Thema und überindividuelle Erkenntnisräume, in denen Sinn und Bedeutung konstruiert werden können. Wird Lernenden transparent gemacht, was sie erwartet und dass sie Gestaltungsmöglichkeiten haben, fördert dies den Aufbau von Sinn und Motivation (Kracke 2021: 39) und wirkt sich demnach positiv auf die Erfolgsbewertung aus (Besand, Hölzel Jugel 2019: 104). Welche Bedeutung die gemeinsame Konstruktion von Sinn und Bedeutung hat, können Sie im Fall „Keine Praxisrelevanz“ nachlesen.
Weiterhin ermöglicht Mitbestimmung, dass Lernende in Lern- und Entwicklungsprozessen positive Selbstwirksamkeitserfahrungen machen (Deci, Ryan 1993: 236). Wenn Lernende “wahrnehmen, dass sie selbst wirksam werden” (Besand, Hölzel, Jugel 2019: 104) können, so wird das Angebot als “nachhaltig interessant und wertvoll” (ebd.) empfunden. Lehramtsstudierenden Mitbestimmung zu ermöglichen hat darüber hinaus auch positive Konsequenzen über das Studium hinaus. Erleben Lehramtsstudierende positive Momente, in denen ihnen Mitbestimmung im Lernprozess ermöglicht wird, können sie diese Erfahrungen in ihre spätere Berufstätigkeit mitnehmen. Besonders bedeutsam ist dies für die fachwissenschaftliche Ausbildung. Für Lehramtsstudierende stellen Dozierende oftmals Vorbilder dar, wenn es um die Vermittlung fachwissenschaftlicher Inhalte geht (Besand 2018: 157f). Erfahren sie in der fachwissenschaftlichen Ausbildung ebenfalls Mitbestimmungschancen, fällt es ihnen unter Umständen leichter, diese in ihren schulischen Alltag zu übertragen.
IN*GE hat zum dazu einen Text von Anja Besand eingelesen. Hören Sie im IN*GE liest vor Stück „Vom Zuwenig zum Zuviel“ mehr über das Verhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik. Zum Thema Mitbestimmung finden Sie im Fundus zum einen unter „Mitbestimmung ermöglichen“ Impulse zur Umsetzung. Zum anderen das IN*GE liest vor "Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation" von Edward Deci und Richard Ryan. Außerdem bietet der Fundus unter „Open Space“ eine Methode an, die Mitbestimmung im Seminar ermöglicht.
Warum bringt die “Mitbestimmung” der Studierenden keine dauerhafte Verbesserung der Teilnehmendenzahlen mit sich?
Anhand des Perspektivwechsels lässt sich erkennen, dass die von Frau Z. angebotene Mitbestimmungsmöglichkeit bei Ronja zunächst zu mehr Interesse geführt hat. Jedoch kam es im Verlauf vor allem zu Frustration statt zu Selbstwirksamkeitserfahrungen. Der erhoffte Effekt stärkerer Beteiligung der Studierenden am Seminar war nur kurzzeitig vorhanden. Denn Frau Z. ist in die „Scheinfalle“ getappt. Die von Ronja erhofften Beteiligungsprozesse, in denen gemeinsam verschiedene Ideen, Interessen und Fragen eingebracht, diskutiert und verhandelt werden, blieben aus. Statt echter Mitbestimmung fand lediglich eine einzige Abstimmung statt. Ronjas anfängliche Begeisterung für das Seminar schlug vor allem auf Grund der Schein-Mitbestimmung in Frustration um. Denn Schein-Mitbestimmung vermittelt das Gefühl, dass die eigene Perspektive und Stimme zum Thema irrelevant ist. Die Konsequenz aus dem Widerspruch zwischen Ankündigung und Realität, führt zu einer negativen Neubewertung der Veranstaltung hinsichtlich Sinn, Bedeutung sowie der eigenen Wirksamkeit. Wie Ronja geht es viele Studierenden, deren Erwartungen an Seminare oft unerfüllt bleiben oder im Widerspruch zu Ankündigungen stehen. Das hat Auswirkungen auf die Ausbildung der Studierenden: Haben sie einmal derartige negative Erfahrungen gemacht, werden sie in der Zukunft bei der Auswahl ihrer Seminare noch vorsichtiger sein. Eventuell steigen sie zukünftig bei ähnlichen Anzeichen von Scheinbeteiligung sogar noch früher aus Veranstaltungen aus, da die negative Erfahrung sie in diese Richtung vorsichtig werden ließ. Mehr dazu können Sie im Fall “Wohin mit den Emotionen” nachlesen.
Welchen Einfluss hat ein fester Seminarplan auf die Beteiligung von Studierenden?
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Mache ich Inhalte und Ziele meiner Veranstaltung transparent?
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Kommuniziere ich Rahmenbedingungen und Planänderungen?
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Erfrage ich, was die Lernenden zur Orientierung und Sicherheit für das Seminar brauchen?
- Hinweis zur Schaffung von Transparenz und Orientierung finden Sie unter “Orientierung geben”.
Welche positiven Folgen hat es, wenn die Studierenden die Inhalte mitbestimmen können?
- Welche Erinnerungen habe ich an Lehrveranstaltungen meiner eigenen Studienzeit, bei denen Studierenden mitbestimmen konnten?
- Haben die Lernenden die Möglichkeit, sich auf Basis ihrer eigenen Ideen, mit dem Seminarthema auseinander zu setzen?
- Welche Möglichkeiten der Mitbestimmung (inhaltlich, organisatorisch, methodisch) gebe ich den Lernenden?
- Wie beziehe ich die Lernenden in die Gestaltung der Veranstaltung ein?
- Frage ich nach Erwartungen an die Veranstaltung und das Thema und berücksichtige ich die gewonnenen Erkenntnisse?
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Impulse dazu bietet der Fundus unter "Mitbestimmung ermöglichen“.
Scheinfalle
Manchmal entpuppt sich angekündigte Mitbestimmung als leere Versprechung. Eine Wahl zwischen zwei Themen oder möglicher Lektüre ist keine ehrliche Beteiligung und führt zu Frustration. Sie sind dann in die Scheinfalle getappt.
Mitbestimmung muss tatsächlich stattfinden und positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen.
Intransparenzfalle
Studierenden Seminarablaufpläne zur Verfüfung zu stellen ist wichtig, um Sicherheit im Lernprozess zu ermöglichen. Halten Sie sich jedoch nicht daran und kommunizieren Änderungen nicht, dann stolpern Sie in die Intransparenzfalle. Die Studierenden nicht nur nicht wertgeschätzt, sie sind verunsichert und haben fehlendes Vertrauen. Intransparnez wirkt sich demnach negativ auf den Lernprozess als auch die Beziehung aus.