"Hallo? Jemand da?"
Tjorven ist Dozent an einer Universität. Manchmal, wenn er in einer Lehrveranstaltung eine Frage stellt, folgt ein langes Schweigen. Einmal hat die Stille sogar über eine Minute angehalten.
Auch in digitalen Veranstaltungen gibt es Momente, die Tjorven ärgern. Das ist beispielsweise der Fall, wenn niemand auf Studierendenseite die Webcam anschaltet. Wie soll er wissen, ob alle inhaltlich mitkommen, ob eingestreute Anekdoten ankommen, ob alle technischen Aspekte funktionieren, ob überhaupt jemand zuhört, wenn er kein optisches Feedback bekommt? Ohne eine visuelle Resonanz, ist die Stille noch frustrierender für Tjorven als ohnehin schon.
Kaya ist Student. Seit der weltweiten Corona-Pandemie hat sich das Angebot an Online-Lehre vervielfältigt. Kaya sieht darin einige Vorteile. Wird beispielsweise zusätzlich die Möglichkeit zur Asynchronität gegeben, so können Lernzeitpunkt, -dauer und
-geschwindigkeit auf die eigenen Bedürfnisse abgestimmt werden. Erfolgt die digitale Lehre synchron, so kann man Pausenzeiten zwischen Veranstaltungen effektiver nutzen und sich teilweise lange Anfahrten ersparen, weil man durch die digitale Lehre ortsunabhängig wird. Es gibt Studierende, die sich um Angehörige kümmern müssen und denen dies durch digitale Lehre erleichtert wird. Andere bekommen durch die digitale Lehre neue Perspektiven für ihr Ehrenamt oder den Nebenjob, der ihnen das Studium ermöglicht. Kaya selbst sitzt während der Lehrveranstaltungen in seinem Kinderzimmer. Die Webcam lässt er da lieber aus und versteht, warum auch andere Studierende die Orte, Situationen und Menschen, die im Hintergrund zu sehen sein könnten, nicht mit Fremden in Seminaren und Vorlesungen teilen wollen.
Fragen, die sofort hier beantwortet werden:
- Was stört die Lehrperson hier eigentlich wirklich?
- Was könnten Gründe für das Verhalten der Studierenden sein?
Eine Frage, zu der Sie direkt im Material unter "Was kann helfen?" Antworten finden:
- Was kann die Lehrperson tun, um die Lernsituation positiv zu beeinflussen?
- Sie kann die Perspektive wechseln und sich in die Situation der Lernenden hineinversetzen.
- Sie kann sich Zeit nehmen, um die Lerngruppe (besser) kennenzulernen.
- Sie kann versuchen, das Interesse der Lernenden zu wecken, indem Sie z.B. Mitbestimmung ermölglicht und auf die Lebenswelt der Lernenden Rücksicht nimmt
Was stört die Lehrperson hier eigentlich wirklich?
Tjorven ist weder in Präsenz noch in der digitalen Lehre ganz zufrieden. Woran liegt das? Er selbst nennt das Schweigen der Lernenden und ausgeschaltete Webcams in der Onlinelehre als Gründe für seinen Frust. Jedoch sind das nur die oberflächlichen Probleme. Um passende Lösungen für diese zu finden, muss er reflektieren, welche Wünsche und Bedürfnisse seinerseits dahinter liegen. Folgende Anliegen könnte Tjorven durch eine Reflexion identifizieren:
Keine Lust "Alleinunterhalter*in" zu sein
Wenn ein Mensch Lehrperson ist, muss das nicht per se heißen, dass dieser Mensch auch gern im Mittelpunkt steht. Vor allem wenn nicht alles nach Plan läuft und beispielsweise niemand auf Fragen oder das Bitten, um Einschalten der Webcams, reagiert. Dann kann das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, unangenehm werden. Emotionen wie Stress, Scham oder Verärgerung können aus solchen Situationen resultieren und sich auch auf die Lernenden übertragen. Dies ist hinderlich für Lern- und Entwicklungsprozesse.Generell gelingen Lernen und Entwicklung besser in Settings, in denen die Lehrperson moderierend wirkt und die Lernenden im Mittelpunkt stehen (siehe subjektorientierte Didaktik/entwicklungslogische Didaktik nach Feuser 1989). Den Lernprozess stärker an den Lernenden auszurichten, könnte somit zweierlei Aspekte positiv beeinflussen: Die Lehrperson stünde weniger im Mittelpunkt. Gleichzeitig wäre der Lernprozess anhand geeigneter Methoden stärker an den Bedürfnissen der Lernenden ausgerichtet.
Wunsch nach mehr Kontrollerleben
Orientierung und Kontrolle zählen zu den psychischen Grundbedürfnissen aller Menschen (Grawe 2004: 230). Daher ist es verständlich, wenn Lehrpersonen ein gewisses Gefühl der Kontrolle über Lernsituationen erleben möchten. Häufig verspüren Lehrpersonen Kontrolle, wenn die Lernenden mitarbeiten und "beim Thema sind". Sind die Webcams der Lernenden während der Onlinelehre ausgeschaltet, ist dies jedoch noch schwerer einzuschätzen als ohnehin. So oder so werfen die Maßstäbe Mitarbeit und "beim Thema sein" verschiedene Fragen auf:
- Ab wann zählt etwas als Mitarbeit?
- Wie stellen Lehrpersonen fest, ob Lernende "beim Thema sind"?
- Kann man immer sehen oder hören, wenn jemand mitarbeitet und mitdenkt? Gibt es nicht auch stille Formen der Mitarbeit?
- Hat Nicht-Antworten, immer etwas mit Nicht-Können oder Nicht-Mitmachen zu tun oder kann es andere Gründe geben?
Da diese Maßstäbe also wenig Aussagekraft zu haben scheinen, sollten Lehrpersonen ihren Fokus ändern. Anstatt zu kontrollieren wie gelernt wird, könnten sie den Lernenden mehr Freiheit bei der Auswahl ihrer Lernpfade geben. Im Anschluss lässt sich anhand geeigneter Formen "kontrollieren" was gelernt wurde, woran infolge gemeinsam mit den Lernenden wiederum die Lernpfade neu ausgerichtet werden können.
Wunsch nach mehr Feedback
Wenn keiner der Lernenden etwas sagt oder in der Onlinelehre niemand oder kaum jemand zu sehen ist, dann fehlen der Lehrperson Möglichkeiten zur Rückkopplung. Sie kann beispielsweise schwerer einschätzen, ob sie zu schnell oder langsam spricht, die Anzeigedauer der Folien ausreichend ist, die Technik überhaupt funktioniert und so weiter. Ideen dazu, wie die Kommunikation aufrechterhalten und sich Feedback eingeholt werden kann, bietet der Fundus Inklusion.
Wunsch nach mehr Zusammenhalt
Tatsächlich kann es die Lehrperson auch stören, was indirekt durch das Schweigen und Nicht-Reagieren zum Ausdruck gebracht wird. Häufig verbergen sich dahinter Probleme in der pädagogischen Beziehung.
Durch die räumliche Trennung in digitaler Lehre gestaltet sich die Etablierung und Aufrechterhaltung einer lernförderlichen Lehrenden-Lernenden-Beziehung als besonders anspruchsvoll. Im Fall ausgeschalteter Webcams wird dies zusätzlich erschwert. Wie es dennoch gelingen kann, gute pädagogische Beziehungen aufzubauen, lesen Sie im Punkt "Beziehungen gestalten".
Erreichung der Lernziele
Es kann sein, dass Schweigen und ausgeschaltete Webcams die Erreichung des Lernziels beeinflussen. In diesem Fall müssen Lernsettings, Methoden, Materialien, Medien und das Miteinander so angepasst werden, dass Kommunikation, Kooperation und gegebenenfalls das Einschalten der Kameras wahrscheinlicher werden. Die Differenzierung von Lernpfade könnte hierbei ein Schlüssel sein.
Was könnten Gründe für das Verhalten der Studierenden sein?
Die Auslöser dafür, dass es aus Tjorvens Sicht nicht so läuft wie erwartet, können vielfältig sein. Häufig hat es die Lehrperson vorher versäumt, sichere Bindungen und Beziehungen zu etablieren. In unsicheren Bindungssituationen kann die Interaktion im Lernraum mit Scham, Angst oder anderen negativen Emotionen verbunden sein (Hölzel, Jugel 2019). Es kann auch vorkommen, dass der Komplexitätsgrad nicht ausreichend an den Vorkenntnissen und Fähigkeiten der Lernenden ausgerichtet ist. Auch können die Fragen miss- oder unverständlich formuliert sein. Manchmal wird auch die Relevanz für die Lernenden nicht deutlich oder das Thema ist nicht anschlussfähig an ihre Lebenswelten. Weitere Gründe könnten sein:
Unnatürliche Situation
Lehrende können nicht von allen Studierenden erwarten, dass sie sich gleich schnell an neue Situationen gewöhnen oder mit ihnen umgehen. Das eher anonyme, intellektuelle Umfeld einer Universität kann einschüchternd wirken. Das Stellen von oder das Antworten auf Fragen gestaltet sich dann als kaum überwindbare Hürde. Ebenso verhält es sich mit digitaler Lehre. Trotz der Gewöhnung an Onlineformate, ist es legitim, wenn sich Onlinekonferenzen immer noch unangenehm oder unnatürlich anfühlen. In einer Studie geben 17% der Studierenden an, dass ihnen die Webcam das Gefühl gäbe, dauerhaft unter Beobachtung zu stehen (Castelli, Sarvary 2021: 3569). Lehrende sollten sich vor Augen halten, welches Raumgefühl, welche Sichtachsen und welche Aufmerksamkeitslenkung ihnen in der Präsenzlehre zur Verfügung stehen. Auch dort sind nicht alle Lernenden zu jeder Zeit zu hundert Prozent bei der Sache, aber Lehrende bemerken es nicht (so schnell). Als Gründe für ausgeschaltete Kameras werden daher von Studierenden unter anderem genannt, man wolle nicht abgelenkt, laufend, essend, das Familienleben organisierend, arbeitend, im Bett liegend usw. gesehen werden (ebd.: 3569f). Einige geben auch an, sie wollen sich nicht selbst auf dem Bildschirm sehen oder würden einfach generell nicht zu sehen sein wollen (ebd.: 3570).
Nicht stören und ablenken wollen
Die meisten Videokonferenzanbieter legen ihre Tools nicht für sehr große Lerngruppen aus. Das heißt, wenn alle ihre Kameras einschalten würden, wären Klicks durch mehrere Seiten Kacheln nötig. Denn es können nicht alle Kacheln gleichzeitig angezeigt werden. Je größer die Lerngruppe ist, desto eher kommt dieser Effekt zum Tragen. Häufig denken Lernende, ein Bildschirm voller Kacheln sei genug und wollen lieber nicht von den aktiven oder sprechenden Lehrenden und Mitlernenden ablenken. Eine Umfrage zeigt, dass sich 17% der Studierenden sorgen, von anderen Gruppenmitgliedern abzulenken und 12% ihre Lehrpersonen nicht stören wollen (ebd.: 3569).
Dies lässt sich auch auf analoge Lehrveranstaltungen übertragen. Auch dort kann es sein, dass Lernende sich z. B. nicht melden, weil sie meinen andere hätten mehr oder Passenderes zu sagen.
Scham und Ängste
Problematisch aufseiten der Lernenden können außerdem Scham und Ängste sein. 41% der befragten Studierenden geben in einer Studie an, die Kamera in Onlineveranstaltungen nicht einzuschalten, da sie aufgrund ihres Erscheinungsbildes unsicher sind (ebd.). 17% wollen außerdem ihr räumliches Umfeld nicht in Videokonferenzen zeigen (ebd.). Hilfreich können hier das Einrichten von Standbildern oder Unschärfe im Hintergrund sein, was viele digitale Konferenztools anbieten.
Auch in Präsenzveranstaltungen können Scham und Ängste eine Rolle spielen, wenn die Lernatmosphäre nicht entsprechend sicher und angstfrei gestaltet wird. Negative Emotionen beeinflussen vor allem dann den Lernprozess, wenn nicht ausreichend Zeit in stabile Bindungen und angenehme pädagogische Beziehungen investiert wurde. Dies gilt in Präsenz wie im Digitalen.
"Gruppenzwang"
In der Studie geben außerdem 52,8% der Studierenden an, sie hätten die Kamera nicht eingeschaltet, weil das die meisten so gemacht hätten (ebd.: 3570). Eine Art Konformitätsdruck unter den Peers scheint also beim Antworten oder Einschalten bzw. Auslassen der Webcam auch eine wichtige Rolle zu spielen.
Zu wenig Transparenz
Häufig kommuniziert die Lehrperson ihre Wünsche oder Anliegen nicht deutlich genug. Möchte die Lehrperson wirklich Antworten auf ihre Fragen? Denn es gibt durchaus auch Lehrende, die Fragen aus rhetorischen Gründen stellen und gar keine Antworten erwarten. Solche Unklarheiten wirken vielleicht unwichtig. Wenn sie jedoch zu den anderen beschriebenen Gründen hinzukommen, können sich Probleme potenzieren.
Auch in digitalen Kontexten können intransparente Wünsche eine Rolle spielen. So geben immerhin 7,5% der Studierenden an, ihnen sei nicht bewusst gewesen, dass das Einschalten der Kamera nötig gewesen sei (ebd.).
Technikprobleme
Diese Hürde kommt ausschließlich für digitale Veranstaltungen infrage, sollte dort jedoch nicht unterschätzt werden. 22% der Studierenden geben an, ihre Internetverbindung sei zu instabil, um die Webcam einzuschalten (ebd.: 3569). Manche geben auch an, sie wollten mit der ausgeschalteten Kamera erreichen, dass die Übertragung von sonstigem Bild und Ton störungsfrei läuft (ebd.: 3570). Auch funktioniert die Webcam in seltenen Fällen nicht oder es steht gar keine Kamera zur Verfügung (ebd.).
Was stört die Lehrperson hier eigentlich wirklich?
- Habe ich darüber reflektiert, was mein eigentliches Problem ist? z. B.:
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keine Lust "Alleinunterhalter*in" zu sein
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Gefühl fehlender Kontrolle
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fehlendes Feedback
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fehlende persönliche Ebene
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Lernziele in "Gefahr"?
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- Habe ich Maßnahmen ergriffen, um dieses eigentliche Problem zu bearbeiten? z. B.:
- Methoden, die die Bedürfnisse der Lernenden in den Blick nehmen
- gelungenes Lernen und Entwickeln anders evaluieren und prüfen
- lernförderliche pädagogische Beziehungen gestalten
- differenzierte Lernpfade anbieten
Was könnten Gründe für das Verhalten der Studierenden sein?
- Habe ich reflektiert, dass Lernende valide Gründe dafür haben können, die Kamera nicht einschalten zu wollen?
- Habe ich reflektiert, ob ich meine Probleme und Bedürfnisse über die der Studierenden stelle?
- Habe ich etwas getan, damit einige der oben aufgeführten Gründe an Relevanz verlieren?
z. B.:- Habe ich klar formuliert, dass und warum mir die Antworten der Lernenden und das Einschalten der Kameras wichtig sind?
- Habe ich eine sichere und angstfreie Lernatmosphäre geschaffen und aufrechterhalten?
- Habe ich mich um eine sichere Bindung und eine lernförderliche pädagogische Beziehung zu allen Lernenden bemüht?
- Habe ich technische Hilfe angeboten, wenn etwas nicht funktioniert hat oder habe ich beispielsweise erklärt, wie man den Hintergrund unscharf stellen kann?
Alle Stolperfallen auf einen Blick finden Sie im Bereich Reflektieren.
Intransparenzfalle
Tjorven macht den Studierenden nicht deutlich, inwiefern das Antworten auf Fragen oder Einschalten der Kameras mit erfolgreichen Lern- und Entwicklungsprozessen zusammen hängen. Wenn er deutlich macht, dass er wirklich an den Antworten und dem Etablieren pädagogischer Beziehungen interessiert ist, hätten die Studierenden eine Chance, die Lage neu zu bewerten.
Erfahrungsfalle
Tjorven scheint davon auszugehen, dass den Studierenden klar sei, dass er tatsächlich an deren Antworten interessiert ist. Er hält auch das Anschalten der Kameras für selbstverständlich. Jedoch besteht zwischen Dozierenden und Studierenden ein Machtgefälle. Lehrende und evtl. auch unbekannte Kommiliton*innen über die Kamera in die eigenen vier Wände einzuladen, sollte daher nicht als selbstverständlich aufgefasst werden. Kommunikation und Transparenz sind wichtig, um die unterschiedlichen Erwartungen hier abzugleichen und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.