Etappen der Aneignung
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Um Lern- und Entwicklungsprozesse entlang der individuellen Bedürfnisse der Lernenden auszurichten, braucht es nicht nur Kenntnisse über die Lernenden und eine lernendenorientierte Differenzierung des Gegenstandes. Damit Lernende ihre individuellen Lernpfade wählen können, müssen Materialien und Methoden den Prozess der Verinnerlichung unterstützen und entlang diesem die Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand ermöglichen. Zur Systematisierung des Verinnerlichungsprozesses entwickelte Galperin die Theorie der Lerntätigkeit. Auch wenn diese Theorie in kontrollierten Bedingungen entwickelt wurde, unterstützt sie bei wichtigen Planungsentscheidungen für die Entwicklung inklusionssensibler Lehr-Lern-Angebote. Die Theorie der Lerntätigkeit fokussiert die Handlung der Lernenden im Prozess der Verinnerlichung (Pitsch/ Thümmel 2019: 83).
Hierbei können die Etappen der Aneignung hilfreich sein:
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Die Etappen der Aneignung ermöglichen eine grundlegende Systematisierung des Verinnerlichungsprozesses.
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Sie können bei der Identifikation der Zone der nächsten Entwicklung helfen.
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Sie ermöglichen eine genauere Identifizierung von Unterstützungsbedarfen der Lernenden in ihrem Lern- und Entwicklungsprozess.
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Sie ermöglichen eine zielgerichtete Differenzierung und Aufbereitung von Material für Lern- und Entwicklungsprozesse.
Etappen nach Galperin & Talyzina:
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Motivationsphase als gemeinsame Entwicklung einer Lernmotivation (Talyzina nach Pitsch und Thümmel 2014, S. 83).
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Orientierung in den Dinge als Prozess der Wahrnehmung und Einordnung des Lerngegenstands.
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Materielle bzw. Materialistische Handlung: gemeinsam geteilte äußere Handlungen am Gegenstand (ebd.).
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lautsprachliche Handlung: sprachliche Begleitung praktischer Handlungen (bspw.simulatives Handeln) oder kompletter Ersatz des Gegenstands durch Sprache.
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Äußere Sprache für sich: Die Sprache wird vom Kommunikationsmittel also die sprachliche Darstellung eines Gegenstandes wird verkürzt, verändert und anschließend wieder ausgegeben (Jugel, Steffens 2020, 102)
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Innere Sprache: Handlungen/ Denken finden nur noch im inneren stand und werden im letzten Schritt zum
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Denken.
Wie bei den Aneignungsformen ist es auch bei den Etappen der Aneignung wichtig, diese nicht hierarchisch oder als lineare Abfolge zu verstehen (Jugel, Steffens 2019: 103). An welchem Punkt die Lernenden in den Lernprozess einsteigen, ist abhängig von den individuellen Fähigkeiten, vorangegangenen Aneignungsprozessen und Vorlieben. Darüber hinaus kann es zu Sprüngen innerhalb des Prozesses kommen (ebd. 104). In Lehr-Lern-Settings ist es deshalb sinnvoll, Angebote für die verschiedenen Etappen zu machen und Lernende wählen zu lassen, wie sie sich den Gegenstand aneignen.
Während der Phase der Motivation erkunden die Lernenden, inwieweit der Lerngegenstand zur Bedürfnisbefriedigung geeignet ist. In diesem Prozess muss den Lernenden ermöglicht werden, Sinn und Bedeutung hinsichtlich des Lerngegenstandes entwickeln zu können (Ling 2013: 14). Nur wenn dies möglich ist, entsteht Motivation für die Auseinandersetzung.
Fragen:
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An welche Interessen und Bedürfnisse ist der Lerngegenstand anschlussfähig?
Lesen Sie dazu im Fundus auch gerne mehr unter "Interesse wecken". -
Was motiviert und interessiert die Lernenden und in welchem Zusammenhang steht dies mit dem Lerngegenstand?
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Welche Angebote an Sozialformen brauchen die Lernenden, um motiviert zu sein?
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Welche Bedeutung hat der Lerngegenstand für die Lernenden aktuell und auch zukünftig? Hier empfehlen wir bspw. einen Zugang über die epochalen Schlüsselproleme nach Klafki zu entwickeln.
Hören Sie sich dazu auch gerne "IN*GE liest vor - Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik" an (Deci, Ryan 1993). Zum selber lesen finden sie den Text auch als OnlineResource.
In dieser Phase erkunden die Lernenden, welche Möglichkeiten ihnen in der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand gegeben sind und was von ihnen erwartet wird (Jugel/Steffens 2019: 101; Ling 2013: 14). Hier bedarf es dem Sichtbarmachen verschiedener Aneignungsmöglichkeiten, Methoden, Materialien und Arbeitsformen, aus denen die Lernenden wählen können. Aber auch die Erwartungen und Lernziele müssen hier, vor allem in institutionalisierten Lernprozessen sichtbar gemacht werden.
Wichtig hierbei ist, weder komplett unvollständige bzw. offene Abläufe und Möglichkeiten der Auseinandersetzung anzubieten, noch gänzlich vorgegebene. Beinhaltet die Orientierungsgrundlage bereits alle Informationen sowie Teilschritte, wird den Lernenden die Möglichkeit auf selbstbestimmte Gestaltung verwehrt (Jugel/ Steffens 2019: 101). Aneignung geschieht hier auf Basis von Versuch und Irrtum, was einen Transfer auf andere Bereiche erschweren kann (Ling 2023:14). Eine wiederum unvollständige Orientierung kann Lernende überfordern. Es bedarf also einer Balance zwischen wichtigen Vorgaben (Abläufe, Entscheidungsräume, Hilfsmittel etc.) und einer gleichzeitigen Offenheit in der Ausgestaltung des weiteren Lernprozesses (ebd.). Dies gibt den Lernenden Sicherheit und ermöglicht darüber hinaus selbstbestimmt und motiviert, ihren individuellen Lernpfad zu entwickeln.
Fragen:
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Welche Bedarfe an Methoden, Sozialformen und Aneignungsvorlieben haben die Lernenden?
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Wie transparent sind Erwartungen und Ziele?
Lesen Sie dazu mehr unter "Orientierung geben". -
Welche Möglichkeiten zur Mitbestimmung haben die Lernenden?
Lesen Sie mehr dazu unter "Mitbestimmung ermöglichen". -
Wie stark sind Handlungsmöglichkeiten vorgegeben bzw. wie frei sind die Lernenden in der Wahl der Auseinandersetzungsform?
Hier beginnt die eigentliche Aneignung des Lerngegenstands. Dabei geht es in dieser Etappe zunächst um “gemeinsame geteilte äußere Handlungen” (Jugel/ Steffens 2019: 102), welche die Lernenden sowohl individuell als auch kollektiv an und mit dem Lerngegenstand durchführen (ebd.). Die Lernenden führen eine dem Lerngegenstand zugehörige Tätigkeit aus. Diese kann dabei materiell sowie materialistisch sein.
Materielle Handlungen umfassen dabei vor allem gegenständliche Tätigkeiten mit dem Lerngegenstand. Dies kann konkret erfolgen in dem bspw. Räume vermessen, Bäume gepflanzt oder gekocht wird. Aber auch experimentelle Handlungen (zielgerichtet und ungeplant) zählen zur materiellen Handlung (ebd.).
Materialistische Handlungen vollziehen Lernenden dann, wenn sie vorrangig auf der symbolischen Ebene arbeiten, also in dem sie bspw. Landkarten oder Abbildungen nutzen (ebd.).
Die Lernenden erschließen sich, über die gemeinsame Handlung, das ganzheitliche Bild eines Lerngegenstands hinsichtlich der Funktion, den ihm zugeschriebenen Handlungstechniken sowie deren Teilhandlungen, Bedingungen und Zusammenhänge. Wichtig ist in dieser Etappe, dass alle Teilhandlungen so zugänglich gemacht werden, dass die Lernenden diese vollständig erkunden und ausführen können (Kiesling 2009: 255).
Fragen:
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Welche Handlungen/ Tätigkeiten sind konkret mit dem Gegenstand möglich?
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Welche Abläufe, Teiloperationen sowie Bedingungen haben die Handlungen?
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Welche Handlungen bevorzugen die einzelnen Lernenden?
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Welche materielle (gegenständliche) und welche materialistische (symbolische) Handlungen können an und mit dem Lerngegenstand stattfinden?
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Welche Handlungen erfordern individuelle oder gemeinsame Handlungen? (Was geht allein und was braucht andere Menschen?)
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Welche Hilfsmittel werden für individuelle und gemeinsame Handlungen benötigt?
Lesen Sie im Fundus gerne etwas zum Thema Gruppenarbeit und der Bedeutung von Kooperation.
Mit dieser Etappe beginnt der Prozess der Übertragung der Handlung auf die geistige Ebene. Zunächst werden die Handlungen sprachlich begleitet, bis die Lernenden in der Lage sind, dem Gegenstand zugehörige Tätigkeiten mit ihren Bedingungen, Teilhandlungen und Funktionen rein verbal zu formulieren (Jugel/ Steffens 2019: 102). Sie können die Tätigkeit ohne handelnde Unterstützung beschreiben (Tornieporth/ Boudodimos/ Palmer 2017: 7). Die Handlung geht in diesem Prozess langsam in das Bewusstsein über (ebd.: 8). Unterstützt werden kann dies bspw. mit Hilfe von Rollen- oder Planspielen oder auch, in dem Handlungen durch Lernende währenddessen erklärt und beschrieben werden (Jugel/ Steffens 2019: 102). Dabei beschränkt sich die sprachliche Beschreibung auf die Handlungsdurchführung. Anpassungen der Tätigkeit oder ein Transfer in einen anderen Bereich auf rein sprachlicher Ebene sind an dieser Stelle noch nicht möglich.
“[Der Schüler] muß von der Handlung erzählen .... Nicht nur die Handlung selbst, sondern auch ihre Widerspiegelung im gesellschaftlichen Bewußtsein, ihre festgelegten Sprachformeln werden zum ersten mal zum direkten Objekt des Bewußtseins; und zugleich wird die gesellschaftliche Auffassung dieser Handlung zum ersten mal zum unmittelbaren Gegenstand [des] Lernens... ." (Galperin, 1969: 385 zit. nach Kiesling 2009: 255f)
Fragen:
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Wie kann die Handlung beschrieben werden?
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Welche spezifischen Worte/ Theorien braucht es dafür?
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Welche Methoden unterstützen lautsprachlich begleitet Handlungen (individuell/ Gruppe)?
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Wann werden Handlung individuell sprachlich begleitet und wann in der Gruppe?
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Wann ist für die Lernenden eine lautsprachliche Begleitung auch im Alltag sinnvoll?
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Welche andere Form der Kommunikation gibt es außer Lautsprache?
Beim Übergang der lautsprachlichen Handlung zur Sprache für sich verankern sich Kenntnisse über die Handlung und deren Bedingungen immer fester in den Denkprozessen (Tornieporth/ Boudodimos/ Palmer 2017: 8). Die Lernenden sind an diesem Punkt nicht nur in der Lage, Handlungen zu beschreiben, sondern können diese gedanklich anpassen, verändern und auch übertragen. Sichtbar wird dies, indem die genutzte Sprache und die weitergegebenen Informationen verkürzt werden können. Sprache “wird vom Kommunikationsmittel zum Mittel des Denkens, zu einem Verfahren, das vorliegende Material nach und nach gedanklich zu verändern“ (Galperin zit. n. Pitsch und Thümmel 2014, S. 80–81).
Die Handlung läuft gedanklich ab und kann auf wesentliche Elemente reduziert werden (Jugel/ Steffens 2019: 102). Die Tätigkeit entlang des Lerngegenstandes wird an dieser Stelle zum Teil der Denkstrukturen der Lernenden.
Fragen:
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Welche Begriffe/ Konzepte sind wichtig für eine verkürzte Darstellung?
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Wie kann der Prozess der Verkürzung unterstützt werden?
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Welche Methoden unterstützen die äußere Sprache?
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Wann nutzen Lernende äußere Sprache individuell und wann in der Gruppe?
Wenn Neues verinnerlicht wurde, dann sind Wissen und Fähigkeiten in die Denk- und Handlungsstrukturen übergegangen. Das bedeutet, dass Menschen Handlungen und Tätigkeiten auf einer rein gedanklichen Ebene vollziehen, anpassen und verändern können. Wir denken, was wir tun. Der Übergang dazu, von der äußeren Sprache zum Denken, vollzieht sich über die innere Sprache. Die sprachliche Begleitung einer Handlung braucht nicht mehr die Kommunikation nach außen, sondern findet im Inneren (gedanklich) eines Menschen statt (Jugel/ Steffens 2019: 103). Anders als beim Denken werden verschiedene Aspekte jedoch noch genau ausformuliert (Ling 2013: 15).
Am Ende können die Lernende nicht nur Handlung mit dem Gegenstand ausführen, sondern diese Handlungen haben sich in Form von automatisierten Denkprozessen verankert (verinnerlicht). Die Handlung verläuft “automatisch und außerhalb der Grenzen der Selbstbeobachtung" (Galperin, 1969: 389 zit. nach Kiesling 2009: 256)
Innere Sprache und Denken sind von außen nicht beobachtbar und können demnach auch in Lern- und Entwicklungsprozessen nicht voneinander abgegrenzt werden (Jugel/ Steffens 2019: 103). Haben Lernenden Tätigkeiten und Kenntnisse über einen Lerngegenstand verinnerlicht, sind sie in der Lage, abstrakte Denkprozesse hinsichtlich des Gegenstandes zu vollziehen, wie bspw. Reflexion, Beurteilung von Sachverhalten, Beziehen einer Position, Transfer zu anderen Bereichen.
Fragen:
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Welche Methoden fördern die Entwicklung der inneren Sprache?
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Wann braucht es dafür die Arbeit in einer Gruppe und wann individuelle Zeit?
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Welche Aufgaben, Materialien und Methoden braucht es, um die innere Sprache und das Denken über einen Lerngegenstand zu verstetigen?
Material zur individuellen Differenzierung von Lernprozessen
Das erste Material stellt vorbereitete Differenzierungsbögen zur Analyse von Lernbedürfnissen und Entwicklung von Lernangeboten bereit.
Das zweite Material beinhaltet erste Analysefragen zur Identifikation von Lernbedürfnissen und Vorerfahrungen. Es kann allein oder mit den Differenzierungsbögen genutzt werden.