Wodurch sind Konflikte in der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden entstanden?
Anouk hat sich sehr auf ihre ersten Lehrveranstaltungen an der Uni gefreut. Sie hat alles mit Liebe zum Detail geplant und viele persönliche Ressourcen dafür aufgewendet. Hinzu kommt, dass sie gerade am Anfang ihrer Dozentinnenkarriere aufgeregt ist und alles korrekt machen möchte. Daraus entstehen Druck- und Stressgefühle. In Kombination mit den Aufwendungen Anouks können diese dazu führen, dass beispielsweise das Zuspätkommen als Respektlosigkeit gegenüber der Lehrperson sowie als Geringschätzung des Seminars wahrgenommen wird. Es ist emotional nachvollziehbar, dass sich Anouk in der beschriebenen Situation persönlich angegriffen fühlt. Dennoch ergibt sich ihre Einschätzung aus Zuschreibungen. Die Studentin im geschilderten Fall möchte gar nicht respektlos erscheinen und hat viel Wertschätzung für das Seminar übrig. Daher sollte Anouk stattdessen professionell reagieren, indem sie einen Schritt zurücktritt und die Situation sowie ihre Emotionen reflektiert. Dies würde sowohl die eigene, als auch die Resilienz der Lernenden stärken und zudem einen nachhaltigen Lern- und Entwicklungsprozess begünstigen. Denn Menschen, die resilient sind, können Stress und Krisen besser regulieren, wachsen an diesen und entwickeln Handlungspraxen, durch die sie sich erfolgreich fühlen (Rolfe 2019: 23). Andersherum erzeugt das unreflektierte Verhalten von Anouk sogar Stress und führt zu sturer Prinzipienreiterei, ohne den Wunsch, das Gegenüber verstehen zu wollen. Dies gefährdet wiederum die pädagogische Beziehung. Anouk ist nicht mehr offen für einen wertschätzenden, reflektierten Umgang. Sie hat zudem bisher so wenig in die Beziehungsgestaltung investiert, dass sie weder den Namen der Studentin kennt, noch sonst etwas Privates über sie weiß. Deshalb trifft Anouk aus Mangel an Bindung und Beziehung Vorannahmen über Lea. Diese Annahmen beginnen bereits, sich zu Vorurteilen gegenüber Studierenden im Allgemeinen zu verfestigen.
Hinzu kommt, dass sowohl Anouk als auch Lea die Lehrveranstaltung zunehmend mit eher negativen Emotionen verknüpfen. Die Enttäuschung von Anouk über Leas Verhalten sowie Leas schlechtes Gewissen über ihr Zuspätkommen und zeitweises Fehlen erschweren für beide weitere Lern- und Entwicklungsprozesse (Steffens 2016: 34 nach Vygotskij 2001: 162). Die allgemeine Begeisterung beider für das Seminar kann die negativen Emotionen möglicherweise nicht ausreichend ausgleichen.
Zusätzlich zur fehlenden Reflexion Anouks über ihre Emotionen, haben es beide versäumt, transparent zu kommunizieren. Beides führte wie beschrieben zu sich aufschaukelnden Konflikten in der pädagogischen Beziehung.
Inwiefern hätte die Kommunikation von beiden Seiten transparenter geführt werden können?
Als Erstes sollte festgehalten werden, dass Studierende nicht verpflichtet sind, private Einzelheiten mit Dozierenden zu teilen. Zudem gibt es keine Anwesenheitspflicht in den Lehrveranstaltungen der TUD. Zwar hätte im vorliegenden Fall ein wenig mehr Transparenz von Leas Seite einen Perspektivwechsel für Anouk erleichtern können. Jedoch bestanden in der pädagogischen Beziehung nicht die Voraussetzungen für ein Gespräch über Privates. Damit Lernende sich trauen, ihre Bedürfnisse anzusprechen und gegebenenfalls durch private Einzelheiten zu begründen, müssen sie sich sicher fühlen. Zum Aufbau sowie zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung eines sicheren und angstfreien Umfelds sollten die psychischen Grundbedürfnisse (Grawe 2004: 192-303) der Lernenden berücksichtigt werden. Zudem sollten Lehrende Zeit in das Kennenlernen sowie die Beziehungsgestaltung investieren. Nur so können professionelle, konstante, wertschätzende und mit positiven Emotionen assoziierte Beziehungen entstehen. Diese schaffen eine Grundlage für offene Kommunikation.
Weiterhin hätte Anouk neben Angeboten zur Beziehungsgestaltung auch Kommunikationsanlässe unterbreiten sollen. Dies hätte beispielsweise ein Willkommenstext sein können. Anouk hätte ein Gespräch über individuelle Hürden anstoßen oder mit den Studierenden über Bedürfnisse sprechen können, indem sie beginnt. Dafür hätte sie vermutlich vorher noch einmal reflektieren müssen:
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Welche Ziele verfolge ich mit dem Seminar?
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Welche Lernziele sollen die Studierenden erreichen?
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Welches Verhalten wünsche ich mir von den Studierenden?
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Welches Verhalten von mir und von den Studierenden/Lernenden ist nötig, um die Ziele zu erreichen?
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Gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verhalten, das ich mir wünsche und das zielführend wäre? Wie gehe ich damit um?
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Wie kann ich die Studierenden unterstützen?
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Was brauche ich von den Studierenden z. B. an Informationen, damit das Seminar für mich funktioniert?
Die sich aus diesen Fragen ergebenden Bedürfnisse und Wünsche sollte die Lehrperson anschließend transparent gegenüber den Lernenden kommunizieren. Danach sind die Lernenden vermutlich aufgeschlossener auch ihre Anliegen zu kommunizieren.
Welche pädagogischen Spannungsverhältnisse werden im Fall sichtbar?
Jede*r ist einzigartig und das muss anerkannt werden. Anerkennung ist allerdings nicht so leicht umzusetzen wie gedacht. Denn es handelt sich um einen “mehrdimensionalen [..] Problem- und Problematisierungsbegriff” (Balzer, Ricken 2010: 38), durch dessen unreflektierte Anwendung Machtverhältnisse und Diskriminierungen reproduziert werden können (Mecheril, Plößer 2009: 206). In Bezug auf Anerkennung treten somit erste pädagogische Spannungsverhältnisse zutage.
Nimmt man die Einzigartigkeit eines jeden Menschen ernst, wird klar, dass Heterogenität und damit Differenz in den pädagogischen Alltag eingeschrieben sind.
Insofern geht es mit Bezug auf das Verhältnis von Differenz und Pädagogik nicht um die Frage: »Differenz: ja oder nein«, sondern um eine erfahrungsbezogene Reflexion darauf, wie Differenzen pädagogisch so thematisiert werden, dass als Konsequenz dieser Thematisierung weniger Macht über andere erforderlich ist. (ebd.)
Die Notwendigkeit inklusionssensiblen Lehrens und Lernens wird so verdeutlicht. Jedoch zeigen Mecheril und Plößer (ebd.) auch auf, dass Reflexionsprozesse nötig sind, um nicht in Stolperfallen zu tappen. Im vorliegenden Fallbeispiel erkennt Anouk die Heterogenität der Studierenden nur oberflächlich an. Sie sieht ein, dass jede*r mit Hindernissen im Studium konfrontiert ist. Jedoch reflektiert sie nicht, dass diese Hindernisse sehr individuell sind und manche aufgrund systematischer Benachteiligung marginalisierter Gruppen bestehen. Solcherlei Diskriminierungen werden viel zu oft übersehen oder unter dem Deckmantel der Einzigartigkeit unsichtbar gemacht. Andererseits kann es durch Sichtbarmachung zu weiteren Verletzungen und zur Reproduktion von Machtverhältnissen kommen. Daran werden weitere pädagogische Spannungsverhältnisse sichtbar. Um diesen zu begegnen, ist Wissen über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und systematische Marginalisierung gefragt. Ebenfalls muss je nach Situation sehr individuell und in Absprache mit Betroffenen gehandelt werden. Der Grundsatz “mit und nicht über” ist hier zentral. Rezepte kann es daher nicht geben.
Eine auf Differenz und Vielfalt bezogene Pädagogik hat es mit Dilemmata zu tun. [...] Dieses dilemmatische Verhältnis [...] kann nicht aufgelöst werden. Es ist konstitutiv für den Zusammenhang von Differenz und Pädagogik. (ebd.: 205 f)
Eine Möglichkeit, den Lernenden trotz dieser Dilemmata, die immer wieder neu reflektiert werden müssen, respektvoll und ganzheitlich zu begegnen, ist die Verstehende Perspektive.