Eine Geschichte mit großem Lernpotenzial
Horst Weigmann versuchte, seine Mutter vor den Nazis zu retten– ein Ethikexkurs für Schüler
Beate Diederichs
Beim Projekt »Erinnern an Horst Weigmann – Zivilcourage lernen« können sich Jugendliche und Erwachsene mit der Geschichte eines Dresdners beschäftigen, der versuchte, seine Mutter vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Es entstand in einer Zusammenarbeit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dresden e. V. und der Professur für Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der TUD. Das Projekt hat Schüler bereits mehrfach im Religionsunterricht begeistert.
Eine Geschichte mit realem Dilemma
In einem Dilemma zu stecken, ist für die betroffene Person äußerst unangenehm. Jeder Ausweg birgt Risiken oder ist moralisch fragwürdig. »Für uns Didaktiker jedoch sind Dilemmata ein wunderbares Mittel, um Schüler voranzubringen: Wenn sie überlegen müssen, was sie in so einer Lage tun würden, lernen sie ethisch viel dazu«, sagt Monika Scheidler, Professorin für Religionspädagogik am Institut für Katholische Theologie der TU Dresden. »Leider lassen sich glaubwürdige Dilemma-Geschichten schwer konstruieren. Die Geschichte von Horst Weigmann dagegen enthält ein reales Dilemma. Deshalb bietet sie ein großes Potenzial für diskursethisches Lernen. Bei diesem Verfahren diskutieren die Beteiligten ausgiebig die verschiedenen Argumente für die eine oder andere Lösung des Dilemmas, die beide mit unangenehmen Konsequenzen verbunden sind.« Monika Scheidler ist dankbar dafür, dass der pensionierte Elektrotechnik-Ingenieur Herbert Lappe ihr vom Schicksal Weigmanns erzählte und sie bat, sein Material dazu didaktisch aufzubereiten und für Schüler lebendig werden zu lassen. Scheidler und Lappe sind beide Mitglieder der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und hatten bereits in der Vergangenheit an Projekten zusammengearbeitet.
»Herbert Lappe berichtete mir 2016 von Horst Weigmanns Schicksal. Ich hatte den Eindruck, dass es ihn schon länger umtrieb«, erzählt Monika Scheidler. Die Geschichte könnte grundsätzlich für die vieler Verfolgten des Naziregimes stehen und ist doch einzigartig: Weigmann, geboren 1920, studiert in Dresden Chemie und lebt mit seiner Mutter Toni Weigmann gemeinsam in einer Wohnung. Toni Weigmann, die nach den NS-Rassegesetzen als Jüdin eingestuft worden war, und ihr Mann hatten sich lange Zeit davor scheiden lassen. Im Januar 1944 wird sie von der Gestapo zur Deportation abgeholt. Horst Weigmann versucht, sie aus der Untersuchungshaft zu befreien, indem er sich als Kommissar Henry Schmidt ausgibt, ein Gestapoermittler, der für seine Brutalität berüchtigt ist. Horsts Plan fliegt auf, als der echte Schmidt auftaucht. Horst Weigmann wird ebenfalls verhaftet und stirbt in seiner Zelle. Toni Weigmann wird ins KZ Theresienstadt deportiert und dort von der Roten Armee befreit. Sie überlebt den Krieg und die Nachkriegszeit und stirbt erst 1974 in Dresden. »Das Dilemma in der Geschichte ist natürlich die Situation, in der Horst sich entscheiden muss: Versuche ich meine Mutter zu befreien und riskiere dabei mein und ihr Leben? Oder überlasse ich sie, hart gesagt, ihrem Schicksal, weil ich eigentlich keine Chance habe, und lebe selbst weiter, mache mir aber mein Leben lang Vorwürfe, ihr nicht geholfen zu haben?«, sagt Monika Scheidler. Im Unterricht würde die Professorin an dieser Stelle die Geschichte unterbrechen und die Lernenden fragen: Was hättet ihr getan? Erst nach der Diskussion über Weigmanns Dilemma würde sie erzählen, wie alles endet. Das didaktische Material zum Projekt »Erinnern an Horst Weigmann – Zivilcourage lernen« enthält daher auch ein Begleitheft für Lehrer mit Hinweisen für die Dilemma-Diskussion. Studentinnen und Absolventinnen ihrer Professur haben unter Monika Scheidlers Anleitung dieses Material entworfen, erprobt und weiterentwickelt. Man kann es bei Jugendlichen ab Klasse neun, bei älteren Schülern und Erwachsenen einsetzen. Es ist für die Fächer Religion und Ethik geeignet, aber auch für Geschichte, GRW (Gemeinschaftskunde, Rechtserziehung und Wirtschaft), Deutsch oder Kunst.
Entscheidungsfreiheit unter schwierigen Umständen
Franziska Mellentin, Lehrerin für Katholische Religion am St.-Benno-Gymnasium in Dresden, hat bisher vier Mal mit dem Material gearbeitet, in Klasse zehn und in der Oberstufe. »Es ging in diesen Stunden vor allem um Entscheidungsfreiheit unter schwierigen Umständen, um Mut«, berichtet die Lehrerin. »Die Geschichte zieht einen sofort in seinen Bann. Man hört hier nicht mit historischer Distanz vom Schicksal der Juden in der Nazizeit, sondern erlebt die Angst und Ohnmacht der Opfer mit. So war dann unsere Diskussion auch von einer Tiefe, wie man sie im Unterricht selten findet.« Franziska Mellentin erzählt, wie begeistert ihre Schüler von dem Thema waren und wie gut sie sich mit Weigmanns Dilemma auseinandersetzten. Ein Schüler hatte es so ausgedrückt: »Es ist völlig aussichtslos, was Horst tut, aber ich kann verstehen, dass er anders nicht hätte weiterleben können.« Für viele Jugendliche, so berichtet die Lehrerin, war das Projekt eine ideale Methode, sich in der Schule mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
Solches Lob hört Herbert Lappe natürlich gern. Den 72-jährigen Ingenieur im Ruhestand und den Enkel Toni Weigmanns, einen Sohn ihrer Tochter, verbindet eine lange Freundschaft. »Ich wusste, dass seine Großmutter im KZ Theresienstadt gewesen war. Aber erst, als ich 1987 als Vertreter der jüdischen Gemeinde Dresdens dem Prozess gegen den Gestapomann Henry Schmidt beiwohnte, erfuhr ich, dass es auch noch einen Sohn von Toni Weigmann gegeben hatte. Ich beschloss: An den muss man erinnern«, sagt Herbert Lappe.
Fast 20 Jahre trug er diese Idee mit sich herum, bis er vor zwei oder drei Jahren bei Vorträgen von Schülern des St.-Benno-Gymnasiums während des »Weges der Erinnerung« feststellte: Jugendliche finden das Thema Judenverfolgung im Nationalsozialismus nach wie vor spannend. »So bat ich Monika Scheidler als Didaktikerin um Unterstützung, um das geplante Projekt in die Schulen zu bringen«, erzählt er. Ihm schwebte etwas vor, das Geschichte mit spielerischen und interaktiven Elementen verbinden und so die heutige Schülergeneration ansprechen sollte. Er selbst hatte auf der Basis von Toni Weigmanns Aufzeichnungen ein Drehbuch zu den Ereignissen geschrieben, aus dem später ein Kurzhörspiel entstanden war. Zudem hatte die Grafikerin Birgit Schöne die Geschichte als Comic gezeichnet. Aus dem Kurzhörspiel programmierte Lappe eine App fürs Smartphone. Dann legt man dieses in eine Papp-Brille ein, um die Handlung quasi live mitzuerleben. Durch eine nachträgliche Förderung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, für die Herbert Lappe sehr dankbar ist, konnte er seine Unterstützer, wie die Grafikerin und die Schauspieler, bezahlen, die zunächst unentgeltlich gearbeitet hatten.
»Erfahrungen wie die von Franziska Mellentin zeigen: Das Material ist für den Unterricht geeignet. Nun möchte ich gerne noch mehr Schulen erreichen. Mein Ziel ist, dass rund hundert Bildungseinrichtungen in den nächsten drei bis fünf Jahren mit der spannenden Geschichte von Horst Weigmann arbeiten«, so Herbert Lappe.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 10/2018 vom 29. Mai 2018 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.