Diskussion um Abbiegeassistenten für LKWs
Gefährdung oder gar Verletzung von Fahrradfahrern durch rechtsabbiegende Fahrzeuge (vor allem LKWs)
In den vergangenen Monaten wurden in der Öffentlichkeit in besonderer Weise solche Verkehrsunfälle diskutiert, bei denen ein rechtsabbiegender LKW einen geradeausfahrenden Radfahrer oder auch Fußgänger übersieht und diesen dann teils schwer oder gar tödlich verletzt. In den Vordergrund rückte dabei bisher die Frage, wie man die LKW baulich und gerätetechnisch sicherer machen könnte, zum Beispiel durch sogenannte Abbiegesysteme. Dabei hat die Unfallanalyse Berlin GbR einerseits herausgefunden, dass der besonders gefährliche Bereich nicht im »toten Winkel«, sondern weiter vorn an der Rechtsvorn- Spitze des LKW liegt. Und die Berliner Kollegen formulieren eindeutig: »Aus Sicht des Unfallanalytikers bleibt allerdings der Einsatz eines menschlichen Beifahrers der einfachste und den meisten Erfolg versprechende Ansatz.«
Untersuchungen des Verkehrsverlaufes, der Verkehrsstromregelung und der Folgen des gegenwärtigen Verkehrsrechtes spielten bisher demgegenüber eine nachrangige Rolle. Das Dresdner Universitätsjournal befragte dazu Thomas Unger, Bereichsleiter Datenanalyse und Simulation der Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden GmbH.
UJ: Viele Autofahrer berichten in Gesprächen, dass das besonders Riskante und Gefährliche die Tatsache sei, dass Radfahrer von hinten kommend unbekümmert und schnell rechts am LKW vorbeifahren dürfen. Eine solche Annahme müsste natürlich überprüft werden. Gibt es bei Ihnen auswertbares Datenmaterial, aus dem hervorgeht, ob der verunfallte Radfahrer zuvor von hinten kommend rechts am stehenden oder schleichenden LKW vorbeigefahren kam oder ob dieser verunfallte Radfahrer vom LKW überholt worden ist, der dann einfach beim Rechtsabbiegen den Radler übersehen und zu früh nach rechts eingelenkt hat?
Thomas Unger: Im Rahmen einer Graduierungsarbeit (Quelle siehe unten) in Zusammenarbeit mit der TU Dresden wurde die Gruppe der Abbiegeunfälle zwischen Fahrzeugen des Schwerverkehrs und nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern tiefer gehend untersucht.
Die Studie ergab, dass sich 90 Prozent der Ereignisse zwischen Lkw und Fahrrädern ereignen, welche sich in dieselbe Richtung bewegen. Leider ist aus dieser Untersuchung heraus nicht näher ersichtlich, ob das Fahrrad am langsameren/ stehenden Lkw rechts vorbei fährt oder der Lkw links das Fahrrad überholt. Aus den Erfahrungen der fast 20-jährigen Unfallerhebungen im Großraum Dresden wissen wir allerdings, dass diese Konflikte in beiden geschilderten Situationen auftreten.
Wie, mit welchen wissenschaftlichen Methoden, könnte man denn so einen Unterschied im Unfallhergang überhaupt erfassen? Glaubwürdige Zeugen werden sicher nur sehr selten zur Verfügung stehen.
Die Analyse des Unfallgeschehens erfolgt über eine Unfallrekonstruktion. Dort werden alle vorhandenen Informationen genutzt, um Rückschlüsse auf den Unfallmechanismus zu erhalten. Dies umfasst beispielsweise Kratz-, Schleuder- oder Bremsspuren, die Beschädigungen der Fahrzeuge, örtliche Gegebenheiten, Zeugen- und Beteiligtenaussagen sowie Kenntnisse zur Fahrphysik. Ist die Unfallentstehung aufgeklärt, gehen wir in der Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden GmbH aber noch weiter. Im Rahmen einer Rückwärtssimulation rechnen wir die vorkollisionären Bewegungen der Unfallbeteiligten bis zu fünf Sekunden zurück, um bessere Erkenntnisse zu den Sichtbedingungen, Annäherungswegen und weiteren relevanten Aspekten zu gewinnen.
Spielt es für Häufigkeit und Schwere dieser Rechtsabbiegerunfälle eine Rolle, ob der Radler auf einem Radweg oder einfach am rechten Rand der Straße (ohne Radweg) angeradelt kam? Was sagen Ihre Daten dazu?
Eine pauschale Aussage dazu ist mit unseren Daten nicht möglich. Das Wichtigste bei dieser Art von Unfällen ist die gegenseitige Wahrnehmung. Es ist notwendig, dass der Lkw-Fahrer den Fahrradfahrer rechtzeitig erkennen und dessen Geschwindigkeit korrekt einschätzen kann. Nur so können diese schweren Unfälle vermieden werden. Dafür müssen Sichtbehinderungen minimiert und die Verkehrswege möglichst konfliktarm gestaltet werden. Im Einzelfall spielen aber noch deutlich mehr Aspekte eine Rolle, bspw. die Steuerung von Lichtsignalanlagen, die Art der Beleuchtung, die Existenz parkender Fahrzeuge und nicht zuletzt das Bewegungsverhalten der Fahrzeuge.
Kann man Erkenntnisse, die aus diesen Daten geschlussfolgert wurden, sogar verallgemeinern? Dass also die Einführung von Radwegen in manchen Verkehrsführungs- Situationen das Unfallrisiko sogar erhöhen? Was empfehlen Sie auf der Basis der VUFODaten?
Es ist ein Hauptanliegen unseres Forschungsprojektes, aus jedem Einzelfall Erkenntnisse zu gewinnen, welche dann verallgemeinert Eingang in Vorschläge für Verkehrs- bzw. Fahrzeugsicherheitsmaßnahmen finden. So vielfältig und facettenreich das Unfallgeschehen jedoch ist, kann man nicht jeden dieser Unfälle mit der gleichen Maßnahme adressieren. Als Ergebnis der Graduierungsarbeit und unserer Untersuchungen konnten wir immerhin einige Verbesserungspotentiale bei der Verkehrswegegestaltung identifizieren. Dies sind u.a. eine fahrbahnnahe Radverkehrsführung, die deutliche Markierung von Radverkehrsanlagen sowie radfahrerfreundliche Schaltung der Lichtsignalanlagen (Zeitvorsprung für Fahrradfahrer). Sie zielen alle darauf, den Radfahrer frühzeitig für den Lkw-Fahrer wahrnehmbar und dessen Fahrtrichtung und Geschwindigkeit einschätzbar werden zu lassen. Darüber hinaus sehen wir auch in technischen Systemen, bspw. einem Abbiegeassistent, ein gewisses Potenzial.
Welche Vor- oder Nachteile haben diese Abbiegeassistenten?
Der Vorteil dieses Systems ist, dass es als fahrzeuggebundene Maßnahme an jedem Knotenpunkt verfügbar ist, während es aus Kosten- und Zeitgründen nahezu unmöglich erscheint, die gesamte Infrastruktur entsprechend anzupassen. Natürlich erfordert die Einführung technischer Systeme auch erst eine gewisse Zeit für die Entwicklung und europaweite Standardisierung. Hinzu kommt, dass sich messbare Effekte erst einstellen, wenn die Systeme eine gewisse Marktdurchdringung erreicht haben. Das kann mit Blick auf die durchschnittlich etwa sieben Jahre alte LKW-Flotte in Deutschland auch ein bis zwei Dekaden dauern. Nachrüstlösungen für Bestandsfahrzeuge halten wir aber nicht für sinnvoll, da dies umfassende Eingriffe in die Fahrzeugsensorik und –aktuatorik bedeuten würde.
Die Fragen stellte Mathias Bäumel.
Hintergrund
Überraschend wie »Kai aus der Kiste«
Autor: M. B.
Das dürfte wohl jedem Autofahrer bekannt und ein Graus sein: Man wartet in einer Schlange an der Kreuzung auf Grün, fährt endlich los – und plötzlich kommt von hinten rechts vorbeifahrend ein Radfahrer angepfiffen. Wie aus dem Nichts! Und meist nur funzelig oder gar nicht beleuchtet, vielleicht sogar an einem regnerischen Tag … Sollte es dabei zu einem Unfall kommen, müsste bei der Analyse unterschieden werden, ob der Autofahrer zuvor den Radfahrer überholt hatte (und ihn hätte sehen müssen) oder ob der Radfahrer wie oben beschrieben von rechts hinten überraschend wie »Kai aus der Kiste« kam. Einen solchen Sachverhalt detailliert aufzunehmen, damit entsprechende Empfehlungen zur Verkehrsführung gegeben werden können, wäre ein weiterer Beitrag zur Senkung der Unfallgefahr.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 13/2018 vom 04. September 2018 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.