Alle Jahre wieder: Es war einmal …
Weihnachtszeit ist auch Märchenzeit: Doch warum eigentlich?
Anne Vetter
Schon im November machen sich die ersten Ausläufer der nahenden Märchenwelle bemerkbar. Auf den Kinoplakaten prangt »Der Nussknacker und die vier Reiche«, die Semperoper lässt Marie und Fritz den Mäusekönig mit Tschaikowski besiegen; abgewechselt von Hänsel und Gretel, die sich tanzend aus den Fängen der Hexe befreien. Über die Adventssonntage schwillt die Welle in Spielplänen und Fernsehen an, bevor sie sich zwischen Weihnachten und Neujahr mit großer Wucht über die Feiertagsseligkeit ergießt. Aschenbrödel findet allein an den Weihnachtstagen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zwölfmal ihren Prinzen, dazu kommen die »Märchenperlen« im ZDF und die Filmreihe »Sechs auf einen Streich« in der ARD.
Warum ist das so? Wieso gehen bei uns Märchen und Weihnachten Hand in Hand, obwohl das Fest weder in den Geschichten von Jakob und Wilhelm Grimm, noch bei Hans Christian Andersen oder Wilhelm Hauff eine Rolle spielt?
»Es ist ganz einfach: Mit Märchen können wir die Zeit wegerzählen. Sie passen damit gut zu den Weihnachtsbräuchen, die sich im 19. Jahrhundert etabliert haben. Egal, ob Adventskranz oder -kalender – sie alle haben den gleichen Zweck. Sie sollen das Warten erleichtern«, erklärt Alexander Lasch, Professor für Germanistische Linguistik und Sprachgeschichte am Institut für Germanistik der TU Dresden.
Etliche Märchensammlungen tragen das Motiv des Wartens sogar direkt in sich: Tausendundeine Nacht, Die Karawane oder das Wirtshaus im Spessart von Wilhelm Hauff: Erzählen als Mittel gegen Zeit und Angst.
Der Grund, dass Weihnachten in Märchen nicht vorkommt, könnte einfach sein, dass unsere Weihnachtsbräuche jünger sind als die bekannten Volksmärchen, und alte Erzählungen zum Mittwinter durch die Christianisierung, die auch die Schrift brachte, überlagert wurden. Selbst winterliche Motive sind selten. Auf die Schnelle fallen einem Frau Holle, Die Schneekönigin, Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen und der Anfang von Schneewittchen ein. Dann wird es schon dünn. »Das ist aber nicht wichtig«, sagt Lasch. »Was Märchen eint, ist die Hoffnung, dass sich (eine) Geschichte zum Guten wendet. Darum geht es auch in der Weihnachtszeit. Wir warten auf das Gute, es ist eine Zeit der Hoffnung.«
Dank ihrer Erzählstruktur geraten die alten Volksmärchen nicht aus der Mode und beflügeln immer wieder Autoren, Kunstmärchen zu erzählen. Selbst in einer reizüberfluteten Zeit wie der unseren halten sie der Konkurrenz stand. »Sie punkten mit Rhythmus, einer erwartbaren Struktur und Wiederholung, Zahlensymbolik, festem Setting und ikonischen, relativ eindimensionalen Figuren.« Der Prinz ist der Prinz, die Prinzessin die Prinzessin und die Hexe die Hexe. »Märchen holen Kinder gut ab. Sie können Figuren und Handlung leicht behalten. Und wenn es losgeht mit ›Es war einmal …‹, wissen sie, dass das Gute das Böse besiegt. Kinder lieben das. Nur Märchen vermitteln dieses Gefühl. Deswegen muss auch die Ausgangssituation so katastrophal sein«, spielt Lasch auf böse Stiefmütter, verarmte, hartherzige Eltern und verzweifelte Könige an. »Märchen und andere einfache Erzählformen eignen sich deshalb gut für Studien zu sprachlichen Mustern und zum Spracherwerb«, erklärt Lasch ihre Relevanz für seine Forschung.
Ein paar Märchen, die nicht gut ausgehen, gibt es natürlich. Bei Kindern sind sie jedoch nicht sonderlich beliebt. »›Der Fischer und seine Frau‹ hat zwar eine klare Botschaft, welche Konsequenz Maßlosigkeit und Habgier haben. Trotzdem ist der Ausgang der Geschichte unbefriedigend. Dem Butt ist es gleichgültig, dass sein Retter am Ende ohne alles dasteht, der Frau auch. Hätte der Butt die Frau verschluckt, würde die Geschichte mit Sicherheit anders wahrgenommen«, vermutet Lasch.
Welche Märchen besonders beliebt sind, hängt auch immer mit unseren Lebensvorstellungen und der Kanonisierung zentraler Märchen zusammen. Zwar nehmen Erwachsene wie Kinder mit dem Versprechen auf ein gutes Ende logische Ungenauigkeiten hin. Dass es im Schloss von Dornröschen nur zwölf Teller für Gäste gibt, ist seltsam, stört aber nicht weiter, weil wir die böse Fee nachvollziehen können: Sie ist ausgeschlossen und straft, kommt aber zum Glück nicht damit durch. »Dass von den letztlich 200 Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm viele in Vergessenheit geraten sind, liegt daran, dass etliche für uns nicht mehr nachvollziehbar sind«, erläutert Lasch.
Dieses Schicksal trifft auch so manches der jüngeren Kunstmärchen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Das Märchen von der abgehauenen Hand Hauffs, das mit dem Kleinen Muck und dem Kalif Storch in der Karawane erschien, »mögen Erwachsene reizvoll finden, Kindern möchte man es eher nicht zum Einschlafen vorlesen«, meint Lasch – womit sie in einer typischen Vorlesesituation keinen Platz haben.
Eine ganz andere Wendung erfuhr die in Europa weit verbreitete Geschichte vom Aschenputtel. Immer schon beliebt, ist die tschechisch-deutsche Filmadaption von 1973 heute der in Deutschland am häufigsten gezeigte Märchenfilm. Der Aufstieg des Films begann um die 2000er, als die Generation, die als Kinder den Film geschaut hatten, selbst Kinder bekamen und mit ihnen gemeinsam Märchen wiederentdeckten. »Im Vergleich zu anderen DDR-Märchenfilmproduktionen wie dem herausragenden König Drosselbart mit Manfred Krug ist das Aschenbrödel leicht verkitscht – Kammerspiel mit drei Requisiten gegen Operette vor barocker Kulisse, könnte man sagen. Es ist ein toller Film, sehr detailreich auf hohem schauspielerischem Niveau, der ein extrem unterschiedliches Publikum anspricht«, findet Lasch. »Es gibt einen klassischen Plot, der aufgrund toller Dialoge Kinder und Erwachsene unterhält, die Kostüme sind wunderschön, der Soundtrack großartig und auch Lokalpatrioten kommen auf ihre Kosten. Moritzburg hat das Potenzial erkannt und eine sehr gut angelegte Marketingstrategie entwickelt.«
Aus der Sicht des Germanisten Lasch werden die Märchen durch die Neuverfilmungen im Grunde zu Kunstmärchen, die Figuren sind vielschichtiger, bekommen eine Motivation bzw. ein Anliegen. »Die Verfilmungen spiegeln zudem die jeweilige Gesellschaft wider: Wo greift man in die Handlung ein? Wie reichert man sie an? Gelungen finde ich beispielsweise auch die neue Version vom Dornröschen. Der Prinz rückt in den Mittelpunkt, um den herum ein Heldenepos in Kurzform erzählt wird.«
Lasch selbst ist ein großer Fan der Hauffschen Märchen. Favorit ist Kalif Storch in der in den 70er-Jahren vertonten und über das Label LITERA veröffentlichten Variante. »Die Märchen von Hauff sind fast alle sehr schön, wenn auch komplex und voraussetzungsreich. Aber sie haben die richtige Mischung aus lebensweltlicher Verankerung und nachvollziehbaren märchenhaften und zauberhaften Elementen. Die Grundspannung entsteht, weil die Verzauberung in der Regel unnötig ist und das Leben nur komplizierter macht. Die Personen stürzen in die Katastrophe, weil sie nicht zufrieden sein können. Kohlenmunk-Peter im ›Kalten Herz‹ hat schon das große Los gezogen, aber es reicht ihm nicht. Der Hofstaat im Kleinen Muck isst die Feigen aus Gier und Kalif Storch vergisst, Hochmut kommt vor dem Fall, die lösende Formel mutabor.«
Zu Unrecht vergessen empfindet Lasch »Die Regentrude« von Theodor Storm. »Sie ist quasi das Pendant zur Schneekönigin. Ein Junge und ein Mädchen müssen in einem extrem bedrohlichen Szenario einen Bann lösen, um die Welt von einer Hitzewelle zu befreien – ein Sommermärchen.« Eigentlich hochaktuell. Dachte sich offenbar auch die ARD. Denn die Regentrude ist eines von zwei neuverfilmten Märchen, die in diesem Jahr die Reihe »Sechs auf einen Streich« ergänzen. Zur Märchen-Hochzeit am 25. Dezember 2018.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 20/2018 vom 11. Dezember 2018 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.