06.10.2020
30 Jahre deutsche Einheit: Das Ausland sieht die Erfolge
Im internationalen Vergleich sind die regionalen Einkommensunterschiede in Deutschland eher klein
Konrad Kästner
Es hätte ein Jahr voller öffentlicher Würdigungen der historischen Ereignisse vor 30 Jahren werden sollen: ein Gedenken an den Zeitraum zwischen Herbst 1989 mit der Friedlichen Revolution der Ostdeutschen über die am 1. Juli 1990 vollzogene Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bis hin zur Wiedervereinigung durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland, ihrem Rechts- und Wirtschaftssystem, Militärbündnis und Hymne.
Die von der Bundesregierung eigens gegründete Kommission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit« unter dem Vorsitz von Ministerpräsident a.D. Matthias Platzeck hatte zahlreiche Handlungsempfehlungen zur Ausgestaltung eines zeitgemäßen Jubiläumskonzepts unterbreitet. Dazu gehörten Bürgerdialoge in den Bundesländern, die das Bewusstsein über das Erreichte stärken, wie auch bestehende Herausforderungen und schmerzliche Erfahrungen offen thematisieren sollten. Im Mittelpunkt sollte die Frage stehen, wie das Zusammenwachsen von Ost und West, das deutsch-deutsche Miteinander und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gefördert werden können, um die Lebensqualität in seinen vielfältigen Facetten in allen Regionen landesweit auszuleuchten, zu steigern und engagiert zu gestalten.
Doch der Corona-Virus pulverisierte diese Pläne. Dabei waren Formate vorgesehen, die durchaus das Potenzial für ein besseres Verständnis der Deutschen untereinander hatten. Auch aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Umbrüche und Herausforderungen sollten mit einbezogen werden. So sollte das Jubiläum zum Anlass genommen werden, die Erfahrungen des gesellschaftlichen Wandels seit 1989/90 für gegenwärtige und zukünftige Veränderungsprozesse zu nutzen und Begegnung, Kunst und Dialog zu ermöglichen.
Mitglied dieser 22-köpfigen Kommission ist auch Marcel Thum, TUD-Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft, und Leiter der Dresdner Niederlassung des Leibniz ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Er sieht in der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten 30 Jahre durchaus eine Erfolgsgeschichte: »Das reale Bruttoinlandsprodukt BIP pro Kopf in Ostdeutschland hat sich verdreifacht. Die Angleichung der Lebensverhältnisse hat große Fortschritte gemacht. Daher wird die deutsche Einheit insbesondere im Ausland als Erfolgsgeschichte wahrgenommenen. Zuhause sehen wir immer eher die Verwerfungen, die beispielsweise hinsichtlich der noch immer bestehenden Unterschiede bei Einkommen und Vermögen bestehen«, konstatiert Prof. Thum. Die Lebenszufriedenheit der Ostdeutschen nähert sich der der Westdeutschen – auch eine Folge der stetig sinkenden Arbeitslosigkeit, die lange für eine »Depression« sorgte. Spürbare regionale Einkommensunterschiede finden sich in allen Ländern und sind keine Besonderheit des deutschen Vereinigungsprozesses. Im Vergleich zu den europäischen Nachbarn gehört Deutschland – trotz des ökonomischen Vereinigungsschocks – zu den Ländern, in denen sich die verfügbaren Einkommen zwischen den Regionen eher wenig unterscheiden. Aber was kann die Politik tun, um das noch immer von vielen Ostdeutschen geäußerte Gefühl der »Bürger zweiter Klasse« zu verringern? »Hauptaufgabe der Politik ist es, die Chancengleichheit aller Bundesbürger sicherzustellen, besonders angesichts des anstehenden, raschen demografischen Wandels«, unterstreicht Thum. »Die Bundes- und Landespolitik aber kann nicht alle Probleme zentral lösen; der Blick ›nach oben‹ ist nicht sinnvoll. Hier kann die Politik beispielsweise das ehrenamtliche Engagement stärken, um so von der Basis her die notwendigen Prioritätensetzungen zu bekommen.« Eine wesentliche Ursache der noch heute vorhandenen Unzufriedenheit sieht Prof. Thum auch in den aus wirtschaftlicher Sicht unrealistischen Versprechungen der »Blühenden Landschaften« binnen weniger Jahre und in der geringen Repräsentation in vielen wirtschaftlichen und politischen Führungsgremien. »Der anstehende, umfassende Generationenwechsel wird zeigen, wie der Osten dann in Führungsfunktionen repräsentiert ist und ob das Zusammenwachsen der jüngeren Generationen, die gemeinsam Schulen und Universitäten besucht haben, Früchte trägt«, schließt Marcel Thum.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 15/2020 vom 6. Oktober 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.