18.05.2021
Am Puls der Bauwerke
»Hundert plus« ist ein DFG-Schwerpunktprogramm, das Bauwerken ein langes Leben bescheren will
Luise Anter
Wer an Klimasünder denkt, denkt vielleicht an Tagebaue, an Inlandsflüge oder Massentierhaltung. Doch Klimasünder, das sind auch Brücken, Häuser oder Straßen. Die Bauindustrie verursacht in Deutschland 14 Prozent der jährlichen CO2-Emissionen, verbraucht 90 Prozent der hierzulande pro Jahr geförderten Rohstoffe, ist für fast 60 Prozent des jährlichen Abfalls verantwortlich – aber nur für zehn Prozent der Wirtschaftsleistung. »Dort müssen wir angreifen«, sagt Prof. Steffen Marx. »Wir müssen bestehende Bauten länger nutzen.«
Marx hat seit einem Jahr die »DB-Netz – Stiftungsprofessur für Ingenieurbau« an der TU Dresden inne. Zuvor war er Professor für Massivbau an der Leibniz Universität Hannover. Als »Brückenbauer mit Leib und Seele« stört ihn der immense Verbrauch seiner Branche. So hatte er die Idee für das Programm »Hundert plus – Verlängerung der Lebensdauer komplexer Baustrukturen durch intelligente Digitalisierung «. Es geht um die Erforschung intelligenter Technik, damit Bauwerke nicht mehr nach 50 oder 60 Jahren abgerissen werden müssen. Im März hat die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) »Hundert plus« als eines von zwei neuen Schwerpunktprogrammen (SPP) an der TU Dresden bewilligt. Insgesamt gibt es 13 neue SPP.
»Hundert plus« gliedert sich in drei interdisziplinäre Forschungsbereiche. »Digitale Modelle« ist der erste. Hier geht es darum, von Bauwerken einen »Digitalen Zwilling« zu schaffen. Das ist ein georeferenziertes 3-D-Computermodell, welches das Bauwerk also in seine natürliche Umgebung einbettet: Flüsse, Bäume, Hügel – alles dabei. »Momentan haben wir Millionen von Bestandsplänen, aber keiner weiß, ob die aktuell und richtig sind«, sagt Marx. Für die Modelle werden die einzelnen Bestandteile vor Ort mit einem Laserscanner aufgenommen. Die fertigen Modelle enthalten auch Informationen über die einzelnen Elemente: Das ist die Stütze, das ist der Träger, dort ist das Fundament. Aber ein Modell allein hat noch keinen Nutzen. »Die Modelle müssten zu Zustandsmeldern der Bauwerke werden, die jeden Riss, jede Überlastung sofort registrieren «, sagt Marx. Darum geht es im zweiten Bereich »Digitale Verknüpfung«. Normalerweise kommen alle fünf bis sechs Jahre Bauwerksprüfer zur Inspektion und erstellen einen langen Bericht über dessen Zustand. »So entsteht nur ein ›Papiertiger‹«, findet Marx. »Wir müssen den Zustand der Bauwerke rund um die Uhr erfassen.« Dazu sollen Bauwerke mit allerlei Sensorik ausgestattet werden, die dem Digitalen Zwilling automatisiert Daten zu Verkehrs- und Umweltbelastungen, Verformungen oder zum Materialzustand liefert.
»Doch«, so Marx, »mit den riesigen Datenmengen allein kann noch kein Ingenieur was anfangen.« Hier setzt der dritte Bereich »Zustandsindikatoren« an. Mithilfe mathematischer und physikalischer Modelle und Künstlicher Intelligenz sollen die Daten zusammengeführt und kategorisiert werden. An der Stütze des »Digitalen Zwillings« einer Brücke würde dann zum Beispiel stehen »Zustand: normal« oder »keine Maßnahmen erforderlich«. Das ist der Kern des Projekts: Mängel an Bauwerken vorhersagen und beheben, statt bis zur Einsturzgefahr zu warten.
Um diesen dritten Bereich wird es vor allem in der zweiten Förderphase gehen, die Marx und sein Team ab 2024 anstreben. Bis dahin bekommt das Projekt jährlich 2,4 Millionen Euro von der DFG. Die Initiatoren arbeiten aktuell an der Ausschreibung für die einzelnen Bereiche, auf die sich ab Sommer 2021 Forscher aus ganz Deutschland bewerben können.
Ihre Ergebnisse können sie dann an einem echten Bauwerk validieren: Die Bundesautobahnverwaltung hat »Hundert plus« eine große Autobahnbrücke zur Verfügung gestellt, an der die neuen Technologien erprobt werden sollen. Künftig soll die Technologie für alle möglichen Bauwerke angewendet werden, für Hochhäuser, Windräder oder Industrieanlagen. Doch bis es so weit ist, wird es dauern: »Hundert plus« ist reine Grundlagenforschung. »Die Anwendung hebe ich mir für das nächste Projekt auf«, sagt Marx.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 09/2021 vom 18. Mai 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.