03.11.2020
Berufsbildung im Spiegel eines wissenschaftlichen Lebens
Zur Erinnerung an Professor Heinz Knauer, der vor 100 Jahren geboren wurde
Dr. paed. habil. Dieter Grottker
Jede an einer Universität etablierte Wissenschaft ist neben Lehre und Forschung der eigenen Geschichtsschreibung verpflichtet. So mühsam die Arbeit, so gewinnbringend die Einsichten. So ehrlich der Wille, so aufschlussreich die größeren Zusammenhänge, die oft erst im Blick rückwärts erkennbar werden. Wer auch sonst sollte sich um die disziplinäre Entwicklung kümmern, wenn nicht die Betroffenen selbst?
Vor 100 Jahren am 8. November in Aue geboren, hat Heinz Knauer ab 1951 an der Technischen Hochschule bzw. der Universität gewirkt, davon seit 1958 als Professor für die Geschichte der Berufsbildung. Er ist biographisch von jenen gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Jahre betroffen, aber er ist mehr als nur ein Betroffener.
Auf das Abitur folgt 1940 ein Studium an der Technischen Hochschule, dann der Krieg und schließlich 1947 der Abschluss als Diplomgewerbelehrer – eine originäre Geschichte des eigenen Berufs, geprägt durch Brüche, durch Neuanfang und Aufbauwillen. Es ist die Generation der Trümmerfrauen und die Generation junger Menschen, die Dresden 1945 wieder aufbauen und so auch an ihrem eigenen Leben bauen. Wer lehrt, solle jedoch die eigene subjektive Betroffenheit weitgehend zurückstellen. Eine Geschichte der Berufsbildung und Berufspädagogik müsse ideologisch möglichst vorurteilsfrei und unbefangen gelehrt werden – in größeren bildungs- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen als nur aus der Perspektive des eigenen Lebens. Inwieweit dies in der damaligen DDR überhaupt möglich war, lässt sich allgemein schwer beurteilen. Jeder musste wohl auf seinem Lehrgebiet selbst herausfinden, wo die Grenze zwischen dem politisch Sagbaren und dem moralisch Denkbaren zu markieren ist. Auch verschieben sich diese Grenzsteine mit den Jahrzehnten – was in Stalinistischer Zeit undenkbar gewesen wäre, ist an Meinungsfreiheit in den 1970er-Jahren zum Teil möglich, wenn auch nur im engeren Kollegenkreis. Oft auch ist Bildungsgeschichte die Geschichte des eigenen Bildungsganges – eine Berufsgeschichte, die durch das Leben selbst sensibilisiert wird. Was also Beruf und Berufung wirklich bedeuten, ist mit einer Definition schlechthin nicht zu verstehen. Berufsarbeit ist tägliche Erfahrung, Berufung Chance und Schicksal. Sich der historischen Forschung zu verschreiben, scheint nur äußerlich eine Entfernung zu sein. In Wirklichkeit ist sie der Gegenwart verpflichtet wie jede Wissenschaft, nur mit einer anderen Perspektive. Der Horizont des Denkens und Urteilens weitet sich – manches wird anders eingeordnet, vieles bedachtsamer beurteilt. Dass es insbesondere in den letzten Jahrzehnten in der historischen Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften durch gesellschaftliche Wandlungen verursachte Diskontinuitäten und Brüche gegeben hat, macht ein solches Arbeiten nicht einfacher. Nicht selten sind es die Brüche, die zum Nachdenken zwingen – aufschlussreich die Biographien der Betroffenen, jene Lebensschicksale der Wissenschaftler und der Studierenden. So ist auch die Geschichte einer Universität zusammengesetzt aus den Biographien der Menschen. Das Ganze erst wird durch die Zusammensetzung seiner Teile verstehbar, makrosoziale Zusammenhänge werden durch das Einzelschicksal lebendig. Durch Kriege werden Biographien zerstört. Mit dem Frieden beginnt eine Art neue Biographie, als sei man ein zweites Mal geboren.
So auch der Lebensweg von Heinz Knauer. Erste Ahnungen von Wissenschaft und Bildung beginnen bei vielen mit dem Abitur. Knauer erwirbt 1939 die Hochschulreife an der Oberrealschule Aue im naturwissenschaftlich-mathematischen Zweig. Seit 1932 ist er Mitglied der Bündischen Jugend, ab 1934 auch in der Hitlerjugend. Von April bis Oktober 1939 leistet er nach dem Abitur den pflichtgemäßen Reichsarbeitsdienst ab und arbeitet danach in einer Textilmaschinenfabrik. Als am 1. September der Zweite Weltkrieg beginnt, ist er Fabrikarbeiter. Das 1940 begonnene Studium für Bauingenieurwesen an der Technischen Hochschule Dresden wird bereits nach einigen Monaten durch die Einberufung zur Wehrmacht unterbrochen. Fünf Jahre Soldat, fünf Jahre jene tiefe Erfahrung, was Krieg bedeutet – erst in Frankreich an der Westfront, dann 1941 eine Verwundung an der Ostfront und bis zum Kriegsende Stationierung in Deutschland. Zu dieser Erfahrung gehört auch die Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Bad Kreuznach. Wie durch ein Wunder wird er am 26. Juni 1945 entlassen und arbeitet wieder in der Maschinenfabrik in Aue. Im Oktober 1946 wird er Fachlehrer für Bauwesen an der Berufsschule in Dresden-Neustadt, 1947 setzt er das vor dem Krieg begonnene Ingenieurstudium an der TH fort. Als man ihn 1947 fragt, ob er für den Frieden sei, antwortet er »Ja«. Was sonst. Daraufhin meint der andere: Das sind wir auch, dann kannst Du in unsere Partei eintreten. So wurde er Mitglied der SED. Da ihm bereits abgeschlossene Prüfungen angerechnet werden, schließt er schon 1949 das Studium als Diplom-Gewerbelehrer ab und wird als Stellvertretender Direktor der Berufsschule Dresden-Neustadt eingesetzt. Ab 1951 hat er mehrere Lehraufträge am Institut für Berufspädagogik und promoviert 1953 im Rahmen einer Aspirantur mit dem Prädikat »sehr gut«. Gutachter sind die TH-Professoren Hermann Ley, Karl Trinks und Hugo Dähne. Bereits ein Jahr später erhält er eine Dozentur für »Geschichte der Berufserziehung und Recht und Organisation des Berufsschulwesens«. Nach Emeritierung von Hugo Dähne 1955 übernimmt er kommissarisch dessen Leitung des Instituts für Berufspädagogik. 1957 beginnt die Arbeit an einer Habilitation, die 1958 mit der Übernahme der Funktion als Prorektor für Studienangelegenheiten unterbrochen und Knauer zugleich zum Professor mit Lehrauftrag berufen wird. Sein Nachfolger als Prorektor ist Heinz Kursitza. 1959 wird Knauer Dekan der damaligen Fakultät für Berufspädagogik und Kulturwissenschaften, das hoffungsvolle Thema einer Habilitation über das Wirken der Demokratinnen Erna Barschak (1888–1958) und Anna Siemsen (1882–1951) wird leider nicht fortgeführt. Bis zur Emeritierung 1986 ist er ordentlicher Professor für Berufspädagogik. Er stirbt 2001. Seit 1991 gibt es an der heutigen Fakultät Erziehungswissenschaften die Vorlesung »Systematische und historische Berufspädagogik«. Die Berufs- und Bildungsgeschichte bleibt lebendig – jene historische Bildung als eine unentbehrliche Grundlage beruflicher Identität von Lehrerstudenten.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 17/2020 vom 3. November 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.