16.11.2021
Die endlose Weite bis zum Horizont
Mathias Bäumel erzählt in seinem neuen Buch von »Pannonien«, seiner zweiten Heimat
Beate Diederichs
Den Dresdner Autor Mathias Bäumel und die Region, die er »Pannonien« nennt, verbindet eine fast lebenslange Beziehung. Diese begann, als er als Jugendlicher regelmäßig Zeit in Südungarn verbrachte, und setzt sich bis heute fort. Nun hat der ehemalige Kultur- und Wissenschaftsjournalist ein Buch über die Gegend geschrieben, deren Geschichte, Geografie, Kultur und Lebensweise ihm eng vertraut sind: »Grenzen erfahren. Erkundungen in Pannonien«.
Mathias Bäumel benennt in seinem Buch Ort und Zeit, wo alles begann. Der Ort heißt Kiskunhalas und liegt in der südungarischen Tiefebene. Die Zeit ist das Jahr 1966, als Bäumel, geboren 1953, ein Jugendlicher war. Da der Autor in seinem reichlich einhundertseitigen Werk aber nicht chronologisch berichtet, findet die Leserschaft erst auf Seite 88 eine Beschreibung davon, wie es in dem Haus aussah, in dem er regelmäßig einen Teil seiner Ferien verbrachte: Er erzählt von einem »großen, eleganten Zimmer gleich neben dem Haupteingang, das angefüllt war mit wertvollen Porzellanvitrinen, Ölgemälden, teuren Spitzendecken auf Tischen und Tischchen und einer Standuhr, deren Pendel angehalten wurde, damit wir gut schlafen konnten. Unsere Betten standen diagonal gegenüber in den Zimmerecken, so dass wir quer durch den Raum einander zuflüstern konnten.« Der, mit dem sich der junge Mathias Bäumel vor dem Schlafengehen unterhält, ist Laci, der Sohn seiner Wirtsleute, die für ihn über die Jahre zu einer zweiten Familie werden. Auch die Region lässt den Dresdner nicht los. Immer wieder fährt er nach Südungarn, unternimmt von dort immer weitere Ausflüge und »weitet seinen Reiseradius später in Richtung serbischer Vojvodina und rumänischem Banat aus«, wie er am Ende seines Buches sagt. Diese Gegend bezeichnet er als »Pannonien«, eine Mehrvölker-Region, die unter anderem von Ungarn, Deutschen, Serben, Slowenen, Slowaken, Kroaten und Rumänen bewohnt und von wechselnden Grenzziehungen bestimmt war und ist. Nach Meinung des Autors hat die Zersplitterung in verschiedene Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg der Region geschadet, sie gesellschaftlich und politisch zurückgeworfen und viel Leid über die Menschen dort gebracht. Mathias Bäumel möchte aber zeigen, »dass das historisch und kulturell Verbindende innerhalb des Mehrvölker-Pannoniens über dem Trennenden steht«, und dafür plädieren, dass man das Verschiedene als Grundelement des Gemeinsamen akzeptieren sollte.
Den Anspruch, einen chronologisch und geografisch streng geordneten Reiseführer zu schreiben, erhebt Mathias Bäumel nicht. Im Gegenteil. Ihm geht es eher um einen geistig-kulturellen Streifzug. Oft wechselt er die Zeitebene und besucht manche Orte mehrmals oder verweist erneut auf sie. Den Rahmen für die Geschehnisse bildet das Schicksal des genialen, aber drogenabhängigen und psychisch labilen Schriftstellers Géza Csáth, der kurz vor Ende seines Lebens aus der Psychiatrie flüchtete und sich auf der Flucht unversehens der im Jahr 1919 neu errichteten Demarkationslinie zwischen »Restungarn« und dem neu gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegenübersah, wo ihn Grenzer dann festhielten. Bäumel erwähnt ihn am Anfang und kurz vor dem Ende des Buches, wo er auch Csáths Ende beschreibt – er soll durch eine Überdosis Selbstmord begangen haben. Dazwischen nimmt der Autor die Leserschaft mit auf eine Reise durch Pannonien, startend in einer Csarda, einer Schänke, im ungarischen Jakabszallás und endend ganz in der Nähe, in Kecskemét, mit einer Erzählung über den Komponisten Zoltán Kodály, der von dort stammte, ebenso wie der 91-jährige Onkel Laszló, sein ehemaliger Gastvater, der das Autofahren erst aufgibt, als er mit dem Wagen in einem Dorfteich landet. Bei jeder Station breitet Mathias Bäumel sein umfangreiches Wissen zur Region aus, berichtet über prominente Menschen, die aus der jeweiligen Gegend stammen, über geschichtliche Ereignisse, Sehenswürdigkeiten oder einfach die lokale Küche. Natürlich durchstreift er auch die unglaubliche Weite der Puszta Hortobágy, des größten zusammenhängenden Steppengebiets Mitteleuropas. Er erwähnt die Theiß, den »magischen Fluss der pannonischen Tiefebene«, und beschreibt einen ewigwährenden Streit um das richtige Fischsuppenrezept, der zwischen den Theiß- und den Donauanwohnern geführt wird. Auch ernste Themen wie das Massaker von Novi Sad und die spätere Bombardierung dieser Stadt durch die NATO fehlen nicht. Am Ende des Buches fährt der Autor wie in seiner Jugend mit dem Zug nach Kiskunhalas und verliert sich in der nächtlichen Stadt.
Das Buch »Grenzen erfahren. Erkundungen in Pannonien« erschien 2021 beim Verlag SchumacherGebler in Dresden und ist mit drei abstrakten Druckgrafiken der Dresdner Künstlerin Kerstin Franke-Gneuß bebildert, die ebenfalls eine besondere Beziehung zu Ungarn und zur Pannonischen Tiefebene hat. Mathias Bäumel gelingt es, der Leserschaft nahezubringen, warum es ihn immer wieder nach Pannonien zieht, das Lebensgefühl der Region zu vermitteln, zu zeigen, dass sie grundlegende europäische Werte verkörpert. Das Werk kann ein wenig unübersichtlich wirken, da es eher eine lose Aneinanderreihung von Impressionen ist und die des Ungarischen, Serbischen und Rumänischen nicht kundige Leserschaft Mühe haben könnte, sich die jeweiligen Ortsnamen zu merken. Hier wäre vielleicht eine Karte nützlich gewesen. Andererseits erhebt das Buch, wie gesagt, nicht den Anspruch, ein Reiseführer zu sein. Lust, Mathias Bäumels zweite Heimat kennenzulernen, macht es dennoch. Und dann kann man sich ja immer noch einen Reiseführer kaufen.
Mathias Bäumel: »Grenzen erfahren. Erkundungen in Pannonien«, Verlag SchumacherGebler, Dresden 2021, ISBN: 978-3-941209-65-7.
Die Buchpremiere findet am 1. Dezember 2021, 19 Uhr, im Museumscafé des Landhauses Dresden statt (Wilsdruffer Straße 2, Eingang Landhausstraße).
Geplant sind eine Lesung und ein Gespräch mit dem Autor Mathias Bäumel und der Künstlerin Kerstin Franke-Gneuß.
Umrahmt wird die Veranstaltung von den Violinisten Steffen Gaitzsch und Adela Bratu, beide Dresdner Philharmonie, mit sechs Duos für Violine von Béla Bartók.
Der Eintritt ist frei. Es gelten die aktuellen Coronaregeln.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 18/2021 vom 16. November 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.