02.11.2021
Digitale Zwillinge schützen künftig Kunstwerke vor Klimaschäden
Projekt »VirtEx«: Sommerschule von TUD und HfBK Dresden zeigt an 500 Jahre altem Altar, wie moderne Schadensprophylaxe in Museen funktionieren kann
Heiko Weckbrodt
Dank moderner digitaler Technologien lassen sich klimatische Schäden an Kunstwerken in der Zukunft zuverlässiger und schonender als bisher prognostizieren und vermeiden. Wie das funktioniert, haben Dresdner Institute im Zuge des Forschungsprojekts »Virtuelle Experimente für Kunstobjekte« (VirtEx) während einer interdisziplinären Sommerschule in Freiberg demonstriert: Studierende vom Institut für Statik und Dynamik der Tragwerke (ISD) der TU Dresden und von der Hochschule für Bildende Künste Dresden (HfBK) konnten dabei 3-D-Scanverfahren an einer bemalten hölzernen Tafel des »Kirchbacher Altars« im Stadt- und Bergbau-museums Freiberg erproben, einen »Digitalen Zwilling« des über 500 Jahre alten Kunstwerks erstellen und damit virtuelle Experimente anstellen, die sich mit dem wertvollen Original verbieten würden.
Beispielsweise simulierten die angehenden Restauratoren und Ingenieure mit diesem Zwilling, wie stark Luftfeuchteschwankungen und andere Raumklimafaktoren den Altar in Zukunft beschädigen könnten. Daraus leiteten die Studierenden und die Forscher letztlich auch Empfehlungen ab, wie das Museum dieses besondere Kunstwerk in Zukunft vor weiteren Schäden schützen kann. Die fachliche Anleitung übernahmen ISD-Professor Michael Kaliske von der Fakultät Bauingenieurwesen, HfBK-Professor Christoph Herm, Dr. Melanie Elias vom Institut für Photogrammetrie und Fern-erkundung (IPF) der TUD sowie Daniel Konopka und Oliver Tietze vom ISD.
Um einen möglichst realitätsnahen Zwilling zu erzeugen, bietet sich beispielsweise die fotogrammetische Methode »Structure From Motion« (SFM) an: Dabei umrundet ein Experte oder eine Expertin das Kunstwerk und fotografiert es aus möglichst vielen Blickwinkeln. Eine Alternative ist die klassische Vermessung mit Maßband, Messschieber und ähnlichen Instrumenten. Eine Software erzeugt aus den Fotos oder Messwerten dann ein geometrisches 3-D-Modell im Computer. Konkret kam in der Sommerschule die »Finite Elemente Methode« (FEM) zum Einsatz, die auch die Autoindustrie gern für Unfallsimulationen verwendet. Dabei zerlegt der Computer das Objekt virtuell in eine endliche (finite) Anzahl sehr vieler kleiner Quader oder Polygone. Durch diese Unterteilung in Teilgebiete sind dann besonders realitätsnahe Deformationssimulationen möglich.
Da Holz allerdings ein sehr komplexes Material ist und ein Gemälde eben auch aus Farbschichten und weiteren Elementen besteht, genügt ein rein geometrisches Modell nicht, um künftige Klimaschäden am Altar vorauszusagen. Daher griffen die Studierenden auch auf Berichte von früheren Restaurationen in den Jahren 1993 bis 1995 zurück, außerdem auf Messdaten der verwendeten Holzarten, der Jahresringlagen und Feuchtigkeits-Diffusionsmodelle, um ihren Digitalen Zwilling aussagekräftiger zu machen. Dabei konnten sie am ISD entwickelte Simulationsmodelle sowie Messreihen vom Institut für Holztechnologie Dresden (IHD) nutzen.
Um einen Blick in die Zukunft zu werfen, fütterten die Studierenden ihre Simulation schließlich mit den typischen Jahresklimakurven des Freiberger Museums. Sie bauten aber auch Ereignisse ein, die Kunstwerke besonders belasten: versehentlich offen gelassene Fenster, Stromausfälle an der Klimaanlage, Hochwasser … »Wir konnten beispielsweise herausarbeiten, welche Klimaänderungen zu derart starken Verformungen führen, dass dadurch auch die Malschicht geschädigt werden kann«, berichtet Daniel Konopka. Da die Museumsleitung gerade ihre Dauerausstellung umbaut, könnten dann auch die Sommerschulbefunde helfen, die bestmöglichen Raumklimabedingungen für den Altar zu finden.
Dabei birgt die VirtEx-Technologie noch viel Potenzial: »Der Trend geht in Richtung eines Digitalen Zwillings, der mit dem Originalkunstwerk vernetzt ist«, wagt Daniel Konopka einen Ausblick. Wenn nämlich der virtuelle Zwilling jederzeit in Echtzeit über den Zustand des Originals im Bilde ist, könnte er automatisch Alarm schlagen, wenn das Raumklima zu kippen droht und das Kunstwerk Schaden nehmen könnte: »Dann könnte das System live eingreifen und beispielsweise die Klimaanlage neu regeln oder auch Besucherströme umleiten, bis sich das Raumklima wieder stabilisiert hat.«
Auch genauere Schadens- und Materialmodelle stehen noch auf der Forschungsagenda von »VirtEx«. Womöglich gehören »Digitale Zwillinge« künftig gar zum festen Kanon der Restaurierungsstudiengänge – ebenso wie die Kooperation mit den Ingenieurwissenschaften. Gerade in Dresden gibt es dazu beste Voraussetzungen: Interdisziplinäre Zusammenarbeit über Uni- und Institutsgrenzen hinweg sind hier usus. Auch ist in der Region mit dem IHD und weiteren Akteuren eine starke Expertise rund um das komplexe Material Holz konzentriert. Zudem gehört das ISD laut eigener Einschätzung weltweit zu den führenden Instituten bei der Entwicklung und dem Einsatz von FEM für die Simulation von Holzobjekten.
Diese überregionale Ausrichtung schlägt sich auch im VirtEx-Tagungsprogramm nieder: Für den 5. November 2021 erwartet das ISD zahlreiche Experten aus aller Welt zu dem internationalen Kolloquium »Virtual Experiments for Wooden Artwork – VirtEx« in Dresden.
Weitere Informationen zum Kolloquium und zum Projekt »VirtEx« unter: tud.link/nemm
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 17/2021 vom 2. November 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.