28.06.2022
Schwarz-weißer Größenwahn
Das Theater der TUD bittet zwei Schachgroßmeister auf der Bühne zum Duell. Wieviel Wahnsinn ist erlaubt?
Es ist 400 vor Christus. Irgendwo im heutigen Iran sitzen sich zwei Mitglieder des Königshofes gegenüber. Es sind wahrscheinlich Männer, und sie spielen einen Minikrieg mit Figuren auf 64 Feldern. Schnitt.
Zwei Jahrtausende später ist das gleiche Spiel mit Springern, Läufern und einem König so populär wie nie. Doch der Ruf von Schach war lange Zeit staubig. Schach als ein Ding für Außenseiter. Dieser Umstand verbindet die beiden vielleicht größten Schach-Erzählungen unserer Zeit: Elizabeth Harmon, die sich in der Netflix-Produktion »The Queens Gambit« an die Spitze der Welt spielt, wie besessen von Missgunst, Drogen und dem unbedingten Willen, es endlich allen zu beweisen. Die zweite ist »Die Schachnovelle«, das letzte Werk des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig, das er 1942 im brasilianischen Exil schrieb. Es geht um den amtierenden Schachweltmeister Mirko Czentovic, der als Waise aufwuchs und dessen außergewöhnliche Schach-Begabung eher zufällig entdeckt wurde. Beide Figuren werden von der vornehmen, schachspielenden Gesellschaft eher belächelt. Erst als sie reihenweise Könige mattsetzen, werden sie akzeptiert, doch nie ohne Missgunst. Wie können Menschen ohne intellektuelle Begabung den Sport der großen Denker scheinbar mühelos meistern?
Diese Fragen stellt sich auch DIE BÜHNE - Das Theater der TUD. Welche Voraussetzungen führen dazu, beim Schach zu gewinnen? Welche Gefahren drohen? Welche Rolle spielt dabei die Verarbeitung von Traumata? Das Theater arbeitet an einer Stückentwicklung zum Sport - und dem, was er uns über die Gesellschaft erzählen kann. Eliza-beth Harmon und Mirko Czentovic treten – eher unfreiwillig – gegeneinander an. Das Duell trägt den Titel »Schachvergiftung« – unter der Regie von Max Schumacher.
Vergiftung? Meine Herren bitte, es handelt sich doch nur um ein Spiel. Dem würde eine Figur aus der Schachnovelle erbittert widersprechen. Diese Figur heißt nur »Dr. B.« Er taucht wie aus dem Nichts auf und scheint ein begabter Spieler zu sein. Oder sogar mehr als ein begabter Spieler. Denn B. wurde zuvor von den Nationalsozialisten gefoltert, weil sie Informationen aus ihm herauspressen wollten. In Isolation spielte er, angeleitet von einem Schachbuch als einziger Funken Ablenkung, große Schachpartien nach – mit sich selbst. Er erschuf zwei unabhängige Charaktere, die gegeneinander Schach spielen konnten. Eine Persönlichkeitsspaltung in »Ich Schwarz« und »Ich Weiß«, die Dr. B. nur als »Schachvergiftung« bezeichnet.
Wieviel Wahnsinn ist möglich? Oder vielleicht sogar: Wieviel Wahnsinn braucht ein Sport, in dem die wahren Genies tausende von möglichen Zügen in Sekunden durchspielen. In beiden Werken sind die Figuren auch so stark, weil sie ein Trauma erfahren haben und weil sie auf der Flucht sind. Harmon vor der Männerwelt, Czentovic vor dem Faschismus. Doch: erstere ist in ihrer Erzählung die Heldin, letzterer eher eine düstere Karikatur auf die Nazis. Auf der Bühne werden die Geschichten deshalb aus ihren historischen Rahmen herausgetrennt. Die Charakterzüge werden gezeigt – doch nicht genannt – um beide Figuren auf Augenhöhe zu stellen.
Am Ende hat jeder Charakter seinen eigenen Wahnsinn. Dieser Wahnsinn ist nie gleich groß, gleich laut, gleich schmerzhaft. Doch er treibt die Figuren nach vorn. Wer die gerissenere Rochade zu vollführen vermag, wird sich zeigen. Am Ende zählt nur, welcher König zuerst fällt.
Maximilian Helm
Die erste Aufführung von »Schachvergiftung« erfolgt am 30. Juni. Weitere Informationen unter https://die-buehne.tu-dresden.de/spielplan/schachvergiftung/.
Diese Artikel sind im Dresdner Universitätsjournal 12/2022 vom 28. Juni 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.