Feb 01, 2022
Vielfalt des Alters vor Augen geführt
An einer Studie mit TUD-Mitwirkung beteiligten sich 2399 Dresdner im Alter von mehr als 60 Jahren
Dagmar Möbius
Jeder vierte Einwohner der Landeshauptstadt ist älter als 60 Jahre. »Wir haben uns schon lange gefragt: Kennen wir die Menschen und ihre Bedarfe? «, führte Bürgermeisterin Dr. Kristin Klaudia Kaufmann in die Ergebnispräsentation ein, die Mitte Januar 2022 im Dekanatssaal der Medizinischen Fakultät der Öffentlichkeit vorgestellt und live online übertragen wurde.
Die Studie »Individuelle Lebens-, Gesundheits- und Pflegesituation von Dresdnerinnen und Dresdnern ab 60 Jahren (LAB60+ Studie)« wurde vom Geschäftsbereich Arbeit, Soziales, Gesundheit und Wohnen der Landeshauptstadt Dresden gemeinsam mit dem Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin (IPAS) der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus, den Professuren für Arbeits- und Organisationspsychologie der Fakultät Psychologie sowie für Sozial- und Gesundheitsbauten der Fakultät Architektur durchgeführt. Die Professuren kooperieren im 2016 gegründeten Centrum für Demografie und Diversität (CDD) der TU Dresden.
Die Resonanz der zufällig ausgewählten und angeschriebenen über 60-jahrigen Dresdnerinnen und Dresdner auf die Befragung überraschte das Forscherteam angesichts von mehr als 90 zu beantwortenden Fragen auf 24 Seiten positiv. »Wir hatten mit einer Rucklaufquote von 30 Prozent gerechnet, bei den über 80-Jährigen mit 20 Prozent«, sagte Studienleiter Prof. Andreas Seidler, Direktor des Instituts und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin (IPAS). Von 6404 im eigenen Haushalt oder in betreuten Wohneinrichtungen lebenden Personen zwischen 60 und 100 Jahren nahmen 2399 an der im ersten Halbjahr 2021 durchgeführten repräsentativen Befragung teil. Das entspricht einer Rücklaufquote von 40 Prozent. Das Durchschnittsalter lag bei 75 Jahren. Mit 52 Prozent beteiligten sich etwas mehr Frauen als Männer. Rund die Hälfte der Befragten hatte Abitur, rund 43 Prozent einen mittleren Schulabschluss. 43,6 Prozent – und damit ein überdurchschnittlicher Anteil der Befragten – besaßen einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss. Mit knapp 55 Prozent lebten im Stadtbezirk Neustadt die meisten Personen mit Hochschul- und Fachhochschulabschlüssen.
85 Prozent der Teilnehmer befanden sich im Ruhestand. Das von den Teilnehmern angegebene gewichtete Nettoeinkommen lag bei 1687 Euro monatlich bei Frauen, 1742 Euro bei Männern. Zwölf Prozent der Befragten gaben ein Monatseinkommen von unter 1080 Euro an. Die meisten der armutsgefährdeten Senioren leben in den Stadtteilen Cotta und Leuben, die wenigsten in Klotzsche und Plauen.
Bei über 65-Jährigen steigt Depressionsneigung
91 Prozent der Befragten gaben mindestens eine chronische Erkrankung an. Bei 54 Prozent waren das Bluthochdruck, bei 32 Prozent chronische Schmerzen und bei 31 Prozent Arthrose. Während Männer häufiger über Diabetes, koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt oder Schlaganfall berichteten, gaben Frauen öfter Depressionen an. Mehr als 42 Prozent waren übergewichtig, 20 Prozent adipös, wobei sich mehr als ein Drittel infolge der Coronapandemie weniger bewegte als gewöhnlich. Bei durchschnittlich jeder dritten befragten Person, häufiger bei Frauen als bei Männern sowie in der unteren sozialen Schicht, gab es Hinweise auf eine erhöhte Depressivität. In Dresden-Altstadt lag der Anteil mit erhöhter Depressivität bei 42,3 Prozent, in Klotzsche bei 26,5 Prozent. »Ab 65 Jahren steigt der Anteil kontinuierlich «, betonte Prof. Seidler.
Wer sich mehreren sozialen Gruppen zugehörig fühlt, gab eine bessere Gesundheit und ein höheres Wohlbefinden an. Rund drei Viertel der Befragten sahen sich als Teil ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. »Die soziale Unterstützung funktioniert«, fasste Prof. Jürgen Wegge von der Professur für Arbeits- und Organisationspsychologie, zusammen. Und: »Erstmals konnten wir messen, wie sich Personen mit der Stadt identifizieren: Mehr als 80 Prozent empfanden es als wichtigen Teil ihres Selbstbildes, eine Bürgerin oder ein Bürger der Stadt Dresden zu sein.« 35 Prozent fühlten sich jedoch in unterschiedlicher Ausprägung einsam. Zehn Prozent der Teilnehmer, die meisten in Leuben und Altstadt, die wenigsten in Neustadt, gaben starke Einsamkeitsgefühle an. »Die Einsamkeitsrate musste man weiter analysieren«, so Prof. Wegge. Rund sieben Prozent der Befragten, Frauen häufiger als Männer, berichteten über Erfahrungen mit Altersdiskriminierung in den letzten zwölf Monaten, vor allem im Bereich der medizinischen Versorgung, bei der Arbeitssuche und im Alltag. Hier spielte unter anderem die Vergabe von Impfterminen gegen COVID-19 eine Rolle.
»Das Wohnen ist für viele Ältere ein zentrales Thema und die Coronapandemie hat die Bedeutung der Wohnung betont«, sagte Prof. Gesine Marquardt von der Professur für Sozial- und Gesundheitsbauten der TU Dresden. 94 Prozent der Teilnehmer lebte in Wohnungen oder Häusern mit erheblichen baulichen und räumlichen Barrieren. Beispielsweise können nur etwa 18 Prozent ihre Wohnräume stufenlos erreichen und nur 40 Prozent konnten ihr Badezimmer mit Mobilitätshilfen nutzen. Jeder Zehnte wurde deshalb gern umziehen, obwohl die meisten Befragten sich sehr mit ihrem Wohngebiet verbunden fühlen. »Wir müssen besser bekanntmachen, wie man mit Barrieren umgehen kann«, schlussfolgert Prof. Marquardt. Auch zu bedenken: Uber 60-Jährige wünschen sich mehr stolperfreie und ausreichend beleuchtete Fußwege, abgesenkte Bordsteine und öffentliche Toiletten.
Pflegebedarf versus Personalmangel
Im Rahmen von LAB60+ wurden zusätzlich ambulante Pflegedienste, Einrichtungen der teil- und vollstationären Pflege und Kurzzeitpflege sowie Pflegefachpersonen befragt. Diese deckten 65 Prozent der Plätze in der vollstationären Pflege (Dresden gesamt 6653 Plätze), 85 Prozent der Plätze in der Kurzzeitpflege (Dresden gesamt 164 Plätze) und 45 Prozent der Plätze in der Tagespflege (Dresden gesamt 641 Plätze) ab.
Ambulant und teilstationär Pflegebedürftige können danach zeitnah versorgt werden. Vollstationäre Einrichtungen sind dagegen mit durchschnittlich 98 Prozent hoch ausgelastet und können Aufnahmeanfragen nicht sofort realisieren. In der Kurzzeitpflege offenbarte sich eine Diskrepanz: Während Einrichtungen nur zu 64 Prozent ausgelastet seien, berichteten Pflegebedürftige, schwer einen Platz zu finden. Dies wird mit jahreszeitlichen Schwankungen, nicht oder schlecht geplanten Klinikentlassungen und wirtschaftlichen Aspekten begründet. Versorgungskonzepte für Pflegebedürftige mit Suchterkrankungen fehlen. Dennoch planen die meisten Träger keinen Ausbau von Platzkapazitäten oder Pflegeangeboten. Als Hauptgrund wird der bereits bestehende und sich prognostisch noch verschärfende Fachkräftemangel angegeben.
Das Forscherteam kristallisierte Handlungsfelder mit Verbesserungsbedarf heraus und formulierte Empfehlungen. »Wir orientierten uns dabei an den WHO-Kernpunkten für ›Altersfreundliche Städte‹«, erläuterte Projektkoordinatorin Dr. Karla Romero Starke vom Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin. Diese betreffen die Bereiche Wohnraum und Wohnumfeld, Mobilität und Verkehrsmittel, Respekt und soziale Teilhabe, ehrenamtliche Tätigkeit, Kommunikation und Information, Gesundheit sowie Unterstützung durch die Gemeinschaft und Gesundheitsversorgung. So sollen beispielsweise soziale Kontakte durch Seniorenbegegnungsstatten gefördert werden, altersgerechte Sport- und Kulturangebote gemacht und Unterstützung beim Übergang in den Ruhestand gegeben werden. Zudem müsse die Digitalisierung für alte und ältere Menschen Priorität bekommen.
Die Stadt Dresden wird die Ergebnisse mit allen beteiligten Ämtern, Gremien und Institutionen auswerten und konkrete Maßnahmen ableiten. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit, um besser über Begegnungs- und Beratungsangebote, Ehrenamt, Vorsorge und Angebote der Pflege zu informieren.
Zukünftig soll regelmäßig eine Dresdner Seniorenbefragung stattfinden. Damit stimmt die Stadt Dresden dem Wunsch des Forscherteams nach zukünftigen Studien zu, in denen die Situation »nach Corona« und der Erfolg ergriffener Maßnahmen beurteilt werden soll. Die aktuelle LAB60+ Studie dient dafür als wertvolle Längsschnittstudie. Zudem plant die Stadt Dresden eine Seniorinnen- und Seniorenkonferenz.
Weitere Informationen unter: tu-dresden.de/cdd/forschung/lab60
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 2/2022 vom 1. Februar 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.