14.12.2021
Von der Idee zur (virtuellen) Realität
Forschungshub »DigitalHerrnhut«: Wieviel von den Ideen der Brüdergemeine nahe Bautzen steckt in unserem Blick auf die Welt?
Anne Vetter
Die Eingangstür aus Holz ist in die Jahre gekommen, an den abgelaufenen Fußbodenfliesen lassen sich die Wege der früheren Bewohnerinnen verfolgen. Hier trifft man zum Beispiel auf die 1770 geborene Maria Magdalena Hastings und die 1823 geborene Hermine Römer, die von ihrem Leben in Kleinwelka erzählen. Vielfach begangene Treppen führen in die nächsten Etagen, während es geradeaus in einen kleinen Garten geht, in dem ein Apfelbaum schwer an seinen Früchten trägt.
Ein Jahr ist vergangen, seitdem der Dresdner Linguistikprofessor Alexander Lasch öffentlich die Idee formuliert hat, den großen Wissenschaftsschatz der Herrnhuter Brüdergemeine über die neue Welt gemeinsam mit der Herrnhuter Brüderunität, der TU Dresden und der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) zu heben und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. An einem sonnigen Tag im letzten Sommer machte er sich gemeinsam mit der Gartenhistorikerin Nora Kindermann auf den Weg ins nahe Bautzen gelegene Kleinwelka und fotografierte das noch nicht sanierte Herrnhutische Schwesternhaus von innen und außen – als Grundlage und Prototyp für eine virtuelle Abbildung der historischen Herrnhuter Gemeinschaft und ihres Wirkens in der gesamten Welt.
Für dieses Projekt hat der Professor der TU Dresden zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen den Forschungshub »DigitalHerrnhut« gegründet. In diesem Verbund wird aus verschiedenen Perspektiven zur weltweiten Missionarstätigkeit der Herrnhuter Brüdergemeine und vor allen Dingen ihrem Einfluss auf die europäische Weltsicht/ das kulturelle Gedächtnis geforscht – immer in engem Austausch mit der Glaubensgemeinschaft.
Damit diese Forschung nicht nur theoretisch bleibt, sondern fassbar wird, lässt Alexander Lasch mit Kolleginnen und Kollegen aus Dresden und den USA, Studierenden, dem Unitätsarchiv Herrnhut und dem Schwesternhaus Kleinwelka ein kleines Stück Brüdergemeine am Beispiel des Lausitzer Ortes Kleinwelka digital wieder auferstehen. In Sachsen kennen zwar fast alle den dort gelegenen Saurierpark. Doch kaum jemand weiß, dass hier einmal der zentrale Ort für die Erziehung und Ausbildung der Herrnhuter Missionarskinder gewesen war.
»Kleinwelka ist als Prototyp ideal für diese Arbeit geeignet«, schwärmt Alexander Lasch vom »kleinen Herrnhut«. In der Brüdergemeine wurde gemeinschaftlich gelebt und gearbeitet. So entstanden in dem Lausitzer Ort unter anderem ein Schwestern-, ein Brüder- und ein Witwenhaus sowie 1778 die Knabenund Mädchenanstalt. »Der Ideenlehre folgend, dass die Kindererziehung vorrangig durch die Gemeinschaft geleistet werden sollte, schickten die Missionare ihre Kinder aus aller Welt im Alter von etwa fünf bis acht Jahren nach Kleinwelka «, erläutert der Professor. Auch für die Gläubigen kein einfacher Schritt, der nur dadurch erleichtert wurde, dass die Kinder häufig ihren Großeltern, ehemalige Missionare, in Kleinwelka begegneten.
Mithilfe der virtuellen Exkursion wird diese steinerne Gemeinschaftsidee nun Stück für Stück zu neuem Leben erweckt. Und das auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Da die Herrnhuter Missionare bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ihre weltweit in deutscher Sprache verfassten Dokumente über ihre Arbeit, ihr Leben, Beobachtungen und Forschungen nach Herrnhut schickten, gibt es einen schier unerschöpflichen Fundus schriftlicher Quellen. Diese können – aufgearbeitet – in Textform oder als Podcasts in der virtuellen Exkursion platziert werden. Genauso lassen sich Videos in die Führung integrieren.
»Weil alles virtuell verankert ist, lässt sich diese Ausstellung permanent erweitern «, freut sich Alexander Lasch. »Das erleichtert die internationale Zusammenarbeit genauso wie die interdisziplinäre. Nicht zuletzt ist es eine tolle Gelegenheit für die Studierenden, sich dem Thema über die Mitarbeit an diesem Modell anzunähern. Das macht es für die vielfach säkular erzogenen jungen Menschen deutlich leichter, sich den religiösen Überzeugungen der Herrnhuter anzunähern und sie zu verstehen.«
Zwei 2021 bewilligte Förderanträge greifen hier geradezu idealtypisch ineinander beziehungsweise bauen aufeinander auf. Zum einen das von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre unter dem Titel »virTUos« (Virtuelles Lehren und Lernen an der TU Dresden im Open-Source-Kontext) geförderte Projekt »DigitalHerrnhut«, mit dem sowohl virtuelle als auch hybride Lehr- und Veranstaltungsformate entwickelt werden sollen. Zum anderen das vom DAAD unterstützte Projekt »CLiC« (Conceptualizing Languages in Colonization), das die Digitalisierung von alten Schriftstücken voranbringen soll. Beide Projekte sind international angelegt. Wichtigster Partner ist die Bucknell University in Pennsylvania. Nach dem Archiv in Herrnhut liegen in Pennsylvania, im Moravian Archive in Bethlehem, die meisten Dokumente der Missionare – oftmals in deutscher Sprache, die in Pennsylvania nur wenige beherrschen.
»Wir brauchen die Kooperation mit Pennsylvania, um diesen riesigen Schatz zu heben, zu digitalisieren und verfügbar zu machen«, erklärt Lasch. Studierende der TU Dresden und der Bucknell University sollen mit Unterstützung der SLUB die historischen Quellen mit zentraler Bedeutung für die europäische Geistes- und Kulturgeschichte erschließen. Im Zentrum steht der Missionar und Sprachforscher David Zeisberger (1721–1808), der in seinen deutsch- und englischsprachigen Texten über die Sprachen der Native Americans im heutigen Pennsylvania schreibt.
»Zeisberger war einer der wichtigsten Missionare an der amerikanischen Ostküste. Auf seine Forschungen zur indigenen Sprache hat sogar Wilhelm von Humboldt zurückgegriffen«, führt Lasch aus. »Wenn es gelingt, seine und die Schriften anderer wichtiger Missionare zu digitalisieren, können wir einen riesigen Wissensschatz lesbar machen, von dem auch andere Disziplinen profitieren.«
Denn Interdisziplinarität ist eine weitere Dimension dieses Forschungshubs. Im Kleinen wird auch dieser Ansatz schon in Kleinwelka und vielleicht auch bald an anderen Gemeineorten in Ostsachsen mit der Zustimmung der Brüderunität erprobt. Die Missionare brachten von ihren Weltreisen nicht nur Texte, sondern auch zahlreiche Pflanzen mit. In der virtuellen Exkursion sollen auch sie ihren Platz finden. In Sommer- Workshops, unter anderem mit dem TUD-Botaniker Prof. Christoph Neinhuis, wurden die gefundenen Pflanzen in einem »Herrnhuter Herbarium« für Ausbildungszwecke zusammengestellt – schon jetzt sind sie auf »sachsen.digital« verfügbar.
Die Forschungsideen für Digital Herrnhut von Alexander Lasch sind mindestens ebenso unerschöpflich wie die Quellen der Missionare. Sein Elan auch. Das nächste große Ziel des Linguistikprofessors ist eine Reise nach Pennsylvania – den Ort, wo die Dokumente David Zeisbergers liegen. Trotz aller Möglichkeiten der virtuellen Realität ist diese persönliche Begegnung mit den Schriften großer Missionare und die Virtualisierung zentraler Orte an der Ostküste der heutigen Vereinigten Staaten sein großer Traum.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 20/2021 vom 14. Dezember 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.